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Bürgerfonds – ein Instrument zur Vermögensumverteilung und Alterssicherung

Das Vermögen in Deutschland ist extrem ungleich verteilt, auch im internationalen Vergleich. Vernachlässigt man die Ansprüche an die Rentenversicherung, so verfügen die unteren 40% der Haushalte über Null (!) Vermögen, während die oberen 10% der Haushalte über 60% des Vermögens verfügen (Bundesbank 2019). Selbst innerhalb dieser oberen 10% gibt es wiederum eine starke Ungleichverteilung. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland ist zwar ebenfalls Gegenstand einer Gerechtigkeitsdiskussion, aber erstens ist sie weitaus weniger stark ausgeprägt als die Vermögensungleichheit, zweitens liegt Deutschland hier eher im Mittelfeld, und drittens kann hier das Steuer-Transfer-System zu einem stärkeren Ausgleich beitragen (sekundäre Einkommensverteilung). Allerdings muss man konstatieren, dass trotz eines im Ländervergleich sehr stark ausgebauten Umverteilungsapparates der Effekt auf die Einkommensungleichheit vergleichsweise moderat ist. Das kann u.a. daran liegen, dass bereits die Primärverteilung der Einkommen ungleicher wird.

Bei den Vermögen hingegen gibt es keinen wirksamen Umverteilungsmechanismus. Im Gegenteil: Es gibt eine Tendenz zur stärkeren Konzentration, beispielsweise durch Vererbung (DIW 2019). Das Erbschaftssteuersystem ist löchrig und von vielen Ausnahmen geprägt; eine Vermögenssteuer gibt es derzeit nicht. Ihre Wiedereinführung wird zwar diskutiert, von vielen Ökonomen aber skeptisch gesehen. Die Möglichkeit ihrer verfassungskonforme Umsetzung ist Gegenstand eines jahrzehntelangen Streits. Maßnahmen zur Förderung der Vermögensbildung wie etwa Baukindergeld oder Riester-Rente sind angesichts der Dimensionen der Ungleichheit minimalistisch und teils dysfunktional (z.B. Mitnahmeeffekte beim Baukindergeld; Unrentabilität bei der Riesterrente). Weitere Vorschläge wie das Fördern des Aktienbesitzes werden wohl kaum die unteren 40% erreichen und möglicherweise diejenigen besserstellen, die ohnehin Aktien haben und weiter erwerben. Kaum ein Geringverdiener-Haushalt wird sehnlich auf die Steuererleichterung warten, damit er sich endlich einen ETF von Blackrock kaufen kann.

Ein Bürgerfonds, wie es ihn in anderen Ländern wie z.B. Norwegen schon lange gibt, ist ein derzeit auch im akademischen Bereich durchaus oft wohlwollend diskutierter Ansatz (etwa Fuest et al 2019). Aktuell wirbt Robert Habeck für ein solches Modell. Allgemein geht um einen Fonds, der systematisch in ein Vermögensportfolio investiert, an das alle Bürger einen Anspruch haben. Dieser Anspruch kann zum Beispiel darin bestehen, dass der im Laufe des Lebens akkumulierte Fondsanteil eines einzelnen Bürgers beim Eintritt in das Rentenalter als Rente ausbezahlt wird. Denkbar ist aber auch, dass das Vermögen im Fonds verbleibt und der Bürger ab dem 18. Lebensjahr die Rendite als Kapitaleinkommen ausbezahlt wird. Gerade angesichts der Perspektive, dass durch die Digitalisierung und Roboterisierung die Arbeit zwar nicht ausgehen, das Arbeitseinkommen aber möglicherweise an Bedeutung abnehmen wird, ist eine Partizipation am wachsenden Wohlstand, der zu einem erheblichen Teil von Maschinen erzeugt wird, dadurch möglich, dass ein Teil des Kapitalstocks diesem Fonds, also allen Bürgern gehört, die entsprechende Ansprüche daran haben. Auch andere Möglichkeiten sind denkbar, etwa, dass Bürger auf eine regelmäßige Auszahlung der Rendite verzichten, d.h. diese ansparen, und sich später in Form eines Zuschusses für ein Sabbatical oder längere Fortbildung auszahlen lassen (Corneo 2014).

Eine strittige Frage ist, wie ein solcher Fonds finanziert werden kann. Im Fall von Norwegen geschieht dies durch die hohen staatlichen Öleinnahmen, über die Deutschland jedoch nicht verfügt. Manche Ökonomen befürworten, dass eine Anschubfinanzierung durchaus durch Schuldtitel finanziert werden könne, da der deutsche Staat derzeit Null Zinsen zahlen muss (oder sehr geringe Zinsen bei sehr lang laufenden Anleihen). Bei Fälligkeit der Anleihen müssten diese dann aber entweder prolongiert werden zu einem dann aber möglicherweise höheren Zinssatz, oder ein größerer Teil des Fond-Vermögebrutto medianeinkommenns muss wieder veräußert werden. Deshalb ist eine dauerhafte Schuldenfinanzierung wohl nicht ratsam.

Eine weitere Quelle können freiwillige Zahlungen der Bürger sein, die ihr Erspartes dem Fonds anvertrauen möchten, um etwas für ihre Altersvorsorge zu tun. Dies könnte – wie bei der im Gegenzug abzuschaffenden Riesterrente – staatlich gefördert werden. Allerdings ist zu bedenken, dass dann hier ein staatliche geförderter und gemanagter Fonds als direkter Konkurrent zu privaten Vorsorgefonds auftritt, was wettbewerbsrechtlich problematisch ist.

In diesem Beitrag wird nun der Vorschlag gemacht, dass sich der Fonds aus den jährlichen Erbschaftssteuern speisen sollte. Dies setzt eine Erbschaftssteuerreform voraus, die keine Ausnahmen kennt, eine sehr breite Bemessungsgrundlage hat, aber auch deutliche Freibeträge vorsieht, damit kleinere Vermögen („Omas Häuschen“) nicht belastet werden. Bei 200 – 400 Mrd. Euro Erbschaften pro Jahr könnten so ein zweistelliger Milliardenbetrag jährlicher Steuereinnahmen zusammenkommen, die dem Bürgerfonds zugeführt werden. Man sollte dies nicht als sozialpolitische Wohltat des Staates auffassen, der den Bürgern einen Teil „seiner“ Steuereinnahmen „schenkt“. Es sollte vielmehr als Automatismus angesehen werden, bei dem bei jedem Erbfall das Vermögen der Bürger ohne Umwege in Bürgerhand bleibt, jedoch breiter verteilt wird.

Im Fall von vererbtem Betriebsvermögen besteht bislang das Problem, dass die Erben ein illiquides Vermögen, etwa den Familienbetrieb, erben, aber nicht genügend Mittel haben um die Erbschaftssteuer zu begleichen. Eine Veräußerung des Betriebs nur zu dem Zweck, die Steuerschulden zu bezahlen, ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Eigentumsrecht. Daher gibt es hier zahlreiche Ausnahmen. Bei einem Bürgerfonds ergäbe sich eine einfache elegante Lösung: Das Betriebsvermögen geht zu x% (Erbschaftssteuersatz) an den Fonds als Eigentümer (aber mit den Rechten eines Gläubigers) über. Dieser hat dann Anspruch auf x% der erwirtschafteten Erträge. Allerdings hat der Erbe das Recht, durch sukzessives Begleichen der Steuerschuld in frei gewählten Raten das Eigentum zurückzuerwerben. Das erlaubt maximale Gestaltungsspielräume und beeinträchtigt den Betrieb nicht. Die Details einer solchen Regelungen sind noch zu klären.

Perspektivisch kann man bei der etwaigen (Wieder-) Einführung einer Vermögenssteuer genauso verfahren: Es ist das Vermögen der Bürger und es bleibt das Vermögen der (aller) Bürger. Bei Betriebsvermögen, Immobilien und anderen schwer liquidierbaren Vermögensgegenständen kann analog verfahren werden wie bei der Erbschaftssteuer: ein bestimmter Prozentsatz (z.B. 1%) der Vermögenswerte (nach Abzug von Freibeträgen) geht in den Fonds über anstelle der Zahlung der Steuer.

Der Bürgerfonds geht das Problem der Vermögensungleichheit nicht nur von einer Seite an – der mit Ausnahmen durchlöcherten – Besteuerung der Vermögenden und Erben, sondern vor allem auch von der anderen Seite, dem Vermögensaufbau vor allem der unteren Hälfte der Gesellschaft, und zwar automatisch ohne Blick auf die Kassenlage des Staates und dessen momentaner politischer Agenda.

Auf welche Weise auch immer das Bürgerfondsvermögen oder dessen Erträge ausbezahlt werden, es verändert die primäre Einkommensverteilung. Das könnte sich langfristig als mindestens ebenso wichtiger Hebel herausstellen wie das (ebenfalls stark reformbedürftige) Steuer-Transfer-System, welches eine egalitärere sekundäre Einkommensverteilung um Ziel hat. Der spezielle Charme des Bürger-Fonds ist, dass er als Automatismus ohne diskretionären Eingriff des an der Tagespolitik ausgerichteten Staates fungiert. Er ist somit ein ordnungsökonomisch perfekt zur Sozialen Marktwirtschaft passendes Instrument. Man könnte aber auch formulieren: eine milde und liberale Form der „Vergesellschaftung“ von Vermögen.

Ein gängiger, jedoch schwacher Einwand ist, dass hier letztlich der Staat, genauer: ein vom Staat unabhängiges Management des Bürgerfonds über das Portfolio entscheidet, und nicht der mündige Bürger selbst. In den allermeisten Fällen ist es wohl kaum der Wunsch der Bürger, sich um einzelne Aktien, Schuldverschreibungen oder ETFs kümmern zu wollen. Jedoch kann der Fonds auch so organisiert werden, dass Bürger ab 18 Jahren über eine Auswahl von Anlagetypen für „ihren“ Fondsanteil entscheiden können. Man sollte sich aber auch vor Augen halten, dass z.B. bei der gesetzlichen Krankenversicherung ebenfalls der Staat über das Paket der gesetzlichen Leistungen bestimmt und nicht der mündige Bürger einen individuellen Krankenversicherungs-Kontrakt abschließt.

Zur institutionellen Ausgestaltung: Es ist das Vermögen der Bürger, das den Fonds speist, und das Vermögen der Bürger, welches dort angelegt wird. Das Management sollte an generelle Regen gebunden sein, etwa keine hochriskanten spekulativen Investments zu tätigen; moderate Risiken sollten aber möglich sein, also vor allem Aktienanlagen oder ETFs. Auch kann man ethische Standards definieren oder das Verbot von Investitionen in fossile Energien (dazu später mehr). Der Bürgerfonds sollte dann aber im Rahmen der gegebenen allgemeinen Spielregeln in der Gestaltung seiner Strategie frei sein, d.h. unabhängig vom Staat, ähnlich wie bei der Zentralbank. Der Gedanke dabei ist, dass es sonst sein könnte, dass der Staat den Fonds dazu drängt, möglichst in staatliche Anleihen zu investieren, also indirekt das Staatsbudget zu finanzieren. Oder der Staat weist den Fonds an, in die momentanen Lieblingsprojekte der Regierung zu investieren, also eine politische Agenda zu verfolgen. Das ist in der Regel nicht das, was die Bürger wollen, die an ihre Altersvorsorge denken. Solche Einmischungen sollten selbstbewusst zurückgewiesen werden können mit dem Hinweis darauf, dass der Prinzipal der Bürger ist, nicht die Regierung, und das Fondsmanagement der Agent, der dem Prinzipalen verpflichtet ist, nicht dem Fiskus.

In der langen Frist ist es denkbar, dass der Fonds ähnliche Größenordnungen annehmen kann wie z.B. der norwegische Staatsfond. Damit ist eine Macht verbunden, über deren Ausübung die oben erwähnten allgemeinen Spielregeln einen Rahmen setzen. Es ist vorstellbar, die Spielregeln so zu gestalten, dass der Fonds auch im Sinne genereller Politikziele, etwa der Dekarbonisierung der Produktion, der Einhaltung von Menschenrecht-Standards in der Zulieferkette und dergleichen, Einfluss auf die Unternehmen ausüben kann und soll, deren Miteigentümer er ist. Dies kann sowohl bei Aktionärsversammlungen geschehen, aber auch schon durch die Drohung, Investments abzuziehen, wenn z.B. weiterhin auf Kohleabbau gesetzt wird. Das setzt allerdings voraus, dass die allgemeinen Spielregeln es erlauben, auch in solche „unliebsamen Geschäftsfelder“ zu investieren. Man kann einen Ölkonzern schwer dazu drängen, sich massiv in den Bereich regenerativer Energien zu diversifizieren, wenn die Investitionsrichtlinien die Beteiligung an einem solchen Konzern untersagt. Man mag das als Politisierung der Kapitalmärkte kritisieren. Zahlreiche Großunternehmen, Verbände und private Fonds tun aber bereits genau das oder mahnen die Notwendigkeit eines sehr viel stärkeren committments gegenüber sozialen und ökologischen Zielen und veränderter Governance-Strukturen an. Und schließlich ist der Begriff der „Politisierung“ im Kern auch nicht korrekt, geht es doch letztlich um die Durchsetzung der Präferenzen von Eigentümern am Markt. Der Eigentümer, also der Fonds, ist via demokratische Abstimmung über die institutionelle Ausgestaltung, also auch der Investitions-Spielregeln, dazu legitimiert. Er soll letztlich die gemeinschaftlichen Interessen der Bürger durchsetzen helfen.

Zusammengefasst: In dem Beitrag wird vorgeschlagen, das Instrument des Bürgerfonds mit dem Instrument der Erbschaftssteuer (perspektivisch: ggf. auch Vermögenssteuer) zu verknüpfen und ihn von der Regierung unabhängig zu machen. Somit erhielte der Fonds die zentrale Aufgabe einer automatischen, nicht vom politischen Tagesgeschäft oder Kassenlage abhängigen Vermögensumverteilung und der Beteiligung aller Bevölkerungsschichten an Vermögen und Kapitalansprüchen. Auch wenn die Ausgestaltung im Detail knifflig sein kann, so ist die Kernidee simpel und effektiv.

Target2 und Euroaustritt – ein „Pulverfass“?

Target2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Buchungsvorgänge, und auch nur deshalb, weil trotz der Währungsunion weiterhin nationale Zentralbanken existieren statt nur die EZB. Bei einem grenzüberschreitenden Transfer zwischen Geschäftsbanken, welcher über die jeweiligen nationalen Zentralbanken abgewickelt wird, fließen sowohl Depositen (Passivseite) als auch Reserven (Aktivseite) von der italienischen Bank A zur deutschen Bank B (vermittelt über die jeweiligen nationalen Zentralbanken). Dadurch entsteht aber eine Differenz zwischen Aktiv- und Passivseite der jeweiligen Zentralbankbilanz – die Banca d’Italia hat also dieselben Assets wie zuvor, jedoch weniger Reserven, folglich einen Saldo auf der Passivseite. Entsprechend umgekehrt ist es bei der Deutschen Bundesbank. Gäbe es lediglich die EZB, wäre dieses ganze Problem völlig unbekannt, kein Ökonom würde Alarm schlagen, keine Zeitung darüber schreiben. Normalerweise stehen bei einer nationalen Zentralbank den Reserven (plus Bargeld) entsprechende Vermögensgegenstände gegenüber, also vor allem Wertpapiere oder Forderungen gegenüber nationalen Geschäftsbanken. Durch den Zufluss von Reserven an deutsche Geschäftsbanken, die die Deutsche Bundesbank gar nicht geschaffen hat, sondern die durch Überweisung nach Deutschland gekommen sind, entsteht eine T2- “Forderung” der Bundesbank auf der Aktivseite, die man als Forderung gegenüber der EZB betrachtet. Umgekehrt ist es bei der Banca d’Italia, die eine T2- “Verbindlichkeit” gegenüber der EZB hat. Zunächst einmal kommt die Sprechweise von “Forderung” und “Verbindlichkeit” durch die übliche Interpretation der Aktiv- und Passivseite einer Bilanz zustande. Faktisch hat sich die Banca d’Italia aber gar keine Mittel von der Bundesbank “geliehen”, schon gar nicht hat “Deutschland” Geld an “Italien” verliehen, welches dieses Geld irgendwie verjubelt hat (auch wenn das gescheit klingt wie „… zur Finanzierung des Zahlungsbilanzdefizits“). Die Interpretation der T2-Salden als „Kredit“ ist also zu recht sehr umstritten. Ich lehne sie ab.

Die Sorge ist nun, dass im Fall des Austritts eines T2- “Schuldner”-Landes aus der EWU man diese Salden ähnlich wie einen faulen Kredit  „abschreiben“ muss, da es sich nicht um eine werthaltige Forderung handelt. Schließlich wird das Land ja aufgrund großer finanzieller Probleme ausgetreten sein und daher weder in der Lage noch willens sein, einen Saldo zu begleichen. Müsste die Bundesbank eine riesige T2- “Forderung” abschreiben, so wäre ihr Eigenkapital mehr als aufgebraucht, es würde negativ werden. Das wäre an sich nicht unbedingt ein Problem (im Unterschied zu einer Geschäftsbank, die dann insolvent wäre), aber man würde dies vermeiden wollen, indem man den T2-Saldo als reinen Buchungsposten einfach stehen ließe. Im Fall, dass die „Billionen-Forderung“ abgeschrieben würde, müsste gegebenenfalls die Bundesbank durch den – Gott bewahre! – deutschen Steuerzahler rekapitalisiert werden. Das ist das Schreckensszenario, das kürzlich wieder durch die Tageszeitungen ging (wie immer mit der löblichen Ausnahme der sehr sorgfältigen Kolumnen von Gerald Braunberger in der FAZ).

