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Der Streit um die Bürgerversicherung

Das Thema ist schon deshalb interessant, weil viele ökonomische Aspekte und Interessen eine Rolle spielen. Beide Märkte, der Versicherungs- und der Gesundheitsmarkt, sind voller interessanter ökonomischer Besonderheiten, die Sorgfalt und Vorsicht bei der kritischen Analyse erfordern. Umso ärgerlicher ist die Tatsache, wie häufig die Kontroverse auf der Basis ideologischer Behauptungen ausgetragen wird. Vor allem die Kritiker einer Bürgerversicherung stellen deren Befürworter fast immer unter einen Ideologieverdacht.

Aus diesem Anlass nehme ich mir den Artikel “Nur Verlierer durch die Bürgerversicherung” von Andreas Mihm in der F.A.Z. vom 10.1.2018 vor, und gehe chronologisch durch den Text. Im Anschluss daran befasse ich mich mit dem Artikel “Von Bismarck bis heute: Die verflixte Bürgerversicherung” von Werner Abelshauser in der F.A.Z. vom 8.2.2018. Beide Artikel stammen von klaren Kritikern der Bürgerversicherung bzw. Befürwortern des bestehenden dualen Systems aus PKV und GKV.

Zunächst zu Andreas Mihm: Wie üblich für jeden kritischen Artikel verweist der Autor gleich zu Beginn auf die negativen Erfahrungen einer Einheitsversicherung in Großbritannien, wo es zu starken Rationierungen kommt, und rückt dieses “staatliche Einheitssystem”, welches “offenkundig versagt” habe, rhetorisch sofort in die Nähe des “Sozialismus”, der bekanntlich ja “zusammengebrochen” sei, und der nur noch von “Ideologen” (sprich: SPD und Grüne) propagiert werde. Denn eigentlich, so suggeriert der Text, ist das Ergebnis für jeden denkenden Menschen klipp und klar: die Bürgerversicherung erzeugt “nur Verlierer”. Es ist schon erstaunlich: Wenn jemand einen Vorschlag macht, wie man ein soziales Sicherungssystem anders organisieren könnte, und man aber der Meinung ist, dass viele sachlich-ökonomische Argumente gegen diesen Vorschlag sprechen, weshalb ist es dann nötig, die Gegenposition gleich als erstes unter Ideologie- und Sozialismusverdacht zu stellen? Der abwertende Schreibstil unter Verwendung vieler Reizworte, die beim klassischen FAZ-Leser Beißreflexe erzeugen (sollen), und die unerschütterliche Selbstgewissheit des Autors auf der richtigen Seite zu stehen, nähren gewisse Zweifel, wer denn hier eher zu ideologischen Argumentationen neigt. Ganz nebenbei bemerkt: Werden die schlimmen Rationierung in Großbritannien durch das dortiges Versicherungssystem verursacht, oder liegt es möglicherweise schlicht an einer Unterversorgung mit Ärzten, die wiederum schlicht an einer chronischen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems liegt?

Nun gut, nächster Absatz. Dort steht ein interessanter Relativsatz: “Der privaten Krankenvollversicherung, die die Sozialdemokraten so dringend abschaffen wollen, …. “ Es geht den Sozialdemokraten also angeblich um ihre ideologische Feindschaft gegenüber einem privaten Markt. Jedoch: Wo sieht das Konstrukt einer Bürgerversicherung die “Abschaffung” der privaten Krankenvollversicherung vor? Wenn ich die Aussagen z.B. von Herrn Lauterbach lese (Interview Tagesspiegel vom 24.7.2017), dass PKV-Versicherte durchaus in der PKV bleiben können, aber dann eben auch deren finanziellen Risiken möglicher drastischer Beitragserhöhungen tragen müssten, dann erscheint dieser Relativsatz schon hart an der Grenze zur Unwahrheit. Gewiss, das Geschäft mit privaten Vollversicherung wird als Reaktion auf eine solche Reform stark zurückgehen, aber das ist nicht das Reformziel.