Klar ist, dass die Banca d’Itlaia Teil des ESZB ist und die Wertpapiere auf ihrer Aktivseite dem ESZB gehören. Steht als Gegenbuchung nun ein T2-Saldo in ihrer Bilanz, so entsteht dann – und nur dann und in diesem Moment – eine Forderung des ESZB auf Rückübereignung der Wertpapiere in Höhe des T2-Saldos, als Folge des Austritts aus dem ESZB. Es kann ja nicht sein, dass die Banca d’Italia nach einer Währungsreform ihre Reserven in Lira umwandelt und die Wertpapiere, denen ja Euro-Forderungen der Banken gegenüberstehen, einfach als Anfangskapitalausstattung behält. Es ist aber davon auszugehen, dass in der Banca d’Italia vernünftige Leute mit Expertise sitzen, die genau wissen, dass man auch nach Austritt Italiens aus dem Euro den Zahlungsverkehr mit der Eurozone aufrechterhalten muss. Dies würde durch das eben skizzierte Vorgehen, welches spiegelbildlich die „Abschreibung einer Billionenforderung“ auf der Bundesbankbilanz zur Folge hätte, stark gefährdet und würde Italien wirtschaftliche vom Euroraum abschneiden.  Interessanterweise sind es ja oft dieselben Ökonomen, die vor einer T2-Katastrophe warnen, die sich auch für einen Austritt der Südländer aus dem Euro stark machen mit dem Hinweis, dass es dann für diese – per Abwertung und dadurch Stärkung des Exportes – so viel leichter wäre. Das setzt aber voraus, dass der Zahlungsverkehr mit der Eurozone reibungslos funktioniert. Das auch jüngst in der FAZ vom Sinn angeführte Erpressungspotenzial der T2-Salden (Motto: „Schuldenschnitt bzw. Transferunion oder wir lassen Eure T2-Forderung platzen!“) relativiert sich somit, da zur Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs eine einvernehmliche  Lösung gefunden werden muss:

Wie könnte es nach einem Austritt z.B. Italiens aus der EWU weitergehen? [Update/Korrektur]

Wir gehen davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt kein “Clearing” geben wird, d.h. die Banca d’Italia den T2-Saldo nicht durch Transfer entsprechender Wertpapiere an die Bundesbank (via EZB) ausgleichen wird. Die folgenden Überlegungen stellen eine Möglichkeit dar, die eine entsprechende Änderung des rechtlichen Rahmens notwendig macht. Im Fall des Euroaustritts ist aber ohnehin eine rechtliche Regelung notwendig. Ich gehe davon aus, dass der T2-Saldo zunächst einfach auf der Passivseite der Banca d’Italia stehenbleibt, während alle Reserven sowie das Bargeld in Lira umgewandelt werden. Die Banca d’Italia (und die italienische Wirtschaft und selbst populistische Regierungen) wird ein vitales Interesse daran haben, den Zahlungsverkehr zwischen Italien und dem Euroraum weiterhin zu gewährleisten. Dies kann durch einen vorübergehenden Verbleib im TARGET-System geschehen, solange noch Salden offenstehen.

Wenn es dann zu einer Überweisung von Deutschland nach Italien kommt, verringern sich die Euroreserven auf der Bank- sowie der Bundesbank-Bilanz – und der dort befindliche T2-Saldo ebenfalls. Wie der Empfang von Euroreserven sich dort auf das Verhältnis zwischen Geschäftsbank und Banca d’Italia auswirkt, sei dahingestellt. Die Banca d’Italia könnte z.B. die Euroreserven der italienischen Geschäftsbank in Lirareserven umtauschen, wobei dann bei ihr ein Passivtausch der T2-Verbindlichkeiten gegen Lira-Reserven stattfindet. Auch ihr T2-Saldo verringert sich.

Die umgekehrte Überweisung von Italien nach Deutschland würde man asymmetrisch behandeln: es werden von der italienischen Bank nur Euroreserven für den Transfer akzeptiert, die diese (bzw. die Banca d’Italia) zuvor bei der einer deutschen Geschäftsbank (bzw. der Bundesbank) mittels Tausch gegen Wertpapiere erworben hat. Auf diese Weise wird sich – anders als im bisherigen TARGET-System – der T2-Saldo zumindest nicht erhöhen. Man könnte diesen Vorgang auch daran koppeln, dass die Banca d’Italia einen Aufschlag von sagen wir 5% zahlt, also für einen 100 Mio-Transfer Wertpapiere für 105 Mio überträgt, die den bestehenden T2-Saldo um 5 Mio verringert. Auf diese Weise würde sich bei jedweder grenzüberschreitenden Zahlung der T2-Saldo ein Stückchen verringern. Ist dieser irgendwann Null, so kann man auf das symmetrische System übergehen, wie es auch sonst üblich ist, und Italien tritt aus dem TARGET-System aus. Selbst wenn sich der letztgenannte Aufschlag bei Überweisungen von Italien nach Deutschland politisch nicht durchsetzen ließe, so würden zumindest die Zahlungsvorgänge in die andere Richtung den T2-Saldo abschmelzen.

Das von einigen Ökonomen beschworene „Erpressungspotenzial“, weil Italien mit der Drohung der „Nichtrückzahlung der T2-Schulden“ beinahe jede Forderung durchsetzen könne, kann man auch genau umkehren: Solange noch ein T2-Saldo besteht, muss sich die Banca d’Italia auf die skizzierte technische Regelung einlassen, wenn Italien nicht vom Euroraum abgeschnitten werden will. Das dürfte wohl im beiderseitigen Interesse liegen.  Der Saldo wird dann so zurückgeführt, wie er entstanden ist: allein durch grenzüberschreitende Zahlungsvorgänge. So ganz ohne Katastrophe. Man kann nur hoffen, dass im Fall eines Austritts pragmatische Zentralbanker auf beiden Seiten die Sache in die Hand nehmen und nicht so manche deutsche Leitartikler.

Urheberrecht im digitalen Zeitalter

In ihrem Kommentar „Es geht um Fairness – nicht um Zensur“ in der FAZ vom 4.7.2018 plädiert die Stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses des Europäischen Parlaments, Helga Trüpel, wie schon bereits in früheren Kommentaren, für eine starke ordnungsökonomische Antwort der Gesellschaft auf die Macht der Digitalkonzerne. Die Spielregeln im Umgang mit Daten und in diesem Fall auch mit den Urheberrechten sollten nicht von den großen Plattformen diktiert werden, sondern müssten gesellschaftliche gestaltet und für diese Konzerne verbindlich durchsetzbar gemacht werden. Wer den „digitalen Kapitalismus“ mit den Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft zähmen will, muss auf neue technologische Entwicklungen neue ordnungsökonomische Antworten entwickeln. Soweit die sehr überzeugende Grundhaltung von Frau Trüpel, die ich teile.

Sie kündigt an, im Europaparlament deshalb für die Vorschläge des Rechtsausschusses zur Reform des EU-Urheberrechts zu stimmen. Sie begründet dies mit der Fairness gegenüber den Kreativen, deren Schöpfungen von Digitalplattformen indirekt enorm erfolgreich vermarktet werden, an diesem Erfolg jedoch nicht fair partizipieren. Auch dieser Gedanke ist im Großen und Ganzen richtig. Der Teufel steckt jedoch im Detail, und hier macht es sich Frau Trüpel leider sehr einfach, auch wenn sie mit dem Rekurs auf den philosophischen Freiheitsbegriff und dem Berufen auf ordnungsökonomische Grundsätze versucht, die eher schlichten Argumente intellektuell zu veredeln.

Sie diagnostiziert, dass viele aus der „Netzgemeinde“, die sich gegen ein strengeres, auf die Digitalwirtschaft ausgelegtes Urheberrecht aussprechen, einem anarchistischen und letztlich „neoliberalen“ Freiheitsbegriff „auf den Leim gehen“. Diesen radikalen Freiheitsbegriff findet Frau Trüpel erstaunlich, weil doch ansonsten dieselbe Klientel etwa bei Fragen der Globalisierung sich für strikte Regulierungen des freien Marktes bzw. des Freihandels einsetzen, damit soziale und ökologische Standards gewährleistet werden. Dieser Interpretation widerspreche ich. Das Einsetzen für soziale und ökologische Regulierungen entspringt demselben Freiheitsbegriff: Freiheit erfordert, dass der Einzelne die Konsequenzen seiner Entscheidungen überschauen, bewerten, und verantworten kann. Bei Vorliegen von Externalitäten und Informationsasymmetrien gewährleistet aber der Markt und dessen Preissystem dies aber gerade nicht. Mit zunehmender Globalisierung wird es sogar immer schwieriger, die globalen Handlungsfolgen z.B. von Konsumentscheidungen zu verantworten, da sie sich nur sehr unzureichend im Preissystem widerspiegeln und somit die souveräne freie Entscheidung letztlich unterminieren. Die Begriffe „freier Markt“ und „Freihandel“, verstanden als ein möglichst unreguliertes System, sind ein völliges Missverständnis. Wer regulatorische Umweltstandards als „Hemmnis für den Freihandel“ bezeichnet, versteht von Allokationstheorie und dem Funktionieren von Märkten nichts. Hier kann man der angesprochenen Klientel also ein ein aufgeklärtes modernes Verständnis von Freiheit und Liberalismus zusprechen, was Frau Trüpel auch tut.

Mit demselben Freiheitsverständnis kann man nun fragen, wie es um die Macht der Digitalkonzerne und -plattformen bestellt ist und wie eine Gesellschaft regulatorisch bzw. ordnungsökonomisch darauf antworten soll. Die diesbezügliche Beschlussvorlage des Europaparlaments, dem Frau Trüpel zuzustimmen gedenkt, sieht vor, dass Digitalplattformen selbst, nicht nur die Nutzer, welche urheberrechtlich geschütztes Material hochladen, für die Urheberrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Daher sollen sie verpflichtet werden, Uploadfilter zu verwenden. In der Tat gibt es bereits Technologien, die von Google entwickelt und bei Youtube eingesetzt werden, welche Grundlage für solche Filter sein könnten (ContentID). Kritiker befürchten das Entstehen einer „Zensurmaschine“. Frau Trüpel wiederum weist dies zurück und argumentiert, dass es hier um Fairness gegenüber den Urhebern und nicht um Zensur ginge, und unterstellt den Kritikern unnötigerweise ein anarchistisches Freiheitsverständnis, also letztlich fehlenden Respekt vor den Kreativen. Das ist leider außerordentlich schlicht, zumal auch der sonstige Aufbau ihres FAZ-Beitrags logisch holpert. In zahlreichen Kommentaren, u.a. auch in der FAZ oder im Deutschlandfunk, wurde auf mehrere sehr gut begründbare Probleme dieser Filtertechnologie hingewiesen, die das eigentliche Ziel ggf. sogar unterminieren können. Auf all dies geht Frau Trüpel gar nicht ein. Sie wägt kein Für und Wider ab, sie stellt den Chancen der Zielerreichung nicht die Risiken von Kollateralschänden gegenüber. Als Politiker*in fühlt man sich vermutlich wirkmächtig, wenn man etwas beschließen kann, was die ökonomische und gesellschaftliche Realität gegen die Interessen der Großkonzerne verändert. Das übt einen großen Reiz aus, der einen leicht verdrängen lässt, wie wenig man als Politiker*in über die Details digitaler Technologien und deren ökonomischen Anreizwirkungen letztlich weiß. Nur zur Erinnerung seien ein paar Stichpunkte zu den Uploadfiltern genannt:

  • Diese Technologie ist sehr aufwändig, aber zwingend notwendig, wenn sich Konzerne vor Klagen gegen Urheberrechtsverletzungen schützen müssen. Um Millionen oder Milliarden von Content-Schnipseln auf etwaige Rechtsverletzungen zu überprüfen, müssen Algorithmen eingesetzt werden, die KI-basiert erlernen, wann es sich um eine Rechtsverletzung handelt. Wegen dieses sehr hohen Know-Hows und technologischen Aufwandes werden sich kleine Anbieter das nicht leisten können. Die Macht der ohnehin schon sehr großen Konzerne wirkt gestärkt, da nun kaum überwindbare Markteintrittsbarrieren bestehen.
  • Die Algorithmen werden nie perfekt in ihrem Urteil sein. Es wird Fehler erster und zweiter Ordnung geben (zulässiger Content wird falsch als unzulässig erkannt, unzulässiger Content wird falsch als zulässig erkannt). Da der zweite Fehler dem Konzern teuer zu stehen kommen kann, wird im Zweifel lieber viel zu viel als unzulässig aussortiert. Daher die Befürchtung der „Zensur“. Beispiele für Überfilterung finden sich täglich in den Medien. Da solche Digitalplattformen faktisch zu einer Infrastruktur gesellschaftlichen Austauschs geworden sind, muss mindestens ein Recht bestehen, zu Unrecht gefilterten Content doch wieder hochladen zu können.
  • Die Befürworter verwenden meist die sehr schlichten Beispiele um ihre Position zu begründen, etwa das unzulässige Hochladen eines Musikvideos von Beyoncé, wo auch der einfältigste Bürger einsehen kann, dass das nicht in Ordnung ist. Aber was ist, wenn diese Musik, vom Algorithmus gerade noch so identifizierbar, im Hintergrund eines privaten Partyvideos zu hören ist? Oder wenn jemand diesen Song nachspielt oder parodiert oder nur auf der Straße pfeift? Was ist mit verfremdeten, z.B. parodierenden Filmsequenzen? Das Urheberrecht gilt auch für Texte: Was ist mit dem Zitatrecht? Usw. usw. Es gibt sehr viele Beispiele, die nur auf den ersten Blick als konstruiert wirken, die aber einen sehr großen Teil gesellschaftlicher Debattenkultur und Kreativität ausmachen. Es reicht hier nicht darauf zu verweisen, dass es Beyoncé ganz sicher nicht darum geht, solche Dinge zu unterbinden. Es liegt gar nicht in der Hand von Beyoncé, sondern in der Hand ihrer Rechteverwerter sowie in der Hand der Abmahnindustrie. Also im Zweifel: lieber den Filter zu scharf stellen!
  • Der Schutz der Kreativen im Bereich Musik, Film, Text usw. ist außerordentlich wichtig und die Notwendigkeit einer fairen Vergütung sollte nicht bezweifelt werden. Da ist Frau Trüpel unbedingt zuzustimmen. Die Gesellschaft ist auf Kreative angewiesen. Was bei digitalen Gütern jedoch „fair“ bedeutet, ist nicht a priori klar und eindeutig. Das Reklamieren des Begriffes „fair“ für die eigene Position immunisiert diese und delegitimiert die Gegenposition. Das kann problematisch werden. Ich möchte daran erinnern, dass in aller Regel nicht die Kreativen unmittelbar, sondern deren Rechteverwerter von einer Vergütung profitieren. Diese verfügen ebenfalls über Marktmacht, und ihr Geschäftsmodell kann man zumindest teilweise als Extraktion von Renten verstehen. Die innere Anreizstruktur solcher Rechteverwerter führt häufig dazu, dass vor allem wenig erfolgreiche Kreative weit überproportional von Vergütungen profitieren („Superstar“-Phänomen), viele kleinere Kreative jedoch kaum oder gar nicht. Es sind daher Superstars wie Paul McCartney, die sich für die Verschärfung des Urheberrechts einsetzen, oder die Musikindustrie, die sich zum Anwalt des kleinen Künstlers aufschwingt. Man kann sich einmal umgekehrt die Frage stellen, ob ein Kreativer, der zwar jenseits der bekannten Plattformen gewisse Einnahmen mit seinen Leistungen generiert (oder auch nicht), auf den Plattformen sein Material sowie sämtlicher Content, den der Algorithmus irgendwie mit seinem geschützten Material in Verbindung bringt, aber geblockt wird, besser gestellt ist als jetzt. Würde er/sie das wollen? Technologien wie ContentID oder auch Experimente mit Blockchains könnten eine Möglichkeit bieten, jenseits kommerzieller Rechteverwerter einzelnen Kreativen die Möglichkeit zu geben, die Nutzung der Werke besser zu kontrollieren und ggf. Einnahmen zu generieren. Solche Ansätze entwickeln sich aber aus dem Know-How der Tech-Unternehmen heraus, nicht aus der staatlichen Regulierung derselben, die in ihrer ordnungsökonomischen Phantasielosigkeit erstarrt ist.

Das zweite große Gebiet der EU-Urheberrechtsreform ist das Leistungsschutzrecht, welches Digitalkonzerne dazu zwingen soll, für Text-Content (in erster Linie sind das Überschriften und Teaser von Nachrichten von Journalisten bzw. deren Zeitungsverlagen) etwas zu bezahlen. Ein solches Leistungsschutzrecht gibt es in Deutschland bereits, und es ist wirkungslos geblieben. Zwar muss z.B. Google („Google News“) Lizenzen erwerben, um das Recht zu erhalten, solche Überschriften und Teaser im eigenen Dienstleistungsangebot verwenden zu dürfen. Jedoch hat Google die Zeitungsverlage quasi gezwungen, solche Lizenzen kostenlos zu erteilen. Ansonsten würde man eben Nachrichten des betreffenden Zeitungsverlages bei „Google News“ einfach nicht mehr zeigen. Die Befürworter eines europäischen Leistungschutzrechtes argumentieren, dass die Gegenmacht der Verlage natürlich sehr viel größer werde, wenn dieses Recht nunmehr europaweit gelte. Man könne dann viel eher „auf Augenhöhe“ verhandeln. Auf den ersten Blick wirkt das überzeugend, und Politiker*innen genügt in aller Regel nur der erste Blick. Man stelle sich zwei Fragen:

  • Warum nur waren deutsche Zeitungsverleger bereit, Google solche Lizenzen kostenlos zu geben? Verleger erzielen Rückflüsse aus dem physischen Verkauf der Zeitungen und Zeitschriften, von Digital-Abos, vor allem aber durch Werbeeinnahmen und ggf. dem Verkauf von Nutzeer(meta)daten an Analysefirmen im Fall des Online-Angebotes. Google News hilft dabei, Nutzer auf die eigenen News-Seiten zu bekommen um dort Klicks und Werbeeinnahmen zu generieren. Davon profitieren die Verlage offenbar in dem Maße, das es ihnen profitabel erscheinen lässt, auf Lizenzeinnahmen zu verzichten statt nicht gelistet zu werden. Ökonomisch gesehen gibt es also bereits auch ohne Leistungsschutzrecht einen Preis für die Nutzung des digitalen Gutes, auch wenn hier keine monetären Zahlungen von Google erfolgen, aber doch eine digitale Leistung, die kein Verlag missen möchte. Es wäre sogar denkbar, dass Google eine Gebühr dafür verlangt, bei „Google News“ gelistet zu werden. In ähnlicher Weise zahlen Nutzer von Google Maps oder der anderen Diensten keinen monetären Preis, sie zahlen mit ihren Daten, welche die Konzerne außerordentlich erfolgreich verwerten. Das ökonomische Verständnis von Anreizstrukturen und Austauschbeziehungen ist eben ein wenig anders und komplexer als bei nicht-digitalen Gütern. Dennoch versuchen Politiker, das althergebrachte Instrumentarium des Urheber- und Leistungsschutzrechtes in derselben Weise auch im digitalen Bereich anzuwenden und verstehen dieses dann als „zeitgemäße Anpassung an die neuen digitalen Herausforderungen“. Im Grunde entstammen die Analyse- und Begründungsmuster aber noch aus der Zeit der Lehrbuch-Ökonomik nicht-digitaler Güter. Das trifft trotz ihrer lobenswerten Grundhaltung auch auf Frau Trüpel zu.
  • Wenn nun ein EU-Leistungsschutzrecht gilt, was würde sich substanziell an den ökonomischen Abwägungen der Verlage ändern? Das Argument, nunmehr „auf Augenhöhe“, also mit ähnlicher Marktmacht verhandeln zu können, setzt voraus, das sich alle Verlage zu einem Verhandlungskartell zusammenschließen – ordnungsökonomisch problematisch, wenn auch vielleicht tolerierbar im Sinn der „countervailing power“. Möglicherweise gelingt es tatsächlich, Google zu Lizenzzahlungen zu bewegen. Es ist aber mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Google News in Europa ohnehin nicht gerade der große Profitbringer ist und dann kurzerhand eingestellt wird, weil man keine Lust hat mit einem europäischen Verlegerkartell zu verhandeln. Oder man listet nur noch nicht-europäische Konkurrenten. Das wäre dann ein toller Erfolg des Gesetzes. Um der Gefahr, dann eben weniger Klicks und weniger Werbeeinnahmen zu bekommen, besteht für einzelne Verlage dann der starke Anreiz, sich aus ökonomischem Eigeninteresse heraus aus dem Kartell zu verabschieden und Google wieder eine Gratislizenz anzubieten.

Ich wünsche mir, dass sich gewählte Politiker*innen nicht bloß mit dem Augenscheinlichen, dem ersten Blick, dem Vordergründigen, dem was sich technisch uninformierten Bürgern gut verkaufen lässt, begnügen. Kluge regulatorische Antworten auf neue digitale Herausforderungen erfordern leider eine Auseinandersetzung mit technischen und ökonomischen Detailfragen und dem mühseligen Abwägen von erwünschten Effekten und unerwünschten Kollateralschäden. Es ist nicht damit getan, mit großer Geste den Kritikern der eigenen Symbolpolitik einen „falschen Freiheitsbegriff“, Geringachtung der Kreativen und mangelnde Fairness zu unterstellen.

“Vollgeld” – eine gute Idee?

Am kommenden Sonntag stimmen die Schweizer über die sog. Vollgeld-Initiative ab. Worum es dabei geht, setze ich im Folgenden als bekannt voraus. Ich bin kein Experte für die Vollgeld-Debatte, es ist also wahrscheinlich, dass manche der folgenden Punkte bereits in der Literatur diskutiert wurden.  Es geht hier auch nicht um eine ausführliche kritische Würdigung des Konzepts, sondern nur um ein paar Schlaglichter aus Sicht der monetären “Mainstream”-Theorie. Dabei möchte ich vorausschicken, dass ich nicht prinzipiell gegen diese Reform-Idee bin, selbst wenn ich hier Bedenken vortrage, die mich sehr skeptisch machen.

1. Die Rolle der Geschäftsbanken in der Finanzintermediation

Warum gibt es Banken? Banken betreiben von einem theoretischen Standpunkt aus Asset-Transformation: die Fristen, die Liquidität, die Risiken, die Volumina der Einzelpositionen auf der Aktiv- und der Passivseite sind sehr verschieden und gleichen die sehr unterschiedlichen Interessen z.B. von Sparern und Investoren aus. Die Halter von Depositen profitieren von der geschickten Risikostreuung des Portfolios und dem Liquiditätsmanagement, das ihnen in der Regel sichere, schnell verfügbare Einlagen beschert. Banken haben Expertise in Risikobewertung und -kontrolle, oder technisch gesagt: screening und monitoring zur Reduktion von ökonomischen Problemen, die durch asymmetrische Informationsverteilung zustande kommen, d.h. sie reduzieren sog. Agency-Kosten und leisten so einen erheblichen Beitrag zu einer effizienten Allokation von Kapital. All dies führt aber auch zu gewissen Profiten. Ich spreche hier nicht von denjenigen Profiten, die durch dubiose Spekulationen zustande kommen, sondern durch normale Bankgeschäfte, also das, was Vollgeld-Vertreter Geldschöpfungsgewinne nennen, die sie gerne sozialisieren würden. Es stellen sich drei Fragen:

(a) Das monetäre Resultat all dieser Aktivitäten ist die Menge der vergebenen Kredite bzw. des dadurch geschaffenen Geldes. Wieso sollte die Zentralbank besser wissen, welche Geldmenge denn die für die Bedürfnisse der Haushalte und Firmen usw. angemessene ist? Das verweist auf das zentrale Wissensproblem in einer dezentralen Marktwirtschaft. Entweder akkomodiert die Zentralbank jegliche Kreditvergabewünsche der Geschäftsbanken, oder sie diskriminiert  zwischen „sozial wünschenswerten“ und „nicht wünschenswerten“ Aktivitäten, die per Kredit finanziert werden sollen. Es sagt sich leicht dahin, dass die Zentralbank dann „wilde Spekulation auf Kredit“ verhindern könnte (was ein gutes Risikomanagement einer Geschäftsbank wohl auch tun würde), aber es wäre ein deutlicher Schritt in Richtung zentrale Lenkung der Kreditvergabe. Möchte man das?

(b) In dieselbe Richtung gehend kann man auch fragen, weshalb das Publikum einer Zentralbank mehr trauen sollte als den unter Wettbewerb stehenden Banken? (Gut, diese Frage wird bei Kritikern des “Finanzkapitalismus” nur Gelächter auslösen, aber auch Sicht der politischen Ökonomik (bzw. Public Choice) ist sie berechtigt!)

(c) Warum sollten die Geldschöpfungsgewinne per se der Gemeinschaft gehören und nicht ein Teil davon privat angeeignet werden können, da ja ohne Finanzintermediation, sprich die oben beschriebenen ökonomischen Funktionen einer Bank, moderne Wirtschaften nicht funktionieren würden? Warum sollte man nicht dafür einen Preis zahlen, der – je nach Wettbewerb – zu mehr oder weniger hohen Gewinnen führen kann?

2. Wozu will die Zentralbank “volle Kontrolle” über die Geldmenge haben? Und hätte sie die?

Im vorherigen Punkt wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Bankensektor möglicherweise besser informiert ist über die Kredit- und Geldnachfragewünsche des Publikums, weshalb eine Endogenisierung der Geldmenge durchaus sinnvoll sein kann. Aber nehmen wir mal an, es sei aus irgendwelchen Gründen gut, dass allein die Zentralbank das Geldmengenaggregat bestimmt. Die meisten Zentralbanken der größeren OECD-Länder betreiben Inflation Targeting und benutzen den Zinssatz als Steuerungsgröße. Das spiegelt sich auch in den allermeisten monetären makroökonomischen Modellen unterschiedlicher Coleur wider (z.B. die Taylor-Regel). Nun kann eine Zentralbank aber nicht gleichzeitig Geldmenge und den Zinssatz steuern: Hat sie ein primäres Interesse, den Zinssatz auf dem Niveau z.B. des Taylor-Zinssatzes zu halten, so muss sie die Geldmenge entsprechend der Geld- bzw. Kreditnachfrage akkomodieren, ob sie will oder nicht. Die Geldmenge wäre also wiederum endogen wie zuvor. Oder sie will die “volle Kontrolle über die Geldmenge” behalten, dann aber werden sich die Zinssätze in möglicherweise unvorhersehbarer Weise entsprechend der Kredit- und Geldhaltungswünsche vom Ziel-Niveau entfernen, d.h. die Zentralbank verliert die Kontrolle über den Zinssatz und damit möglicherweise über die Inflation bzw. Inflationserwartungen. Es ist illusorisch, dass man sich mit einem Vollgeld-System solchen fundamentalen Trade-offs entziehen könnte.

3. Wie schafft eine Zentralbank denn Vollgeld?

Ein durchaus berechtigter und m.E. zu wenig beachteter Kritikpunkt der Vollgeld-Vertreter am bestehenden System ist, dass in einer wachsenden Volkswirtschaft, in welcher die zirkulierende Geldmenge mitwächst, auch die Schulden entsprechend wachsen, denn der größte Teil des geschaffenen Geldes entsteht ja durch Kreditvergabe. Da die Geldmenge schneller wächst als das BIP, könnte darin eine Erklärung für die säkulare Tendenz zu immer höheren gesamtwirtschaftlichen Schuldenquoten liegen. Aber ändert sich das denn, wenn Geld nunmehr allein durch die Zentralbank geschaffen wird, sagen wir im selben Umfang wie bisher? Zentralbankgeld wird in Umlauf gebracht, indem die Zentralbank entweder einen Vermögensgegenstand kauft, oder einer Geschäftsbank einen Kredit gibt. Letzteres wäre ja wiederum eine Kredit-Zentralbankgeldschöpfung. Aber auch beim Kauf von Assets sollte man sehen, dass mit ganz erheblicher Dominanz (Staats-) Schuldverschreibungen gekauft werden, also auch wiederum Schuldkontrakte. An dem Gleichlauf von Geld- und Schuldenschöpfung würde sich wenig ändern. Die Schaffung von Geld, dem keine Schulden gegenüberstehen, würde bedeuten, dass die Zentralbank z.B. Gold, Grundstücke, Aktien oder dergleichen kauft. Selbst ganz gewöhnliche Geldpolitik würde dann aber in erheblichem Maße zu einer Vermögenspreisinflation (und so zu Vermögensumverteilung zugunsten der Reichen) führen. Will man das?

4. Ausweichreaktionen

Im Vollgeldsystem, wo Banken nicht ohne weiteres “aus sich selbst heraus” Kredite vergeben können, wird es höchstwahrscheinlich Ausweichreaktionen geben. Schon jetzt gibt es neben dem Bankensektor Finance Companies, bei denen Haushalte bzw. meist Firmen einen Kredit aufnehmen können, wo bei der Kreditvergabe jedoch kein neues Geld entsteht. Diese dem sog. “Schattenbankensektor” zugerechneten Institutionen müssen sich das Geld, welches sie verleihen, zunächst beschaffen, meist durch die Emission von Wertpapieren (“Commercial Papers”), welche z.B. gerne von Fonds gekauft werden. Die Bedeutung solcher Institutionen wie auch des Schattenbankensektors insgesamt hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Die Mechanismen innerhalb dieses Sektors und seine Verflechtung mit dem Bankensektor hat erheblich zur Globalen Finanzkrise 2008 beigetragen. Ein Vollgeldsystem dürfte zu einem starken Zulauf zu Finance Companies führen, den Schattenbankensektor also stärken. Diese Unternehmen haben jedoch keine Transaktionsbeziehungen zur Zentralbank, letztere kann also auch nicht im Notfall als “lender of last resort” einspringen. Da die emittierten Commercial Papers in der Regel eine sehr viel kürzere Laufzeit haben als die Kredite, kann dieser Fristen-Mismatch auch mal zu Liquiditätsproblemen führen, bei denen die Zentralbank nicht helfen kann. Ob also, wie gehofft, das gesamte “Finanzsystem”, wie Vollgeld-Vetreter glauben, tatsächlich “stabiler” wird, darf durchaus bezweifelt werden.

Ich erkenne durchaus an, dass  die Kernidee des Vollgeldes der historischen Logik von Notenbankreformen folgt, nämlich ein staatliches Monopol für die Ausgabe von Banknoten zu schaffen, und diesen Ansatz auch auf das dominierende elektronische Geld ausdehnen möchte. Es würde ein Zustand hergestellt, von dem die allermeisten Menschen irrtümlich glauben, dass er bereits status quo ist. Aber abgesehen von der Vermeidung von Bank-Runs, für die es im Vollgeld-System keinen Anreiz mehr gäbe, sehe ich nicht allzu große Vorteile, jedoch einige  ungeklärte Risiken eines solchen Experiments, von denen nur wenige hier angesprochen wurden.

Warnung von 154 Ökonomen vor Haftungsunion in Europa

F.A.Z. vom 21.5.2018: “154 Wirtschaftsprofessoren warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Wir dokumentieren ihren Aufruf im Wortlaut. “ Und ich kommentiere diesen Aufruf im Folgenden (Text des Aufrufs in Kursivschrift) .

1. Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wie geplant als Rückversicherung für die Sanierung von Banken (Backstop) eingesetzt wird, sinkt für Banken und Aufsichtsbehörden der Anreiz, faule Kredite zu bereinigen. Das geht zu Lasten des Wachstums und der Finanzstabilität.

Grundsätzlich ist an diesem Argument etwas dran, dass die Existenz von Sicherungssystemen zu Moral Hazard führen, d.h. der Anreiz für stabilitätskonformes und risikoadäquates Verhalten sinken kann. Auf der anderen Seite kann die Situation, in welcher der ESM einspringt, so konditioniert werden, dass die Entscheidungsträger wenig Interesse am Eintreten dieses Falles haben, also beispielsweise persönlich mithaften müssen, im Vorfeld Entscheidungsbefugnisse übertragen müssen, die Bankenaufsicht Druck ausübt usw. Es ist ja nicht so, dass der Kenntnisstand der VWL bezüglich Moral-Hazard-Fehlanreizen so ist, dass man dem Phänomen hilflos gegenübersteht. Ein etwas mutigeres Abschreiben fauler Kredite und Bereinigung der Portfolios und begleitende Kapitalerhöhungen –  unter Überwachung durch die Bankenaufsicht – kann sogar begünstigt werden, wenn nicht sofort Insolvenz befürchtet werden muss, da es einen Backstop gibt.

2. Wenn der ESM wie geplant als „Europäischer Währungsfonds“ (EWF) in EU-Recht überführt wird, gerät er unter den Einfluss von Ländern, die der Eurozone nicht angehören. Da einzelne Länder bei dringlichen Entscheidungen des EWF das Vetorecht verlieren sollen, könnten Gläubigerländer überstimmt werden. So würde zum Beispiel der Deutsche Bundestag sein Kontrollrecht verlieren.

Das ist eine juristische Frage, die ich schwer überschaue. Ich vermute, es gibt Möglichkeiten, die Entscheidungsbefugnisse auf diejenigen Länder zu begrenzen, die der Eurozone angehören. Ob bei Dringlichkeit automatisch Vetorechte außer Kraft gesetzt werden, dessen bin ich mir auch nicht sicher. Das alles hängt vom Design der Spielregeln ab. Der Deutsche Bundestag müsste selbstverständlich bei der Überführung des ESM in einen EWF gefragt werden, d.h. die Übertragung einer fiskalischen Verantwortung auf eine supranationale Institution muss demokratisch legitimiert werden. Eine Stärkung der demokratischen Legitimierung aller EU-Organe und Entscheidungsabläufe sollte ohnehin ein wichtiges Ziel der EU-Strukturreformvorschläge sein.

3. Wenn die Einlagensicherung für Bankguthaben wie geplant vergemeinschaftet wird, werden auch die Kosten der Fehler sozialisiert, die Banken und Regierungen in der Vergangenheit begangen haben.

Sprechen sich die Unterzeichner nur gegen die europäische Einlagensicherung oder generell gegen eine Einlagensicherung aus? Wenn es für letztere gute ökonomische Argumente gibt (etwa als Antwort auf Bank-Run-Gleichgewichte á la Diamond/Dybvig), dann sollten diese Argumente eigentlich durch eine Verbreiterung des Versicherungspools gestärkt werden. Ähnlich wie bei Punkt 1 erwähnt, muss das Einspringen der Einlagensicherung im Krisenfall konditioniert werden, so dass es für Banken in jedem Fall ein unangenehmes, zu vermeidendes Ereignis darstellt. Durch die Verbreiterung der Basis auf ganz Europa sollten die Prämien für eine Einlagensicherung aufgrund von Poolingeffekten sinken. Hinter dem Aufruf steht das Szenario, dass deutsche Banken in den Pool einzahlen, der Versicherungsfall aber in Italien stattfindet. Also im Prinzip: Ich will nicht in eine Krankenversicherung einzahlen, in der auch Leute Mitglied sind, die eventuell rauchen oder zu wenig Sport treiben.

4. Der geplante europäische Investitionsfonds zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der geplante Fonds zur Unterstützung struktureller Reformen dürften zu weiteren Transfers und Krediten an Euroländer führen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Reformmaßnahmen zu ergreifen. Es wäre falsch, Fehlverhalten zu belohnen.

Ein europäischer Investitionsfonds könnte auch zu anderen Zwecken als zur “Stabilisierung” nützlich sein, etwa zu Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben wie z.B. Grenzschutz, später einmal vielleicht einer europäischen Armee, Forschungsförderung, oder auch größerer Infrastrukturprojekte mit länderübergreifenden Spillovereffekten. Hier sehe ich wenig Substanz für Gegenargumente, allerdings würde auch mich die Zielbestimmung “gesamtwirtschaftliche Stabilisierung” stören. Unterstützung struktureller Reformen werden von den Unterzeichnern abgelehnt gerade weil man zwar Strukturreformen haben will, man aber nicht möchte, dass Mitnahmeeffekte entstehen oder Reformen verschleppt werden, um für deren Durchführung Geld zu erpressen. Das ist einsichtig. Auf der anderen Seite hängt auch dies von der Konditionierung der Unterstützung ab. Ob Reformschritte eher durchgeführt werden, wenn es dafür zusätzliche Anreize gibt, oder eher verschleppt werden, um damit Anreizzahlungen zu erpressen, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Die letztere Variante geht, wie auch alle anderen Moral-Hazard-Argumente der Unterzeichner, von dem pessimistischsten und krudesten Verhalten der europäischen Partnerländer aus. Das zeigt der Satz, dass “Fehlverhalten nicht belohnt werden” solle – obwohl der Fond ja eigentlich den Abbau des Fehlverhaltens zum Ziel hat! Letzteres scheint den Unterzeichnern so abwegig, dass er keiner Erwähnung wert ist. Ein Fond muss im übrigen auch nicht bedeuten, dass Reformschritte direkt monetär belohnt werden: der Reformprozess soll “unterstützt” werden, das kann man auch so verstehen, dass einem Kind Nachhilfe finanziert wird und nicht das Schreiben guter Schulnoten monetär belohnt wird (und daher jegliche intrinsische Motivation für die Schule zu lernen unterminiert wird). Als Ökonom möchte ich schon etwas genauer die Ausgestaltung eines Instruments anschauen anstatt es in Bausch und Bogen zu verdammen.

Über das Interbankzahlungssystem Target2 hat Deutschland bereits Verbindlichkeiten der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro akzeptiert, die nicht verzinst werden und nicht zurückgezahlt werden müssen.

Hier wird eine alte Debatte aufgewärmt, auf die ich zum einen nicht eingehen möchte, und bei der ich zum anderen keinen direkten Bezug zu dem vorherigen Absatz sehe, in dessen Kontext diese Aussage steht. Denn um “Transferzahlungen” handelt es sich bei den Target2-Salden nicht, soll aber wohl suggeriert werden.

5. Ein Europäischer Finanzminister mit Fiskalkapazität würde als Gesprächspartner der EZB dazu beitragen, dass die Geldpolitik noch stärker politisiert wird. Die sehr umfangreichen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (2550 Milliarden Euro bis September 2018) kommen schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich.

Ein europäischer Finanzminister mit einer Fiskalkapazität für gemeinschaftliche Aufgaben (wie in Punkt 4 angedeutet) müsste demokratisch legitimiert sein, was generell auf eine politische Reform der EU verweist. Wieso dieser plötzlich ein “Gesprächspartner der EZB” wäre im Unterschied zu den nationalen Finanzministern heute, ist mir unklar. Auch ist unklar, was “Gesprächspartner” bedeuten soll. Etwa, dass man miteinander spricht? Das wäre ja in der Tat ganz furchtbar… In einer Welt, in der die formalen Voraussetzungen des Tinbergen-Modells nicht erfüllt sind, also ein “Assignment” der wirtschaftspolitischen Träger mit geradezu autistischen Zügen nicht das Gebot der Stunde ist, ist Politik-Koordination durchaus sinnvoll. Selbst ganz ohne Kommunikation sind Geld- und Fiskalpolitik strategisch wechselseitig voneinander abhängig, Assignment hin oder her. Das schließt eine klare Bindung an bestimmte Ziele (EZB: Preisniveaustabilität) nicht aus. Die dramatische Semantik der “Politisierung” der Geldpolitik bleibt hier ziemlich inhaltsleer. Die Anleihenkäufe der EZB kann man kritisieren, aber was genau hat das mit der Ablehnung eines europäischen Finanzministers zu tun? Besteht die Befürchtung, dass dieser – Gott bewahre! – etwa “Eurobonds” herausgibt, welche die EZB sofort kauft? Das ließe sich ja durch institutionelle Regeln von vornherein ausschließen. In diesem Zusammenhang verweise ich gerne wieder auf Brunnermeiers Vorschlag der European Safe Bonds (nicht zu verwechseln mit Eurobonds!), welche als Standard-Security für alle europäischen Bankgeschäfte genutzt und auch von der EZB gekauft werden (oder auch verkauft werden, um z.B. den enormen Bestand an Staatsschuldverschreibungen abzubauen), siehe dazu diesen Blogbeitrag.

Es folgen einige weitere nicht-nummerierte Statements in der Erklärung:

Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.

Stimme zu!

Die Haftungsunion unterminiert das Wachstum und gefährdet den Wohlstand in ganz Europa.

Zum einen kommt es darauf an, was genau unter einer “Haftungsunion” verstanden wird. Der Begriff bleibt hier bewusst vage, denn man soll ihn mit etwas a priori Negativen, mit Ängsten assoziieren. Eine analytische Kraft hätte er erst dann, wenn man sich die Mühe macht, für konkrete Ausgestaltungen von Spielregeln in konkreten Situationen konkrete Verhaltensanreize abzuleiten. Zum anderen dürfte es praktisch keine empirischen Belege für die obige Behauptung geben, dennoch drücken die Verfasser es nicht ihre Befürchtung aus, sondern sie konstatieren das wie ein Faktum.

Dies zeigt sich bereits jetzt in einem sinkenden Lohnniveau für immer mehr, meist junge Menschen.

Jetzt kippt der Text schon fast in den Bereich der Phantasie: Es wird vor geplanten Haftungsunionen gewarnt, gleichzeitig scheinen Haftungsunionen aber schon in signifikantem Umfang zu existieren (an was genau denken die Verfasser hier?), denn sonst könnte man nicht schon existierende negative Konsequenzen darauf zurückführen. Und sehe ich das richtig, dass hier liberale, eher angebotsorientierte Ökonomen ein sinkendes Lohnniveau nicht nur empirisch feststellen, sondern sogar als Problem empfinden? Sind das nicht dieselben Ökonomen, die für die überschuldeten Südeuropäer eine reale Abwertung (also sprich: sinkende Reallöhne) gefordert haben um wieder wettbewerbsfähig zu werden? Und die die Arbeitsmarkt-Strukturreformen in Deutschland befürwortet haben, welche tendenziell Niedriglohnarbeit gefördert hat, wenngleich aber auch die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist? Und die möglichst ungehemmten Freihandel und Globalisierung befürworten, wobei dann die Lohnspreizung zwischen qualifizierten und weniger qualifizierter Arbeit steigen kann (Stolper-Samuelson-Effekt)? Und genau diese Ökonomen sehen nun sinkende Löhne als Resultat einer europäischen “Haftungsunion” (?) an? Es kann an meiner mangelnden Literaturkenntnis liegen, aber für diese m.E. absurde Behauptung soll es stichhaltige empirische Belege geben? Ich dachte immer, dass Ökonomik heutzutage angeblich so stark “evidenzbasiert” sei. Ach ja, und der kausale Transmissionsmechanismus von einer „Haftungsunion“ zur Lohnsetzung auf dem Arbeitsmarkt erschließt sich mir auch nicht so auf den ersten Blick.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen.

Das unterstütze ich und möchte hinzufügen: einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, die bei der Gestaltung und Durchsetzung ihrer Spielregeln sowohl die ökologische und soziale Nachhaltigkeit, als auch die neuartigen Bedingungen globalisierter Produktion und der informationsbasierten Digitalwirtschaft im Blick hat. Daher ist “rück”besinnen vielleicht ein wenig unglücklich formuliert. Aber ein nach vorwärts gerichteter Gestaltungswille ist diesem Aufruf nicht unbedingt zu entnehmen. Es klingt eher wie ein Appell, auf dem Weg des fortschreitenden Übels “Europa” innezuhalten und zur Bundesrepublik Adenauers und Erhards zurückzukehren.

Es gilt, Strukturreformen voranzubringen, statt neue Kreditlinien und Anreize für wirtschaftliches Fehlverhalten zu schaffen.

Man kann die Vorschläge zur Umgestaltung der Europäischen Union (Macron und andere) durchaus als Teil solcher “Strukturreformen” verstehen. Strukturreformen sind bei den Unterzeichnern ein stets positiv konnotierter Begriff. “Neue Kreditlinien” sind keine substanziellen Forderungen, die irgendjemand stellt, es ist deshalb rhetorisch billig, dies dem Argumentationsgegner zu unterstellen um dann demonstrativ dagegen zu sein. Ich denke, man wollte gerne gegen ein weiteres Hilfspaket für Griechenland und möglicherweise demnächst ins Haus stehende Hilfen für Italien vorbeugen. Aber das ist nicht Gegenstand der europäischen Reformdebatte, ist hier also fehlplatziert. Ob bei den gemachten Vorschlägen Anreize zu Fehlverhalten produziert werden, möchte ich sehr zurückhaltend bewerten, da kommt es genau auf die Konditionalitäten, die Ausgestaltung an. Das ist intellektuelle Detailarbeit, für die Ökonomen nun mal da sind. In der hier zugespitzten Form wirkt es wie eine ordnungsökonomische Keule, mit der mit Stumpf und Stil jeglicher Vorschlag niedergeknüppelt wird, der nach “mehr Europa” klingt.

Die Privilegierung der Staatsanleihen in der Risikovorsorge der Banken ist abzuschaffen.

Immerhin mal ein konkreter Vorschlag! Wenn diese Forderung lediglich bedeutet, dass Staatsanleihen mit einem positiven Risikofaktor gewichtet und somit einer Kapitaldeckung unterworfen werden sollen, so spricht nichts dagegen. Wie wäre es darüber hinaus mit Eurpean Safe Bonds, um den “diabolic loop” zwischen Staatsschulden und Bankenrettung zu durchbrechen (siehe Blogbeitrag)?

Die Eurozone braucht ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten und ein geordnetes Austrittsverfahren.

Ja, dem stimme ich zu. Das ist keine neue Feststellung.

Die Kapitalmarktunion sollte vollendet werden – auch weil internationale Kapitalbewegungen asymmetrische Schocks kompensieren.

Ich bin verblüfft, denn hier wird ein Begriff, in dem das Wort “Union” vorkommt, positiv konnotiert, aber es geht ja auch um den Kapitalmarkt, um dessen Funktionsfähigkeit man sich sorgt. In meiner Lesart bedeutet Kapitalmarktunion: einheitliche strikte Finanzmarktregulierungen, einheitliche Bankenaufsicht, ein europäischer Einlagensicherungsfond, vielleicht sogar Umbau des ESM zu einem EWF …. Nein, ich glaube nicht, dass es das ist, was die Unterzeichner meinen. „Asymmetrische Schocks kompensieren“ funktioniert u.a. über hohe Faktormobilität, das ist richtig. Im Fall des Faktors Kapital ist es jedoch in der Literatur etwas umstritten, ob asymmetrische Schocks stets absorbiert oder u.U. sogar verstärkt werden können. Vielleicht darf daran erinnert werden, dass genau solche Kapitaltransfers zu hohen Target2-Salden führen.

Bei der EZB sollten Haftung und Stimmrechte miteinander verbunden werden.

Darüber kann man durchaus nachdenken. Das kann ich momentan nicht beurteilen.

Die Target-Salden sind regelmäßig zu begleichen.

Wie wäre es mit Euopean Safe Bonds als Clearing-Instrument (siehe Blogbeitrag)? Leider ist das Target-System in dieser Hinsicht fehlkonstruiert. In der jetzigen Form ist die Forderung wohlfeil, aber kaum zu realisieren. Da erwarte ich von den Unterzeichnern konkrete Reformideen.

Die Ankäufe von Staatsanleihen sollten ein schnelles Ende finden.

Zwar habe ich nie etwas von der ordoliberalen Teufelszeug-Rhetorik gegen die QE-Maßnahmen der EZB gehalten, bin aber auch der Meinung, dass dieses Instrument inzwischen relativ wenig wirksam ist, so dass es in keinem Verhältnis zu den eingegangenen Bilanzrisiken steht. Generell obliegt die Entscheidung darüber aber der unabhängigen Zentralbank, die sich weder von der Fiskalpolitik, noch von deutschen Ökonomen reinreden lässt und nur so ihre Glaubwürdigkeit behält. Ordoliberale betonen stets, dass die Zentralbank in der Wahl ihrer Mittel unabhängig sein müsse, nun wollen sie ihr aber gleichzeitig vorschreiben, was zu tun ist. Das ist bemerkenswert.

Gegen eine Bindung an wohldurchdachte ordnungsökonomische Prinzipien und Spielregeln ist überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber die Expertise von Ökonomen sollte gerade darin bestehen, diese Spielregeln im Detail zu analysieren und Designvorschläge zu machen, welche Fehlanreize verhindern. Stattdessen wird mit relativ geringer empirischer Evidenz pauschal vor (fast) allem gewarnt, das irgendwie “Union” und “Gemeinschaft” im Namen trägt. Der Duktus des ganzen Aufrufs ist, dass Nationalstaaten für sich selbst verantwortlich bleiben sollen und insbesondere das mustergültige Deutschland sich gegen die Zumutungen der Sünder-Staaten abgrenzen müsse. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass weniger Europa und mehr nationale Zuständigkeiten besser sei, statt sich mit den Details zu befassen, wie man z.B. die Macron-Vorschläge hier verbessern oder dort entschärfen könnte um die EWWU voranzubringen. Es atmet den Geist von tiefer Europa-Skepsis. Kein Wunder also, dass Beatrix von Storch auf Twitter kommentiert: “154 Wirtschafsprofessoren rufen dringend zur Wahl der AfD auf.”

Schade eigentlich, da auch mir Ordnungsökonomik wichtig ist.

Reaktionen zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Diesel-Fahrverboten

Einige Industrieverbände sowie der Deutsche Städte- und Gemeindebund meinen, dass Diesel-Fahrverbote keine Lösung seien, es sei ein „Irrglaube“ das Schadstoffproblem mit mehr Regulierung und Verboten zu lösen, Fahrverbote seien ein „Herumdoktern an Symptomen“, und überhaupt gäbe es viel bessere Konzepte. Es sei daran erinnert, dass es nicht die Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichtes war, umweltfreundliche und effiziente Verkehrslösungen zu entwickeln, sondern lediglich festzustellen, ob Fahrverbote rechtmäßig sind oder nicht. Kein Mensch behauptet, dass Dieselfahrverbote eine „Lösung“ seien, auch diejenigen nicht, die das Urteil begrüßen. Was also will man wohl mit einer Rhetorik erreichen, die genau dies dem politischen Gegner unterstellt? Ferner sei daran erinnert, dass das Gericht Fahrverbote als eine Art „ultima ratio“ sieht, wenn andere, weniger in die Freiheitsrechte eingreifende Maßnahmen ausgeschöpft wurden.

Alle Verbände haben Vorschläge parat, die allesamt Bausteine einer umfassenden Verkehrswende sind, die langfristig den motorisierten Individualverkehr zugunsten des ÖPNV deutlich verringern, verstetigen, von fossilen Brennstoffen unabhängig machen soll usw. Das sind allesamt gute Vorschläge, aber Industrie und Politik haben es bislang nicht geschafft, signifikante Schritte in diese Richtung zu gehen. Natürlich sind Regulierungen und Verbote nicht die Lösung, aber vielleicht erzeugen sie endlich den nötigen Druck, über eine Verkehrswende nicht nur wohlfeil zu reden, sondern aktiv zu werden. Da das Urteil Fahrverbote lediglich als letztes Mittel erlaubt, ermuntert es geradezu dazu, zunächst die anderen erfolgversprechenden Wege zu beschreiten.

Christian Lindners Reaktion auf das Urteil: „Ein Schlag gegen Freiheit und Eigentum“ knüpft leider nahtlos an das frühere FDP-Paradigma „Freie Fahrt für freie Bürger“ an, einem intellektuellen Tiefpunkt des Liberalismus. Ich weiß nicht, ob Herr Linder mit dieser Rückkehr zum verbalen Krawall-Liberalismus so gut beraten ist. Die „Freiheit“ ist offenbar die des Autofahrers, massiv in die Freiheitsrechte anderer Bürger einzugreifen, die ein Bedürfnis und – via Grenzwertregulierungen – ein Recht auf einigermaßen akzeptable Luftqualität und Gesundheit haben. Für das knappe Gut „saubere Luft“ gibt es konkurrierende Nutzungsansprüche. Dass Millionen Menschen ungefragt im Mief leben und arbeiten müssen, Gesundheitsbeeinträchtigungen erleiden, usw. ist kein Eingriff in deren Freiheitsrechte? Sind Emissionen quasi ein Naturrecht? Herr Lindner bezweifelt die wissenschaftliche Begründbarkeit der Grenzwerte. Das ist OK. Aber unabhängig davon, wie gesundheitsschädlich welche Mengen von Stickoxid und Feinstaub tatsächlich sind: die ökonomische Begründung von Begrenzungen bestimmter Handlungen (Autofahren), welche bestimmte Externalitäten (Abgase, Feinstaub) hervorrufen, beruht auf einer kollektiven Entscheidung über die Allokation des knappen Gutes „saubere Luft“. Die Legitimation erfährt eine solche Regulierung nicht zwingend erst durch medizinische Argumente, sondern darüber, dass sich eine freiheitliche Gesellschaft selbst solche Allokations-Regeln verordnet, weil diese ausdrücken, mit welcher Güterabwägung sie zu leben wünscht. Und hier haben wir uns nun mal auf europäische Spielregeln geeinigt, an welche sich unsere europäischen Nachbarn (soweit ich weiß) halten. Wenn Herr Lindner diese Spielregeln ändern will, muss er dafür Mehrheiten finden, z.B. die Grenzwerte wieder anzuhben, statt auf Gerichte zu schimpfen. Aber vielleicht ist er besser beraten, seinen Begriff von Freiheit kritisch zu reflektieren.

Der Wert von Dieselfahrzeugen könnte nun deutlich sinken. Dies wirkt tatsächlich ähnlich wie eine Enteignung, das ist richtig. Nicht übersehen sollte man dabei aber die Quasi-Enteignung derjenigen, die jahrelang unter gesetzeswidrigen Emissionen gelitten haben. Ihnen wurden ebenfalls Nutzungsrechte (an Luft mit bestimmter Mindestqualität) entzogen, die sich aber schwer in monetären Verlusten oder Arbeitsplatzverlusten ausdrücken lassen wie es umgekehrt die Industrie und Autobesitzer tun können. Zudem kann man schwerlich behaupten, dass ein Gericht, welches lediglich über die Rechtmäßigkeit von Fahrverboten urteilt, für die Wertminderung bestimmter Fahrzeuge ursächlich verantwortlich ist. Die systematische Täuschung und Tricksereien der Automobilindustrie tragen mindestens ebenso zu dieser Wertminderung, also „Enteignung“ bei wie die Untätigkeit der Politik, frühzeitig langfristige ökologische Verkehrskonzepte zu entwickeln und zu implementieren.

Nachtrag: Das Urteil führt nicht zwingend zum Untergang des Dieselmotors. Das Problem ist der Dieselkraftstoff. Der Dieselmotor könnte auch mit CNG (synthetisch, also nicht-fossil) betrieben werden, wenn man im Blick hat, dass Mobilität sich langfristig von der Nutzung fossiler Energien lösen muss.

Der Streit um die Bürgerversicherung

Das Thema ist schon deshalb interessant, weil viele ökonomische Aspekte und Interessen eine Rolle spielen. Beide Märkte, der Versicherungs- und der Gesundheitsmarkt, sind voller interessanter ökonomischer Besonderheiten, die Sorgfalt und Vorsicht bei der kritischen Analyse erfordern. Umso ärgerlicher ist die Tatsache, wie häufig die Kontroverse auf der Basis ideologischer Behauptungen ausgetragen wird. Vor allem die Kritiker einer Bürgerversicherung stellen deren Befürworter fast immer unter einen Ideologieverdacht.

Aus diesem Anlass nehme ich mir den Artikel “Nur Verlierer durch die Bürgerversicherung” von Andreas Mihm in der F.A.Z. vom 10.1.2018 vor, und gehe chronologisch durch den Text. Im Anschluss daran befasse ich mich mit dem Artikel “Von Bismarck bis heute: Die verflixte Bürgerversicherung” von Werner Abelshauser in der F.A.Z. vom 8.2.2018. Beide Artikel stammen von klaren Kritikern der Bürgerversicherung bzw. Befürwortern des bestehenden dualen Systems aus PKV und GKV.

Zunächst zu Andreas Mihm: Wie üblich für jeden kritischen Artikel verweist der Autor gleich zu Beginn auf die negativen Erfahrungen einer Einheitsversicherung in Großbritannien, wo es zu starken Rationierungen kommt, und rückt dieses “staatliche Einheitssystem”, welches “offenkundig versagt” habe, rhetorisch sofort in die Nähe des “Sozialismus”, der bekanntlich ja “zusammengebrochen” sei, und der nur noch von “Ideologen” (sprich: SPD und Grüne) propagiert werde. Denn eigentlich, so suggeriert der Text, ist das Ergebnis für jeden denkenden Menschen klipp und klar: die Bürgerversicherung erzeugt “nur Verlierer”. Es ist schon erstaunlich: Wenn jemand einen Vorschlag macht, wie man ein soziales Sicherungssystem anders organisieren könnte, und man aber der Meinung ist, dass viele sachlich-ökonomische Argumente gegen diesen Vorschlag sprechen, weshalb ist es dann nötig, die Gegenposition gleich als erstes unter Ideologie- und Sozialismusverdacht zu stellen? Der abwertende Schreibstil unter Verwendung vieler Reizworte, die beim klassischen FAZ-Leser Beißreflexe erzeugen (sollen), und die unerschütterliche Selbstgewissheit des Autors auf der richtigen Seite zu stehen, nähren gewisse Zweifel, wer denn hier eher zu ideologischen Argumentationen neigt. Ganz nebenbei bemerkt: Werden die schlimmen Rationierung in Großbritannien durch das dortiges Versicherungssystem verursacht, oder liegt es möglicherweise schlicht an einer Unterversorgung mit Ärzten, die wiederum schlicht an einer chronischen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems liegt?

Nun gut, nächster Absatz. Dort steht ein interessanter Relativsatz: “Der privaten Krankenvollversicherung, die die Sozialdemokraten so dringend abschaffen wollen, …. “ Es geht den Sozialdemokraten also angeblich um ihre ideologische Feindschaft gegenüber einem privaten Markt. Jedoch: Wo sieht das Konstrukt einer Bürgerversicherung die “Abschaffung” der privaten Krankenvollversicherung vor? Wenn ich die Aussagen z.B. von Herrn Lauterbach lese (Interview Tagesspiegel vom 24.7.2017), dass PKV-Versicherte durchaus in der PKV bleiben können, aber dann eben auch deren finanziellen Risiken möglicher drastischer Beitragserhöhungen tragen müssten, dann erscheint dieser Relativsatz schon hart an der Grenze zur Unwahrheit. Gewiss, das Geschäft mit privaten Vollversicherung wird als Reaktion auf eine solche Reform stark zurückgehen, aber das ist nicht das Reformziel.

Der nächste Absatz widmet sich dem Aspekt, dass die Bürgerversicherung “als Gerechtigkeitsprojekt verkauft” werde, aber schon bei der ursprünglich angedachten Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Finanzierung so starke Abstriche gemacht wurden, dass der Autor resümiert: “`Gerechter’, wie behauptet, weil sie stärker auf alle Einnahmen und nicht nur auf jene aus Arbeit abstellt, wird die Finanzierung der Kassen durch die SPD-Pläne also nicht.” Hier ist also das Argument gegen die Bürgerversicherung, dass das Konzept nicht mehr so radikal ist wie ursprünglich gedacht? Habe ich das richtig verstanden? Und der Autor teilt offenbar sogar die Vorstellung, dass es gerechter wäre, alle Einkommensarten hinzuzuziehen – wie etwa bei einem steuerfinanzierten Gesundheitssystem wie in Schweden oder Kanada? Oder in dem zuvor kritisierten Großbritannien? Steht das nicht etwa unter Sozialismusverdacht? Nebenbei bemerkt will nicht eine überschaubare Gruppe linker Ideologen es als “Gerechtigkeitsprojekt verkaufen”, sondern eine sehr große Mehrheit der Bürger empfindet es (a) als gerecht, wenn alle Bürger gleichen Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen haben, (b) diese nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip bezahlt werden, und (c) sie empfinden die Abrechnung höherer Preise für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten und die u.a. (aber nicht nur) dadurch bedingte bevorzugte Terminvergabe nicht als gerecht. Vielleicht sollte man daran erinnern, dass in einer liberalen Gesellschaft die allgemeinen Spielregeln die Gerechtigkeitsvorstellungen der großen Mehrheit der Bürger widerspiegeln (sollten).

Eine weitere “Gerechtigkeitsbaustelle” sieht der Autor bei dem Problem, dass Privatpatienten eher einen Arzttermin bekommen. Da dies empirisch nicht von der Hand zu weisen ist, bestreitet der Autor das auch nicht. Jedoch: “Die Einheitsversicherung oder auch nur die einheitliche Bezahlung der Ärzte änderte daran aber wenig. Wie lange würde es wohl dauern, bis Zusatzversicherungen auf den Markt kämen, die den Wohlhabenden erlaubten, ihren Arzttermin bevorzugt zu buchen?” Ich lese das so, dass zwar im Prinzip die einheitliche Bezahlung die Ungleichbehandlung durchaus abstellen würde, aber als Ausweichreaktion man sich durch Zusatzversicherungen dann eben doch eine bevorzugte Behandlung erkaufen kann, womit die Zwei-Klassen-Medizin wieder hergestellt sei. Ich überlege mir, was dies denn für eine Zusatzversicherung sein könnte: Ich schließe mit einem Privatversicherer einen Vertrag, für den ich Prämien zahle, und der mir im Fall, dass ich einen Arzttermin benötige, was genau garantiert? Dass ich einen früheren Termin bekomme? Wie das? Was soll den Arzt denn bewegen, mir einen früheren Termin zu geben? Etwa Zusatzzahlungen von mir oder der Versicherung? Wäre das nicht ein klarer Fall von Korruption bzw. Vorteilsnahme? Vielleicht könnte der Autor hier in der Analyse der Anreizwirkungen etwas ins Detail gehen statt auf die Suggestivwirkung des Arguments zu setzen, dass der Markt schon für neue Produkte als Ausweichreaktion sorgen werde. Ich biete hier mal dem Autor etwas Schützenhilfe: vielleicht eine Versicherung von Zusatzleistungen über das notwendige Maß hinaus, die der Arzt zusätzlich abrechnen kann und deshalb auch gleich einen bevorzugten Termin vergibt? Wie groß mag der Anreiz dafür wohl sein, wenn dadurch allen Beteiligten (Patient, Arzt, Versicherung) bewusst wäre, dass es hier um medizinisch eher kaum indizierte Zusatzleistungen geht? Auch müsste der Arzt stets genau wissen, welcher Patient über welche Art von privater Zusatzversicherung verfügt. Wenn der Patient mit dem gebrochenen Bein eine Zusatzversicherung für Fertilitätsuntersuchungen auf den Tisch legt, wird das den Arzt wohl kaum bewegen ihn bevorzugt zu behandeln. Während PKV-Lobbyisten in der Bürgerversicherung einen “Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin” sehen – wegen besagter Ausweichreaktionen – halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass sich ein “Markt für Vorzugsbehandlung” in nennenswertem Umfang herausbildet, der das Problem der Terminvergabe verschärft. Zusatzversicherungen für Zusatzangebote wird es selbstverständlich noch geben, und niemand will das einschränken. Aber das wird deutlich seltener die Terminvergabepraxis beeinflussen. Vielleicht darf man daran erinnern, dass es bereits jetzt einen Markt für bevorzugte Behandlung geben müsste, auf dem GKV-Patienten Zusatzleistungen nachfragen, die sich PKV-Patienten gleichstellen.

Interessanterweise kommt dem Autor nicht ein zweiter, wahrscheinlich sogar wichtigerer Grund für die bevorzugte Terminvergabe in den Sinn: die Budgetierung in der GKV. Ist das Budget ausgeschöpft, kann der Arzt bis Monatsende keine Leistungen an GKV-Patienten abrechnen. Es ist lukrativer, bis dahin nur noch Privatpatienten (sowie dringende Fälle) zu nehmen, und die Termine der GKV-Patienten auf später zu verschieben, wenn das neue Budget freigegeben ist. Man kann dem Arzt dieses Verhalten nicht verübeln, denn wer möchte schon seine hochqualifizierte Arbeitskraft nur für “Gotteslohn” zur Verfügung stellen? Hier sollte man nicht mit moralischen Ansprüchen an den Arzt argumentieren, sondern ihn einfach fair bezahlen. Im Übrigen ist die Budgetierung auch bei den Befürwortern einer Bürgerversicherung ein meist übersehener Punkt. Ohne eine Reform dieses aus Kostendämpfungsgründen eingeführte Konstrukt wird auch eine Bürgerversicherung die Ungleichbehandlung von Patienten nicht überwinden können. Hier besteht beim genauen Design der Anreizstrukturen innerhalb einer Bürgerversicherung noch großer Diskussions- und Entwicklungsbedarf.

Der nächste Absatz des Kommentars von Herrn Mihm hat viel zu bieten: “Nichts hilft auch das paternalistische Argument vom schutzbedürftigen Privatpatienten, der vor dem diagnostischen Übereifer geldgieriger Ärzte zu bewahren sei.” Im VWL-Studium lernt man bereits im ersten Semester etwas über Dysfunktionalitäten des Marktes bei Vorliegen asymmetrischer Information – ein spannendes, mit Nobel(gedächtnis)preisen ausgezeichnetes Gebiet. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist ein Lehrbuchfall für solche asymmetrischen Informationen, denn der Patient kann weder beurteilen, welche Therapien und Medikamente er benötigt (also nachfragen muss), noch deren Preis-Leistungs-Verhältnis. Die aufgeklärte neoklassische Standardökonomik sieht hier klar einen Regulierungsbedarf. Mit “Paternalismus”, den der Autor hier unterstellt, hat das rein gar nichts zu tun. Die Standardökonomik unterstellt zudem rationales Verhalten, nicht “Geldgier”. Wenn wir Ökonomik betreiben, sollte man solche moralischen Zuschreibungen unterlassen.

Und weiter: “Ob dem Patienten die quasi-staatlichen Therapievorgaben eines weitab tagenden Bundesausschusses lieber sind als seine Autonomie gegenüber einem Behandler, dem er vertraut?” Der Leistungskatalog wird von Fachgremien erarbeitet, das Ziel ist eine deutliche Reduktion der Informationsasymmetrie. Die Diagnostik ist allein Sache des Arztes, dem ich vertraue, und er wird je nach Indikation Therapie und Medikamente verordnen, die einen gewissen Rahmen nicht übersteigen, also bei einem Schnupfen kein MRT verschreiben. Wenn der Autor, Herr Mihm, nicht beurteilen kann, ob der Gebrauchtwagen, den er vielleicht kaufen möchte, fahrtüchtig ist oder nicht, kann er sich bei Vorliegen einer TÜV-Plakette darauf verlassen, dass gewisse Standards eingehalten wurden. Ich glaube nicht, dass er den TÜV als paternalistischen Eingriff in seine vertrauensvolle Beziehung zu seiner Autowerkstatt oder seinem Autohändler versteht. Oder doch? Das Argument von Herrn Mihm spricht genau genommen nicht nur gegen die Bürgerversicherung, sondern generell auch gegen die GKV. Konsequenterweise müsste er für eine Totalprivatisierung des Gesundheitssystems plädieren. Ich schätze aber, dass Herrn Mihm, falls er denn überhaupt GKV-Patient ist, das Vertrauen in seinen Arzt dann wieder leichter fallen wird, wenn er private Zusatzversicherungen abschließt, die auch diejenigen (Luxus-) Leistungen abdeckt, die ihm der paternalistische Leistungskatalog vorenthält. Dies kann er jedoch gerne auch im Falle einer Bürgerversicherung tun! Das Sozialstaatsprinzip impliziert, dass jeder Bürger Zugang zu medizinisch notwendigen Maßnahmen haben sollte. Das dürfte ein extrem breiter Konsens sein. Was aber “notwendig” ist, dafür muss es nun mal allgemeine Spielregeln geben, ob der Autor diese nun als “paternalistisch” abtut oder nicht. Und darüber hinaus kann jeder anbieten und nachfragen, was er oder sie will.

Und der Autor beantwortet die oben zitierte rhetorische Frage selbst: “Wohl kaum. So befördert die Bürgerversicherung das mit Macht, was sie zu verhindern vorgibt: die Zwei-Klassen-Medizin.” Also wo genau hat er denn in seinem Text nun nachgewiesen, dass eine Bürgerversicherung die Zwei-Klassen-Medizin fördert? Alles, was darauf abzielt, dass man sich durch zusätzliche private Versicherungen zusätzliche Leistungen erkaufen kann, ist eine Banalität, die auch jetzt schon für GKV-Patienten möglich ist, und sollte nicht unter “Zwei-Klassen-Medizin” firmieren. Lediglich eine Ungleichbehandlungen im Rahmen des staatlich vorgegebenen Leistungskatalogs, der für alle Bürger denselben Zugang zu als notwendig erachteten Standardleistungen gewährleisten soll, kann als Zwei-Klassen-Medizin angesehen werden. Hier sehe ich aber keinerlei substanziellen Argumente im Text.

Und weiter: “Es bedarf keiner Glaskugel, um die Schockwellen zu erahnen, die der ernsthafte Versuch auslöste, das Versicherungssystem entsprechend umzukrempeln. Große Teile der Ärzteschaft wären verunsichert, viele würden protestieren – auch aus Sorge um die Einnahmen von den Privatpatienten. Die Stabilität des Gesundheitssystems geriete in Gefahr.” Ich nehme mal an, dass Mihm als liberaler Mensch kein Problem damit hat, wenn Märkte einem massiven Strukturwandel aufgrund neuer Technologien und Globalisierung ausgesetzt sind und sich neuen Herausforderungen stellen müssen. Und ich nehme auch an, dass er an anderen Stellen massiven Reformbedarf in der Politik sieht. Das Zitat allerdings klingt wie von jemandem, der strukturkonservativ und verzagt zu Hause auf dem Sofa sitzt, und den jede Veränderung ängstigt. Das raunende Heraufbeschwören “großer Gefahren” ist ziemlich traurig, weil es lediglich die Ressentiments des FAZ-Lesers bedient, und eine klare Analyse und empirische Argumente ersetzt. Herr Mihm wurde aber noch übertroffen von Herrn Silberbach vom Deutschen Beamtenbund, der durch die Bürgerversicherung die „Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens gefährdet” sieht – eine lachhafte Realsatire! Ich musste mich vergewissern, nicht etwa den “Postillon” zu lesen. Als noch vor einigen Jahren schwarz-gelbe Gesundheits-Reformprojekte wie Privatisierungen und die “Kopf-Pauschale” diskutiert wurden, hatte da Herr Mihm eigentlich auch von “Schockwellen”, “Verunsicherung” und Destabilisierung gewarnt? Ich weiß es nicht.

Die “Sorge der Ärzte um ihre Einnahmen” ist der einzige ernst zu nehmende Punkt in obigem Zitat. Diese Sorge bezieht sich auf den Umstand, dass derzeit Ärzte für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten einen höheren Abrechnungssatz ansetzen dürfen als bei GKV-Patienten. Sie kann sich wohl kaum auf Zusatzleistungen beziehen, die sowohl im jetzigen System als auch bei einer Bürgerversicherung (privat) abrechenbar sind. Ich bin weder der Meinung, dass Ärzte geldgierig seien, noch dass sie zu viel verdienen würden (in Teilen kann man sogar das Gegenteil behaupten). Sie erbringen eine sehr wichtige Dienstleistung, für die sie ordentlich bezahlt werden müssen. Daher müssten bei einem Übergang auf eine Bürgerversicherung selbstverständlich die Abrechnungssätze so angepasst werden, dass es nicht zu Einkommenseinbußen kommt. Mit einer Unterfinanzierung wie im gescholtenen britischen System wäre niemandem geholfen. Eine solche Anpassung ist im Konzept der Bürgerversicherung vorgesehen. Da es aber starke regionale Unterschiede im Anteil der PKV-Patienten gibt, wird es aber zwangsläufig Gewinner und Verlierer geben, auch wenn das Gesamteinkommen der Ärzte etwa gleich bleibt.

Weiter im Artikel: “Krankenkassen sorgen sich schon davor, dass bei einer Öffnung der Privatversicherung zuerst die `schlechten Risiken’ – teure Kunden mit beitragsfreien Kindern oder chronischen Erkrankungen – kämen und Löcher in die Kassen rissen.” Welche Krankenkassen? In der PKV wäre ein Kontrakt, der auf einkommens- statt auf risikoäquivalenten Prämien aufbaut, problematisch, das ist richtig. Im Idealfall sollte natürlich für den Pool der Versicherten die Summe der einkommensäquivalenten Prämien so hoch sein, dass sie dennoch äquivalent zum Risiko sind, also mindestens die erwarteten Ausgaben decken können. Wettbewerb zwischen den PKV würde dann aber zu einem “Rosinenpicken” führen, so dass alle schlechten Risiken bei der GKV und somit bei der Allgemeinheit landen würden. Um das zu verhindern, ist ein Kontrahierungszwang vorgesehen. Dann aber besteht das Problem, dass durch Zufall (nicht durch unternehmerisches Handeln) eine Krankenkasse strukturell schlechtere Risiken abbekommt als andere. Das alles ist in der versicherungstheoretischen Literatur ein uralter Hut. Innerhalb der verschiedenen, ebenfalls in einem Wettbewerb zueinander stehenden GKV wird dieses Problem durch einen Strukturausgleichsfond (ähnlich dem Länderfinanzausgleich) ansatzweise gelöst. Es ist also kein brandneues Thema, mit dem man sich nun urplötzlich mit der Bürgerversicherung konfrontiert sieht, sondern jahrzehntealter Lehrbuchstoff. Im übrigen ist auch bei risikoäquivalenten Prämien innerhalb konkurrierender PKV der Wettbewerb eingeschränkt: Aus Gründen der intertemporalen Glättung bilden PKV Rückstellungen, die ein Versicherter verlieren würde, wenn er zu einem Wettbewerber wechseln möchte. Das führt zu “Wechselkosten”, also einer inhärenten Wettbewerbsbeschränkung. Daher muss es auch hier einen regulatorischen Ausgleich geben, bei dem die Mitnahme dieser Rückstellungen ermöglicht wird. Man kann auf diesem komplexen Gebiet nicht so simpel mit “Staat versus Markt” argumentieren, sondern nur mit dem Vergleich unterschiedlicher Designs regulatorischer Maßnahmen.

Es ist zugegeben wahrscheinlich, dass private Kassen überwiegend Zusatzversicherungen anbieten werden bzw. Vollversicherungen nur für diejenigen, die die Wahlmöglichkeit haben, nicht in die Bürgerversicherung zu wechseln. Daher die möglicherweise berechtigte Sorge des Autors: “Schon warnt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor dem Verlust Tausender Arbeitsplätze in der Privatversicherung.” Interessant, dass sich marktliberale Ökonomen die Befürchtungen von Gewerkschaften zu eigen machen, wo doch sonst die Auffassung herrscht, dass Reformen und Strukturwandel nun mal eine Re-Allokation des Faktors Arbeit erfordern würden. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Wird mehr oder weniger dieselbe Leistung (hier: die Versicherung für die Gesundheitsversorgung nach dem gesetzlichen Leistungskatalog) mit weniger Faktorinput (sprich: weniger Arbeitsplätzen) erstellt, nennt der Ökonom das normalerweise “technischer Fortschritt” und “Effizienzgewinn”. Auch wenn ich nicht so weit gehen würde, so ist ein Aufschrei in der F.A.Z., dass Strukturwandel “Arbeitsplätze koste”, etwas kurios. Ich bin nicht sicher, ob Herr Mihm mit der gleichen Emphase den Wegfall tausender Arbeitsplätze im Kohlebergbau in NRW in den letzten Jahrzehnten, bei den Siemens-Werksschließungen in Görlitz, oder in ganzen Gewerben wie Postkutschen und Mundschenken beklagt. Ich nehme mal an, er wird argumentieren, dass die durch Strukturwandel unbeschäftigten Faktoren in andere, produktivere Verwendungsmöglichkeiten gelenkt werden, wofür flexible Märkte schon sorgen würden. Hier aber stehen Herr Mihm und PKV-Lobbyisten plötzlich hinter den Gewerkschaften und schwingen deren Fahne. Und noch kurioser: Wenn es tatsächlich stimmt, dss nicht etwa Arbeitsplätze in Richtung GKV verlagert, sondern netto abgebaut werden, obwohl es dann viel mehr “Einheitsversicherte” und kaum noch PKV-Vollversicherte gibt, heißt das denn nicht in der Konsequenz, dass die zentralistischen Versicherungsbürokratien des sozialistischen Wohlfahrtsstaates etwa unglaublich schlank und effizient aufgestellt sind, so dass sie mit kaum mehr Personal deutlich mehr Versicherte bedienen können? Ironie beiseite: mit dem Arbeitsplatzargument gegen Reformen und Strukturwandel zu argumentieren kaufe ich Herrn Mihm nicht ab.

Der Autor könnte mir sehr leicht widersprechen, indem er auf Studien verweist, die der GKV höhere (direkte und indirekt verursachte) Verwaltungskosten nachweist im Vergleich zur PKV. Das nämlich würde eine geringere Effizienz sprechen. Hier gibt es empirisch – je nach Berechnungsmethode – widersprüchliche Aussagen. Jedoch kommt dieser Aspekt nur ganz unspezifisch auf das Gesundheitssystem insgesamt bezogen im allerletzten Absatz zur Sprache, und auch dort nur in dem Kontext, dass es eigentlich viel drängendere Probleme zu lösen gäbe als die Einführung einer Bürgerversicherung. Gewiss! Aber die Existenz anderer Baustellen ist kein Hinderungsgrund, sich mit eben dieser Baustelle zu beschäftigen. Ich verstehe das als Ablenkungsrhetorik. Und so endet der Text, nicht ohne noch einmal das Reizwort der “Verstaatlichung” unterzubringen, um dem FAZ-Leser nochmal schön den Schaum aus dem Mund quellen zu lassen. Summiert man, was an substantiellen Argumenten und empirischer Evidenz vorgetragen wurde, und überlegt, wen das überzeugen könnte, so kann ich nur den letzten Satz des zweiten Absatzes von Herrn Mihm zitieren: “Die Antwort lautet: niemand.”

Am meisten hat mich dann gewundert, als ich nach einem Mausklick auf den Autor erfahren habe, dass dieser seinerzeit Volkswirtschaftslehre (sic!) studiert hat.

Zum Artikel von Herrn Abelshauser: Ähnlich wie bei Mihm spielt die Wortwahl und Rhetorik eine große Rolle. Jeder marktliberale und wettbewerbsbegeisterte Leser wird bei Nominalkomposita, die mit “Einheits-” beginnen, sofort Aversion entwickeln, so eben auch bei der “Einheitsversicherung”, die dem gesunden Mix des dualen Systems aus GKV und PKV gegenübergestellt wird. Zur Erinnerung: Zunächst geht darum, dass der Staat seine Bürger verpflichtet eine Versicherung abzuschließen, welche einheitliche (Mindest-) Leistungen abdeckt, egal von welcher Art von Versicherungsunternehmen diese stammt. Dahinter steckt der Wunsch, dass alle Bürger gleichen (d.h. einheitlichen) Zugang zu als notwendig erachteten Gesundheitsleistungen bekommen ohne Ansehen der Person. Wir haben auch ein “Einheits-Recht”, das gleichermaßen für alle gilt, und wir haben im Bildungsbereich gleiche Rechte (und Pflichten) zu Bildung, welche auf bundeslandweiten einheitlichen Standards beruht. Niemandem wird im Bildungs- oder Gesundheitsbereich verwehrt, sich weitere zusätzliche Leistungen hinzuzukaufen. Im Bereich des dualen Systems aus GKV und PKV wird die Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen jedoch allein dadurch in Frage gestellt, dass es für ein und dieselbe Leistung zwei unterschiedliche Preise für unterschiedliche Kundengruppen gibt: die Vergütungen bei PKV-Versicherten sind deutlich höher als bei GKV-Versicherten. Eine solche Form der Preisdiskriminierung wäre in der Marktwirtschaft nur möglich bei Vorliegen von Marktmacht, also einer massiven Einschränkung des gepriesenen Wettbewerbs. Sie ist also eher Symptom eines Defektes als ein Symptom funktionierenden Wettbewerbs. Die Einheitlichkeit des Preises für dasselbe Gut ist für gewöhnlich das Resultat funktionierenden Wettbewerbs

Ein weiterer Kniff in der Wortwahl ist die Gegenüberstellung des – positiv konnotierten – Sozialstaates, der sich ordnungsökonomisch den Wettbewerb zunutze macht, und der – negativ konnotierte – Wohlfahrtsstaat, in welchem allen Substantiven ein “Einheits-” vorangestellt wird, um Assoziationen zur DDR zu erwecken, ähnlich wie im oben diskutierten Artikel von Mihm. Jeder kann natürlich definieren, wo die feine semantische Linie zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat verläuft, jeoch halte ich das für uninteressant. Die Frage ist stets, welche Spielregeln der Staat (im Auftrag der Bürger) definiert, und wie diese sich auf Anbieter von medizinischen Leistungen und Anbieter von Versicherungsleistungen auswirken, und ob das gewünschte Resultat (siehe oben) auf möglichst effiziente Weise erzielt wird. Wenn die sozialpolitische Grundsatzentscheidung lautet, dass alle Bürger mit gleicher Indikation Zugang zu den gleichen Leistungen haben sollen, für die schon jetzt ein gesetzlicher Katalog definiert wurde (und darüber hinaus jeder medizinische Leistungen nachfragen kann wie er oder sie will), dann ist also gewollt, dass der Wettbewerb nicht vermittels der genannten Preisdiskriminierung funktioniert.

Auch bei einer Bürgerversicherung (oder im FAZ-Duktus: der Einheitsversicherung des sozialistischen Wohlfahrtsstaates) besteht Wettbewerb: Zunächst gibt es Wettbewerb zwischen den GKV, wenn auch die Spielräume wegen des gesetzlichen Leistungskataloges und des Kontrahierungszwangs eher begrenzt sind. Dieser Wettbewerb wird auch von Anhängern des dualen Systems nicht bestritten, und dieser würde auch in einem System der Bürgerversicherung weiter bestehen. Weiterhin gibt es Wettbewerb zwischen Ärzten oder Kliniken um möglichst lukrative Fälle – also nicht Fälle, in denen für dieselbe Leistung ein höherer Preis abkassiert werden kann, sondern Fälle, bei denen das Verhältnis von Vergütung und Kosten möglichst günstig ist bei gleichzeitig hoher Versorgungsqualität, weil ansonsten die Kunden einen anderen Arzt oder eine andere Klinik wählen. Dies sollte zu einem möglichst effizienten Ressourceneinsatz führen, also nicht zu möglichst geringem Ressourceneinsatz, da sonst die Versorgungsqualität leidet und man den Kunden verliert, aber auch nicht zu einer Überversorgung mit Ressourcen, bei der sich der Kunde zwar gut versorgt fühlt, die dafür aber die Gewinnmarge stark schmälert. Die Effekte eines solchen Qualitäts-Wettbewerbs sollten zum einen zur Herausbildung komparativer Vorteile, sprich Spezialisierung führen, zu einem besseren Informationsaustausch um Kosten von Doppeluntersuchungen zu vermeiden, sowie zu einem bedarfsgesteuerten regionalen Angebot. Derzeit konzentrieren sich die Anbieter dort, wo es die meisten PKV-Nachfrager gibt statt dort, wo es die entsprechende Menge an Indikationen gibt, auf die man selbst spezialisiert ist (z.B. Stadt-Land-Gefälle). Wenn also die Anhänger des dualen Systems den Wettbewerb preisen, den man mit einem sozialistischen Einheitssystem aushebeln würde, so zeigt das eher eine Ideologiegetriebenheit der Argumentation und unzureichendes Verständnis, was auf diesen Märkten derzeit stattfindet. Man verlässt sich auf die Phrase, dass “der Markt” doch irgendwie immer besser sei als “der Staat”. Eine ökonomische Analyse der komplexen dreiseitigen Beziehung zwischen Patient und Arzt, Arzt und Versicherer sowie Versicherer und Patient, welche sowohl durch starke Informationsasymmetrien gekennzeichnet sind, als auch durch Anforderungen, die durch das Sozialstaatsprinzip festgelegt sind, zeichnet ein differenzierteres Bild, wo welche Art von Wettbewerb möglich, nützlich, oder ggf. auch ungünstig ist. Im gegenwärtigen System besteht beispielsweise ein Anreiz zu einer Überversorgung von PKV-Patienten, weil der Arzt oder die Klinik es einfach abrechnen können. Der Versicherer hat weniger Instrumente zur Kostenkontrolle an der Hand und wird sich scheuen, einen Teil der als überhöht angesehenen Rechnung nicht zu begleichen aus Angst, den Kunden zu verlieren. Auf diese Weise kann der Arzt via Versicherung Extraktion von Konsumentenrente betreiben. Der Kunde wiederum kann nicht beurteilen ob diese Leistung notwendig war oder nicht, kann diesen Fehlanreiz also nicht durch sein Nachfrageverhalten beheben.

Und so bleiben am Ende des Artikels von Herrn Abelshauser zwar eine sehr informative Nacherzählung der Geschichte der GKV und PKV, aber am Ende auch die fast ausschließlich ideologiebasierte schlichte Behauptung, dass sich dieses System “bewährt” und deshalb erfolgreich stets gegen solche sozialistisch anmutende Radikalexperimente gestemmt habe. Substanzielle theoretische und empirische ökonomische Argumente sind Fehlanzeige.

Wer auch immer zum Thema Bürgerversicherung Interviews gibt und in den Medien Kommentare schreibt, sollte mal folgende fiktive Klausuraufgabe eines VWL-Studierenden im Fach “Finanzwissenschaft II” versuchen zu lösen: “Analysieren sie den Gesundheitsmarkt mit den Akteuren Patient, Arzt und Versicherung einschließlich der Informationsasymmetrien zwischen allen drei Akteursgruppen und die daraus folgenden Handlungsanreize. Gehen Sie weiterhin von der Restriktion aus, dass alle Patienten bei gleicher Indikation den Zugang zu dem gleichen Mindeststandard an Gesundheitsleistungen haben sollen. Die dafür zu zahlenden Prämien sollen einkommensäquivalent sein. Untersuchen Sie verschiedene Allokationsmechanismen hinsichtlich ihrer Effizienz, und leiten Sie entsprechende ordnungsökonomische und regulatorische Politikempfehlungen ab.”

ESBies: Ein Instrument zur Reduktion von Risiken im Eurosystem

[Siehe Follow-Up am Ende des Beitrags]

Im Folgenden geht es um zwei mehr oder weniger voneinander unabhängige Risiken im Eurosystem, nämlich erstens um die Bilanzrisiken der EZB aufgrund des Quantitative Easing (QE), und zweitens um die enorm hohen TARGET2-Salden im Eurosystem (siehe ausführliches Papier hier). QE hat die ESZB-Bilanz stark ausgedehnt. Mir geht es hier nicht um eine kritische Würdigung der unkonventionellen Maßnahmen insgesamt, sondern ausschließlich um das Problem, dass zum einen eine kurz- bis mittelfristige Rückführung der Geldbasis kaum möglich erscheint. Werden Staatspapiere fällig, so verringert sich zwar die Geldbasis automatisch, aber die Fälligkeit der meisten Papiere liegt in ferner Zukunft. Dieser Automatismus ist also für eine Exit-Strategie wenig geeignet. Ein massiver Verkauf der Papiere ist wegen des dadurch erzeugten Preis- und Zinsdrucks ebenfalls kaum möglich. Zum anderen besteht das Risiko, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder auch nur der Erwartung höherer staatlicher Budgetrisiken die Preise der bereits gekauften und bilanzierten Papiere fällt, und die EZB somit zu hohen Abschreibungen gezwungen sein wird. Aus dem Grund hat sie bereits Rückstellungen gebildet. Da die EZB formal nicht insolvent werden kann (d.h. auch mit negativem Eigenkapital durchaus weiterarbeiten kann), sollte dieses Risiko nicht dramatisiert werden. Aber erstrebenswert ist es nicht.

Nun haben bereits vor ein paar Jahren Brunnermeier et al. (2011, 2016) einen Vorschlag entwickelt, nämlich die Konstruktion eines European Safe Bonds (ESBies), einem Derivat, hinter dem ein ein Pool aus Staatsanleihen europäischer Länder steht. Im Grunde funktioniert das Instrument wie jedes Asset Backed Security (ABS) durch den Pooling-Effekt: das Ausfallrisiko des Derivats ist überschaubar, da der gleichzeitige Ausfall gleich mehrerer Staaten unwahrscheinlich ist, und die Risikoprämie entsprechend etwas kleiner ist als im Durchschnitt der einzelnen darin enthaltenen Titel. Die Autoren schlagen vor, dieses Derivat in Tranchen aufzuteilen – auch dies ähnlich wie bei anderen ABS. Die Senior Tranche ist dabei so konstruiert, dass sie den Zinssatz (und Risikoprämie) des besten darin enthaltenen AAA-Bonds hat (z.B. eine deutsche Staatsanleihe). Risiko und Zinssatz der  Junior Tranche ist entsprechend höher. Im Grunde nutzt man die Möglichkeiten der Finanzintermediationstechniken für die Finanzierung europäischer Staaten geschickt aus, und schafft dabei ein europaweites hochliquides Finanzinstrument. Um voreiligen Schlüssen vorzubeugen: Nein, dies ist kein Eurobond im Sinne einer “Vergemeinschaftung von Schulden”! Die Staaten sind für ihre eigenen Schulden verantwortlich. Kein Staat kann ESBies herausgeben und sich darüber finanzieren, oder über dieses Instrument Risiken auf andere abwälzen. Ändern sich Risiken einzelner Staaten, ändert sich entsprechend die Performance des ESBies und die begebende Institution muss ggf. entsprechend die Struktur des ESB und das Tranching anpassen. Es ist strenggenommen noch nicht einmal ein politischer Akt der Einführung von ESBies notwendig, denn der Markt selbst könnte ohne weiteres ungefragt solche Derivate produzieren. Denjenigen Deutschen, die bei der Wortkombination “Euro” und “Bond” bereits aufhören zu lesen und zu protestieren anfangen, entgehen leider ein paar erhellende Einsichten.

Man kann sich nun vorstellen, dass eine Institution (ein “Special Purpose Vehicle” im öffentlichen Auftrag oder auch private SPV) in großen Stil Staatspapiere zum Beispiel aus Beständen des ESZB, aber auch von anderen Anlegern aufnimmt, poolt, in eine sichere Senior-Tranche (ESBie) und einer riskante Junior-Tranche verwandelt, und an interessierte Anleger weiterverkauft, z.B. wiederum Zentralbanken, Banken oder Fonds. Aufgrund des Pooling-Effekts dürfte für renditeorientierte Anleger eine Junior-Tranche vielleicht interessanter sein als direkt eine griechische Staatsanleihe zu kaufen (die aber gleichwohl zu einem gewissen Prozentsatz in der Tranche enthalten ist). Die Senior-Tranchen könnten als Sicherheit von Banken gehalten werden. Gegebenenfalls kann man deren Nachfrage nach Senior-ESBies sogar erzwingen, indem das ESZB diese als Sicherheiten für Refinanzierungsgeschäfte verlangt. Auf diese Weise könnte die EZB auch vor Fälligkeit in größerem Umfang Staatspapiere loswerden ohne diese direkt auf Sekundärmärkten verkaufen und somit Preisdruck hervorrufen zu müssen. Im Januar 2017 hat Gerald Braunberger diesen Gedanken des Brunnermeier-Papiers bereits in der F.A.Z. sehr schön diskutiert. Sofern Banken diese ESBies dann kaufen (und entsprechend mit Reserven bezahlen), sinkt die Geldbasis. Dies würde der EZB sehr viel mehr Flexibilität für eine mögliche Exit-Strategie aus ihrem QE-Programm bringen.

In diesem Beitrag gehe ich noch einen Schritt weiter: Diejenigen ESBies, welche nicht an Banken verkauft werden, verbleiben in den Bilanzen der EZB sowie der nationalen Zentralbanken. Da es sich um ein europaweit einheitliches liquides Finanzprodukt handelt, wäre es möglich, ähnlich wie im amerikanischen Fed-System, einen Clearing-Mechanismus bei grenzüberschreitendem Zentralbankverkehr einzubauen. TARGET2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Zahlungen, da mit einer Überweisung von Bank A aus Land X zu Bank B in Land Y nicht nur die Depositen, sondern auch die entsprechenden Reserven von Bilanz A in die Bilanz B wandern. Findet der Transfer innerhalb eines Raumes mit nur einer Zentralbank statt, so würde dieselbe Reservemenge von Bank B statt Bank A bei der Zentralbank gehalten. Da aber Banken nur Refinanzierungsgeschäfte mit ihrer jeweiligen nationalen Zentralbank tätigen, ergibt sich auf Zentralbankebene nun ein Saldo (TARGET2), da die Aktivseiten der nationalen Zentralbanken bei diesem Transfer unberührt bleiben und somit dieser Saldo entsteht. Derzeit hat die deutsche Bundesbank enorm hohe “Forderungen” gegenüber südlichen Zentralbanken, etwa der griechischen, wobei der Terminus “Forderung” eine Interpretation als “Kredit” oder gar “Kredit aus der (elektronischen) Notenpresse”(H.-W. Sinn) nahelegt. Das ist jedoch umstritten ist, denn weder geht davon eine Finanzierungswirkung für jemanden aus Land X aus, noch implizieren die salden-bedingte Verlängerung der Zentralbankbilanzen eine Geldmengenerhöhung (siehe dazu Burgold und Voll (2012)). Der TARGET2-Saldo ist nicht eine Finanzierungsvoraussetzung, damit der griechische Importeur (per “elektronischem Kredit”) die deutsche Ware kaufen kann (“wir” also “deren” Leistungsbilanzdefizit finanzieren), sondern ist vielmehr Resultat einer Zahlung, die der Importeur möglicherweise aus eigenen Mitteln finanzieren konnte. Diese Debatte soll aber hier nicht das Thema sein.

Würden alle nationalen Zentralbanken ESBies halten, so würden bei grenzüberschreitendem Zahlungsverkehr die ursprünglichen “Forderungen”, welche bei der nationalen Zentralbank in Land X denjenigen Reserven gegenüberstehen, die nun in Land Y geflossen sind, eben auch die entsprechenden Forderungen in gleicher Höhe in Gestalt von ESBies an die Zentralbank in Land Y übertragen. So wie zwischen Geschäftsbanken stets Depositen und Reserven von einer Bilanz zur anderen überwiesen werden, werden nun Reserven und ESBies von einer Zentralbankbilanz zur anderen überweisen. Ein TARGET2-Saldo würde nicht entstehen (oder nur temporär, wenn Zentralbank X momentan nicht über genügend ESBies verfügt und sich diese erst am Markt beschaffen muss). Ein permanentes Clearing wäre die Folge, was Ähnlichkeiten zum amerikanischen Fed-System aufweisen würde (siehe Voll (2014)). Der Austritt aus der Währungsunion wäre nicht mehr mit verbleibenden “Forderungen” gegenüber der austretenden Zentralbank verbunden.

Auch die sehr hohen Bestände von TARGET2-Salden ließen sich ohne Effekte auf die Basisgeldmenge reduzieren: Zentralbank X müsste entweder einen Teil seiner Staatspapiere in das “Special Purpose Vehicle” auslagern und in ESBies umtauschen (Aktivtausch), anschließend an die Zentralbank in Y transferieren und den existierenden Saldo glattstellen. Soll die Menge an ESB ebenfalls konstant bleiben, so könnte Zentralbank X Aktiva mit Geschäftsbanken tauschen, sofern letztere bereit wären, ESB gegen die von Zentralbank X gehaltenen Aktiva zu tauschen. Das wäre sicherlich eine Frage des Preises, aber im Prinzip möglich. Man kann auch daran denken, auch Junior-ESB einzubeziehen.

Ein weiterer Vorteil wäre, dass nationale Geschäfts- und Zentralbanken nicht auf das Halten heimischer Staatsanleihen fixiert wären. Dies führt nämlich zu einem “diabolic loop”, weil Zweifel an der staatlichen Zahlungsfähigkeit zu einem Preisverfall deren Papiere führt und damit die nationalen Banken in Bedrängnis bringt, so dass wiederum teure staatliche Bankenrettungsmaßnahmen nötig werden können. Wie Brunnermeier et al. zeigen, sind ESB ein Instrument, diese Zirkularität zu durchbrechen.

Brunermeier et al. (2016) haben diesen Vorschlag mit empirischen Daten in aufwändigen Simulationen durchgerechnet um die Eigenschaften der ESBies und Junior-Tranchen für unterschiedliche Risiko-Szenarien zu untersuchen. Zwar ist richtig, dass viele Menschen seit der Finanzkrise eine Gänsehaut bekommen, wenn sie auch nur “Derivate”, “Asset Backed Securities”, “Tranching” oder “Hedging” hören, aber es ist zu hoffen, dass geldpolitische Entscheidungsträger und Europapolitiker genügend Expertise haben um zu erkennen, dass man die Vorteile von Finanzintermediation nicht einfach links liegen lassen, sondern nutzen sollte.

[Follow-Up: Kommentar zum Gastkommentar von Ludger Schuknecht und Levin Holle in der FAZ vom 23.11.2017]

In der FAZ-Überschrift und im Teaser ist von ESBies als „Euro-Anleihen“ und „Schuldenvergemeinschaftung“ die Rede. Das ist irreführend! Mit ESBies werden keine neuen Anleihen begeben, die dem Staat Geld bescheren, und von einer „Vergemeinschaftung“ im Sinne einer gemeinschaftlichen Haftung kann nicht die Rede sein, im Gegenteil. ESBis werden so schon nach wenigen Zeilen in unmittelbare Nähe zu Eurobomds gerückt, wo der Durchschnitts-FAZ-Leser bereits aufhört zu lesen und negativ voreingenommen wird. Man kann nur hoffen, dass nicht die Autoren selbst, beide hochrangige Mitarbeiter des BMF, diese Begriffe gewählt haben.

Die Autoren befürchten, dass es sich um ein „Schönwetterkonstrukt“ handelt, und im Krisenfall eines Staates die Nachfrage nach Junior-Tranchen versiegt und so eine Emission von ESBies nicht mehr möglich sei. Zum einen zweifeln sie damit die ausführlichen Simulationen von Brunnermeier et al. an, die genau die Auswirkungen solcher Krisenfälle untersucht haben. Da hätte man schon gerne gewusst, wie die Autoren zu dieser abweichenden Einschätzung kommen. Zum anderen betrifft ihr Argument in erster Linie die Neu-Emission von ESBies, da im Krisenfall lediglich die Junior-Tranchen an Wert verlieren werden. Bei der Neu-Emission würde sich aber die Portfoliozusammensetzung und der Tranching-Punkt entsprechend der neuen Situation anpassen. Papiere von Krisenstaaten hätten dann ein geringeres Gewicht oder fallen ganz heraus.

Die Autoren bemängeln, dass ESBies nicht das verfügbare Volumen an sicheren liquiden Anlagen erhöhen, da ja in entsprechendem Umfang die emittierende Institution sichere Staatsanleihen vom Markt weggekauft hat. Das allerdings ist trivial. Es ist auch gar nicht der vorrangige Zweck von ESBies, in großen Stil zusätzliche sichere Assets bereitzustellen, aber ein über Ländergrenzen hinweg einheitliches Asset (was zumindest einen gewissen Einfluss auf die Liquiditätsprämie haben dürfte, da die Marktsegmentierung abnimmt). Zudem scheinen die Autoren zu übersehen, dass der Sinn der Übung doch gerade die Nutzung des Pooling-Effektes ist: die Assets, die schon zuvor ein AAA-Rating hatten, gehen nun in einem synthetischen Asset auf, welches ebenfalls dieses Rating hat. Durch Pooling und Tranching jedoch können auch AA, oder A-Papiere zu dem synthetischen Papier beitragen, wodurch sich eben doch der Gesamtumfang von AAA-Papieren (wenn auch nicht dramatisch) erhöht. Auch verstehe ich die Logik nicht ganz, weshalb dieses Argument gegen ESBies spricht.

Schließlich bemängeln die Autoren, dass ein synthetisches Konstrukt komplexer, intransparenter, und daher risikoreicher sei. Man sei auf das Risikomanagement des Emittenten angewiesen. Wir sprechen hier von Staatsschuldverschreibungen und klaren transparenten Regeln nach dem ESBies Handbook, das alles möglicherweise überwacht und zertifiziert durch öffentliche Institutionen. Die Zielgruppe der Abnehmer sind Banken des Euroraums sowie (Geldmarkt-) Fonds, nicht so sehr Oma Paschulke, oder Zeitungsleser, bei denen sich beim Wort „synthetisches Derivat“ schon Verwirrung einstellt. Die Autoren meinen, dass deshalb wohl eine regulatorische Privilegierung notwendig sei, diese jedoch „nicht gewollt sein kann“. Da liegt wohl ein Missverständnis vor, denn genau das ist durchaus gewollt. Wenn ESBies als Standard-Asset in Bankbilanzen verwendet wird, z.B. weil diese als Sicherheit für Offenmarktgeschäfte gefordert sind, oder weil diese, wie bisher schon AAA-geratete Staatsanleihen, keine Eigenkapitalanforderung benötigen, dann wird z.B. der „Diabolic Loop“ durchbrochen, wie Brunnermeier et al. argumentieren, und dann ergeben sich auch die potenziellen Vorteile, die ich weiter oben beschrieben habe. Ich sehe nicht, weshalb man die Vorteile der Finanzintermediation einfach ungenutzt lassen sollte.

Als Alternative und letztlich besseren Weg zur Stabilität im Euroraum schlagen die Autoren zwei Banalitäten vor: (i) die adäquate Risikobepreisung auch von Staatsanleihen mit entsprechenden Eigenkapitalanforderungen in Bankbilanzen. Das ist natürlich ein sehr guter Vorschlag und wird von Ökonomen schon lange eingefordert. Er spricht aber nicht gegen ESBies, die eben genau aufgrund eines solchen Schritts attraktiver werden würden, zumindest bei Banken, die bislang nur B-Staatsanleihen in ihrer Bilanz halten. (ii)  Die Staaten sollten für solide Staatsfinanzen sorgen. Ach du meine Güte, ja wer soll denn da etwas dagegen haben. Die ESBies sind ja nun wahrlich kein Instrument, das als Alternative zu soliden Staatsfinanzen gedacht ist. Wer unsolide wirtschaftet, dessen emittierte Anleihen werden in stetig sinkendem Maß im ESBie-Portfolio berücksichtigt, so dass Staaten gerade einen Anreiz zu soliden Staatsfinanzen haben sollten. Diese Vorschläge der Autoren werden bei FAZ-Lesern reflexhaften Beifall hervorrufen. Aber es ist ungefähr so, als würden Herzchirurgen über die Vorteilhaftigkeit einer neuen Generation von Herzkathedern diskutieren, und einer lehnt diese pauschal ab, weil es doch viel besser sei, wenn potenzielle Patienten vorher mehr Sport treiben würden.

„Läuft nicht!“ – Eindrücke von der Demo am 3.10.15 in Jena

Wieder einmal haben rechtsextreme Gruppen einen Aufmarsch in Jena angemeldet, und wieder einmal hat ein Aktionsbündnis eine Gegendemonstration organisiert, die die Marschroute der Rechtsextremen blockieren sollte. Eine sehr gute Sache, für eine offene, demokratische, tolerante Gesellschaft einzutreten, die sich auch Flüchtlingen gegenüber offen und freundlich zeigt. Stadtrat und Universitätsleitung unterstützten die Gegendemonstrationen.

Und so stand ich einer Gruppe, die mit Transparent und VW-Bus den Zugang von der Grietgasse zum Holzmarkt blockierten. Begrenzt wurde die Blockade von einer engen Reihe Polizisten, die ein Vordringen auf die Grietgasse – einem Teil der Marschroute der Rechtsextremen – verhinderten. Der Paradiesbahnhof, auf dem ein Großteil der Nazis und Sympathisanten ankommen sollten, war ebenfalls mit Gegendemonstranten besetzt, wir hatten sie von unserer Position aus im Blick. Wie es der Zufall wollte, stand ich plötzlich ganz vorne und hielt das breite Transparent, das für eine offene Gesellschaft und gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus warb und mit Art. 1 GG in bunten Lettern versehen war. Etwas seltsam die Stimmung, Auge in Auge mit der Kette hochgerüsteter Polizisten zu stehen, die hier ihre Aufgabe der Durchsetzung des Rechts und der öffentlichen Sicherheit wahrnehmen, und also ein notwendiger Bestandteil eben jener Gesellschaftsordnung sind, für die ich mit meinem Demonstrationsanliegen eintrete. Gleichwohl ist die Stimmung und Meinung einiger Gegendemonstranten, dass die Polizei hier vorrangig die Nazis schütze und ihnen den Weg frei machen wollen, mithin also Ausdruck eines „repressiven Systems“ seien. Ich hingegen sehe Polizisten als „natürlichen Verbündeten“ im Kampf für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und möchte sie ohne Provokationen ihren Job machen lassen. Unter der Schutzweste und dem Helm mit Visier könnte mein Nachbar stehen, der politisch ähnlich denkt wie ich.

So unangenehm die Wahrheit auch sein mag: auch Nazis haben Demonstrationsrecht. Sie haben die Demo angemeldet und so entsteht eine Rivalität nicht nur in der geäußerten Meinung, sondern auch physisch um den Platz auf der Straße. Das Demonstrationsrecht kann in einem liberalen Rechtsstaat nicht nach Gesinnung in Anspruch genommen oder verwehrt werden. Staatliche Organe, von der Genehmigungsbehörde bis zur Polizei, sollen nach dem Gesetz und nicht nach Gutdünken, politischer Korrektheit oder Gesinnung entscheiden. Das wäre ansonsten ein erheblicher Schritt in Richtung eines illiberalen und nach Willkür handelnden Staates, den ich gerade nicht will. Wenn man in diesen extremen Gruppierungen eine Gefahr für den Staat sieht, muss man eben ein kompliziertes, jedoch nach rechtsstaatlichen Prinzipien organisiertes transparentes Verbotsverfahren anstrengen, was aber nur die ultima ratio sein sollte. Ansonsten muss ein Rechtsstaat darauf setzen, dass seine Bürger für den Erhalt ihrer Werte und Rechte gegen extreme Kräfte auf die Straße gehen.

Natürlich geschehen Fehler, wo auch immer Menschen am Werk sind, vor allem wenn großer Stress vorhanden ist. So kann man sicherlich den Einsatz von Hunden, Reizgas und Wasserwerfern bei der Räumung der Blockaden am Paradiesbahnhof als unverhältnismäßig kritisieren. Aber es ändert nichts an dem Prinzip, dass staatliche Gewalt nach Regeln ausgeübt wird und eben nicht willkürlich. Daher sehen hier viele Flüchtlinge in Deutschland geradezu paradiesische Zustände, da Polizisten im Alltag nicht einfach willkürlich Leute zusammenschlagen, um ihre Macht zu demonstrieren, willkürlich inhaftieren, oder gegen Bezahlung wegzuschauen.

Die Musik aus den Lautsprechern des VW-Busses wechselt und wirkt auf mich ziemlich aggressiv und aufpeitschend. Ich frage mich, ob das wirklich nötig und zielführend ist, wenn man Polizisten und später dann auch Nazis gegenübersteht. Wollen wir denn nicht gerade ein friedliches, freundliches, weltoffenes Deutschland verteidigen? Ich stelle mir vor – was natürlich utopisch ist – den dumpfen menschenfeindlichen Parolen grölenden Nazis über Lautsprecher Bachs Matthäus-Passion gegenüber zu stellen. Oder den Schlusssatz von Beethoven 9. Sinfonie, in der der Chor „Alle Menschen werden Brüder…“ singt – irgendetwas, das Positives, Menschliches ausdrückt. Stattdessen legen die Organisatoren nun „Macht kaputt was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben auf und andere aggressive, angeblich system- und kapitalismuskritische Songs, in denen durchaus auch mal das Wort „Bullenschweine“ vorkommt. Ich halte das Plakat mit Art. 1 GG fest und schaue bedauernd in die Gesichter der Polizisten. Das hier ist nicht meine Musik und nicht meine Botschaft, die davon ausgeht, denke ich. Es ist mir irgendwie peinlich.

Neben mir ein nettes Mädchen, das ein Plakat hoch hält, auf dem etwas von „Nazischweinen“ steht. Ich schaue auf die Banderole, die ich mit festhalte, auf der Art. 1 GG abgedruckt ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das schließt auch die Würde derjenigen an, die rechtsextrem denken, bei Pegida mitmarschieren und unerträgliche Parolen grölen. Das alles ist abstoßend und verwerflich, aber ich kann und darf ihnen nicht die Würde absprechen. Die widerliche Gesinnung berechtigt mich nicht zu Beleidigungen. Der Nazi ist von Art. 1 GG nicht ausgenommen und vor dem Gesetz mir völlig gleichgestellt, mit Anspruch auf Anhörung und Verteidigung. Auch das unterscheidet uns vom Totalitarismus. Haben nicht vor allem die Nationalsozialisten die Methode „kultiviert“, Juden, Homosexuelle, Andersdenkende zu ent-individualisieren, sie nur noch als Masse zu betrachten und dann schließlich mit Ungeziefer, Parasiten, Ratten zu vergleichen, also auf eine niedrigere Stufe als den Menschen zu stellen? Und dann soll es eine gute Idee sein, Rechtsextreme und Pegida-Anhänger als „Nazischweine“ zu bezeichnen (bei so manchem in einem Atemzug mit „Bullenschweinen“)? Vor einigen Monaten, als es schon einmal einen Naziaufmarsch und entsprechende Gegendemonstrationen gab, wurde für letztere mit dem Slogan „Nazis jagen!“ geworben. Sicherlich eine Rhetorik aus dem Schwarzen Block der Linksautonomen. Wieso, um alles in der Welt, glaubt man, die Werte von Frieden, Freiheit, Demokratie und Toleranz mit Begrifflichkeiten und einem Aggressionspotenzial verteidigen zu können, welches dem Repertoire eben jener Nazis entlehnt ist, die man damit bekämpfen will? Als die Rechtsextremen dann die Grietgasse entlangziehen, wird natürlich „Nazischweine“ gebrüllt und der Mittelfinger hochgehalten (womit man – vielleicht erwünschter Nebeneffekt? – gleichzeitig auch den zwischen uns stehenden Polizisten den Stinkefinger zeigt). Das ist also der angemessene Gestus, mit dem wir ihnen unsere Werte entgegenstellen?

Schließlich wurden an dem Tag noch ein Polizeiauto demoliert und ein au der Verankerung gerissenes Straßenverkehrsschild auf eine Gruppe Polizisten geschleudert (es kommt selten vor, dass ich so etwas mit eigenen Augen sehe und nicht nur im Fernsehen). Zum Glück rufen besonnene Demonstranten „Keine Gewalt!“ und man distanziert sich von den vermummten „Autonomen“. Man kann sich allerdings fragen, weshalb solche „Autonome“, die nun nicht gerade im Sinn haben, den real existierenden demokratischen Rechtsstaat und Toleranz zu verteidigen, sich bemüßigt fühlt, an einer Anti-Nazi-Demo teilzunehmen, bei der unsere Werte denen der rechtsextremen Ideologie entgegengehalten werden. Ob da nicht auch die Rhetorik und Unreflektiertheit so mancher „Läuft Nicht!“-DemonstrantInnen dazu beiträgt? Am Ende des Tages hatte ich nicht das ungetrübte Gefühl, für meine Werte und meine Vorstellung von Gesellschaft gegen rechtsextreme Ideologie eingetreten zu sein, es war mir auch ein wenig peinlich.

Einen erfreulichen Akzent gab es dann doch noch: Das Theaterhaus spielte in einer Schleife den Soundtrack aus Charlie Chaplins „Der große Diktator“, wo Führer Hinkel seine große Rede hält – ein glänzender ironischer Einfall! Schade nur, dass das nicht aus Lautsprechern direkt am Versammlungsort der Nazis deren Reden übertönte.

Plagiate und ihre Konsequenzen – Augenmaß ist gefragt

Zum Beitrag von Theodor Ebert in der F.A.Z. vom 19.04.2015, einer recht positiven Besprechung der Publikation „False Feathers“ von D. Weber-Wulff (2014), welche für ein hartes Vorgehen von Universitäten, einschließlich ihrer Bibliotheken, gegen Plagiate plädiert.

In der öffentlichen Debatte wird Plagiat meist mit „Abschreiben“ oder „Abkupfern“ identifiziert, bei dem ein Autor das „geistige Eigentum“ eines anderen „stiehlt“ und somit die wissenschaftliche Öffentlichkeit und Prüfungsgremien betrügt. Es ist ohne Frage verwerflich, wenn jemand geistige Leistungen eines anderen als seine eigenen ausgibt und sich dadurch Vorteile verschafft, und dies muss auch ernste Konsequenzen für den Betreffenden haben. Ein „Copy and Paste“ von Textstellen, die mit ein paar ein- und überleitenden Sätzen versehen, zu einem „eigenen“ Text zusammengesetzt werden, und den Leser über die entnommenen Gedanken und Formulierungen im Unklaren zu lassen, ist ein Vergehen. Da besteht breiter Konsens, dem auch ich zustimme. Die Praxis der Plagiatsjägerei ist aber viel komplizierter. Das plakative Sprechen von „Betrug“ und „Diebstahl geistigen Eigentums“ übersieht dabei Probleme, dass die Berücksichtigung von Fachkontext und Rezeptionspraxis sich nicht so einfach auf mehr oder wenige algorithmische Regeln semantischer Textanalyse herunterbrechen lassen.

Es wird komplizierter, wenn man in die Details geht: simples Abschreiben oder auch Formulierungen sehr nahe am Originaltext, jedoch ohne Quellenangabe, kommt zwar vor, aber eher selten. Das wäre ein klares Plagiat. Schwieriger wird es, wenn ähnliche Formulierungen verwendet werden, der Originaltext durchaus z.B. mit „(vgl. Ginkelhuber (2001), S.145)“ zitiert wird, jedoch nicht bei jedem Satz oder Absatz. In prominenten Plagiatsfälle wie z.B. bei Annette Schavan, wurden Plagiats-Beispiele in der Öffentlichkeit vorgeführt, bei denen mir im Prinzip klar war, dass Frau Schavan hier die Position eines bestimmten Autors oder dessen Rezeption in der Literatur referiert, die relevanten Quellen auch nennt, aber eben nicht bei jeder einzelnen Formulierung oder kurzem Absatz erneut auf die Quellen verweist, an deren Formulierungen sie (allzu) nahe dran liegt. Das ist handwerklich nicht sauber, aber man kommt als Leser kaum auf die Idee, dass Frau Schavan hier betrügerisch fremde Ideen als ihre eigenen verkaufen will – zumindest dann nicht, wenn man den Text als fachlich vorgebildeter Rezipient liest (und das ist bei mir noch nicht einmal der Fall, ich habe lediglich Erfahrung in der Rezeption sozialwissenschaftlicher Texte, bin aber kein Experte in Sozialphilosophie).

Und damit komme ich zu dem Punkt, dass die Plagiatsjägerei oft nichts mit dem Rezeptionskontext des Werkes zu tun hat, der jedoch bei der Beurteilung, ob es sich um eigenständige Erkenntnisbeiträge im Diskurs handelt, sehr wichtig ist. Was ist mit Erkenntnissen, die „Allgemeingut“ geworden sind? Muss man bei der Anwendung des Satzes von Pythagoras die altgriechische Originalquelle (möglicherweise hat Pythagoras diese Erkenntnis selbst aus babylonischen Quellen plagiiert, für seinen Beweis gibt es keine Quelle von ihm selbst) oder zumindest eine zugängliche Sekundärquelle auftun („Pythagoras, zit. nach Ginkelhuber (2001), S.145“)? Das Beispiel mag lächerlich sein, aber in vielen Fachdisziplinen wird Standardwissen sehr oft selbstverständlich benutzt, und es wird z.B. in der VWL als legitim erachtet, das IS-LM-Modell zu verwenden, ohne stets auf die Arbeiten von Hicks ud Hansen aus den 1950er Jahren zu veweisen, sobald die einschlägige Grafik erscheint, oder die Effizienzmarkt-Hypothese, ohne zum x-ten Mal Fama, Black und Scholes zu zitieren. Auch bei Formulierungen wie „In der Neoklassik ging man von individueller Nutzenmaximierung aus.“ ohne jede Textreferenz wird etwas behauptet, was zwar nicht im Einzelnen belegt wird (da es als Standard-Fachwissen vorausgesetzt wird), aber es beansprucht aus Sicht des halbwegs fachkundigen Lesers auch keine geistige Urheberschaft. Jeder weiß das, aber dummerweise wurde es bereits von Ginkelhuber (1951) schon einmal genau so formuliert, und somit ist es ein Plagiat. Hier wird es schwierig, wenn Plagiatsjäger ohne fachliche Expertise Textanalyse betreiben – und davon gibt es viele. Der fachkundige Leser wird häufig keine unangemessene Übernahme fremder Ideen oder ein Vortäuschen geistiger Eigenleistungen bemerken, weil ihm aus dem Kontext völlig klar ist, welche Textteile sich auf Bekanntes beziehen, und worin die Neuerung liegt, welchen Beitrag der Autor eigentlich zum Diskurs liefern will. Der rein formal-textanalytisch arbeitende Plagiatsjäger (bzw. Plagiats-Software) wird dagegen schon Alarm schlagen.

Noch schwieriger wird die Frage bei den Konsequenzen von Plagiaten, sprich bei der Aberkennung von Examensleistungen und Doktortiteln. Bei Examensleistungen sehen die meisten, wenn nicht alle Prüfungsordnungen Sanktionen vor, bei nicht entdeckten Plagiaten gibt es eine Verjährungsfrist. Bei Dissertationen und wissenschaftlichen Publikationen wird dies von vielen Plagiatsjägern anders beurteilt: Da Dissertationen und andere Publikationen einen Beitrag zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt leisten (sollen), und die Ergebnisse von anderen zitiert werden, sollten Plagiate nicht nur ggf. den Entzug des Titels nach sich ziehen, sondern auch die Dissertationen aus Bibliotheken usw. entfernt werden, so Frau Weber-Wulff (zit. nach Ebert, FAZ vom 19.4.15). Nun ist Letzteres bei plagiierenden Publikationen in Fachzeitschriften nicht ohne weiteres möglich. Man müsste Plagiate auf eine Art Index setzen und bevor ein Wissenschaftler irgendeine Quelle liest, geschweige denn diese zitiert, müsste ein Abgleich mit diesem Index erfolgen. Genau genommen müsste er auch überprüfen, ob die Aussage, die er zitieren möchte, überhaupt je Gegenstand des Plagiatsverfahrens war. Der dramatische Anstieg von Transaktionskosten würde Forschung drastisch behindern.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wenn z.B. eine Dissertation erhebliche Plagiatsbefunde aufweist, bedeutet das noch lange nicht, dass nicht trotzdem auch ein erheblicher eigenständiger Erkenntnisfortschritt an anderer Stelle des Werkes geleistet wurde. Wer z.B. den Literaturstand schlampig referiert hat, d.h. textlich zu nah am Original war und oft schlecht zitiert hat, die Plagiatserkennungssoftware also völlig zu Recht Alarm schlägt, dann aber auf zwei Seiten ein bahnbrechendes Theorem aufgestellt und bewiesen hat, dessen Arbeit gilt dann als „zu 90% plagiiert“. Den eigenständigen wissenschaftlichen Erkenntniswert zu erkennen dürfte rein text-analytisch arbeitenden Plagiatsjägern schwer fallen. Dazu fehlt ihnen die Expertise und die fachliche Rezeptionspraxis: bei welchen Gedanken darf man beim Fachpublikum als allgemein bekannt voraussetzen, dass dies nicht originelle Eigenleistung des Verfassers, sondern allgemeiner Kenntnisstand der Disziplin ist? Was ist wirklich neuartig und ein Erkenntnisfortschritt? Es würde Plagiatsjäger auch zu unangenehmen Güterabwägungen zwingen – eine normativ sehr viel heiklere Angelegenheit als das Aufdecken von Copy-and-Paste-Fällen. Generell kommen Güterabwägungen in einer Debatte sehr kurz, welche durch scheinbar glasklare Gegensatzpaare geprägt ist: richtig – falsch, ehrlich – betrügerisch, eigenständig – gestohlen, verdienter Doktortitel – Rübe ab!

Ich will gar nicht für oder gegen etwas plädieren, was in solchen Fällen angemessen sei. Ich will nur zu bedenken geben, dass eine Gleichstellung des eben beschriebenen Falls etwa mit reinen Copy-and-Paste-Arbeiten – und die Medienöffentlichkeit wird mit ihren „Schande!“-Rufen keinerlei Differenzierung vornehmen, und in den sog. „sozialen“ Medien wird die berufliche und persönliche totale Demontage oft schon abgeschlossen sein, bevor der/die Betreffende davon erfährt, dass gegen seine/ihre Arbeit ermittelt wird – nicht nur unfair ist, sondern vor allem auch nicht den Zweck erfüllt, zwischen wissenschaftlichen Fortschritt und blankem „Abkupfern“ zu differenzieren, denn: so einfach ist es eben nicht. Die manchmal kritisierte Behäbigkeit, mit der Universitäten bei Plagiatsfällen vorgehen, kann man so gesehen auch als vorsichtiges und umsichtiges Agieren verstehen.

Natürlich soll jeder Wissenschaftler den wissenschaftlichen Ethos, vor allem den Respekt gegenüber geistigen Leistungen anderer ebenso verinnerlichen wie die Praxis des korrekten Zitierens. Aber für einen produktiven wissenschaftlichen Diskurs halte ich Beiträge mit originellen Ideen, selbst wenn Formulierung und Zitation kritisch sind, für viel wichtiger als plagiatsfreie Texte mit lupenreiner Zitation, die zum Literatur-Tsunami wissenschaftlicher Bedeutungsarmut beitragen, der durch die Fehlanreize des Wissenschaftsbetriebs ausgelöst wurde. Mit einem „Wer betrügt, der fliegt“ ist jedenfalls ein vernünftig begründbares Wissenschaftsethos nicht hinreichend beschrieben, um es mal milde auszudrücken. Unter einem wissenschaftlichen Diskurs stelle ich mir kein ewiges Gerichtsverfahren vor, in welchem man einen Gedanken am besten von seinem Rechtsanwalt vortragen lässt. Ich möchte schon gerne Betrüger, Poser, akademische Titelgrapscher loswerden, aber nicht originelle, kreative, exzellente Personen, die sich in ihrer Puzzlearbeit leider weniger um Zitationsregeln scheren.