Der nächste Absatz widmet sich dem Aspekt, dass die Bürgerversicherung “als Gerechtigkeitsprojekt verkauft” werde, aber schon bei der ursprünglich angedachten Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Finanzierung so starke Abstriche gemacht wurden, dass der Autor resümiert: “`Gerechter’, wie behauptet, weil sie stärker auf alle Einnahmen und nicht nur auf jene aus Arbeit abstellt, wird die Finanzierung der Kassen durch die SPD-Pläne also nicht.” Hier ist also das Argument gegen die Bürgerversicherung, dass das Konzept nicht mehr so radikal ist wie ursprünglich gedacht? Habe ich das richtig verstanden? Und der Autor teilt offenbar sogar die Vorstellung, dass es gerechter wäre, alle Einkommensarten hinzuzuziehen – wie etwa bei einem steuerfinanzierten Gesundheitssystem wie in Schweden oder Kanada? Oder in dem zuvor kritisierten Großbritannien? Steht das nicht etwa unter Sozialismusverdacht? Nebenbei bemerkt will nicht eine überschaubare Gruppe linker Ideologen es als “Gerechtigkeitsprojekt verkaufen”, sondern eine sehr große Mehrheit der Bürger empfindet es (a) als gerecht, wenn alle Bürger gleichen Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen haben, (b) diese nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip bezahlt werden, und (c) sie empfinden die Abrechnung höherer Preise für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten und die u.a. (aber nicht nur) dadurch bedingte bevorzugte Terminvergabe nicht als gerecht. Vielleicht sollte man daran erinnern, dass in einer liberalen Gesellschaft die allgemeinen Spielregeln die Gerechtigkeitsvorstellungen der großen Mehrheit der Bürger widerspiegeln (sollten).

Eine weitere “Gerechtigkeitsbaustelle” sieht der Autor bei dem Problem, dass Privatpatienten eher einen Arzttermin bekommen. Da dies empirisch nicht von der Hand zu weisen ist, bestreitet der Autor das auch nicht. Jedoch: “Die Einheitsversicherung oder auch nur die einheitliche Bezahlung der Ärzte änderte daran aber wenig. Wie lange würde es wohl dauern, bis Zusatzversicherungen auf den Markt kämen, die den Wohlhabenden erlaubten, ihren Arzttermin bevorzugt zu buchen?” Ich lese das so, dass zwar im Prinzip die einheitliche Bezahlung die Ungleichbehandlung durchaus abstellen würde, aber als Ausweichreaktion man sich durch Zusatzversicherungen dann eben doch eine bevorzugte Behandlung erkaufen kann, womit die Zwei-Klassen-Medizin wieder hergestellt sei. Ich überlege mir, was dies denn für eine Zusatzversicherung sein könnte: Ich schließe mit einem Privatversicherer einen Vertrag, für den ich Prämien zahle, und der mir im Fall, dass ich einen Arzttermin benötige, was genau garantiert? Dass ich einen früheren Termin bekomme? Wie das? Was soll den Arzt denn bewegen, mir einen früheren Termin zu geben? Etwa Zusatzzahlungen von mir oder der Versicherung? Wäre das nicht ein klarer Fall von Korruption bzw. Vorteilsnahme? Vielleicht könnte der Autor hier in der Analyse der Anreizwirkungen etwas ins Detail gehen statt auf die Suggestivwirkung des Arguments zu setzen, dass der Markt schon für neue Produkte als Ausweichreaktion sorgen werde. Ich biete hier mal dem Autor etwas Schützenhilfe: vielleicht eine Versicherung von Zusatzleistungen über das notwendige Maß hinaus, die der Arzt zusätzlich abrechnen kann und deshalb auch gleich einen bevorzugten Termin vergibt? Wie groß mag der Anreiz dafür wohl sein, wenn dadurch allen Beteiligten (Patient, Arzt, Versicherung) bewusst wäre, dass es hier um medizinisch eher kaum indizierte Zusatzleistungen geht? Auch müsste der Arzt stets genau wissen, welcher Patient über welche Art von privater Zusatzversicherung verfügt. Wenn der Patient mit dem gebrochenen Bein eine Zusatzversicherung für Fertilitätsuntersuchungen auf den Tisch legt, wird das den Arzt wohl kaum bewegen ihn bevorzugt zu behandeln. Während PKV-Lobbyisten in der Bürgerversicherung einen “Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin” sehen – wegen besagter Ausweichreaktionen – halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass sich ein “Markt für Vorzugsbehandlung” in nennenswertem Umfang herausbildet, der das Problem der Terminvergabe verschärft. Zusatzversicherungen für Zusatzangebote wird es selbstverständlich noch geben, und niemand will das einschränken. Aber das wird deutlich seltener die Terminvergabepraxis beeinflussen. Vielleicht darf man daran erinnern, dass es bereits jetzt einen Markt für bevorzugte Behandlung geben müsste, auf dem GKV-Patienten Zusatzleistungen nachfragen, die sich PKV-Patienten gleichstellen.

Interessanterweise kommt dem Autor nicht ein zweiter, wahrscheinlich sogar wichtigerer Grund für die bevorzugte Terminvergabe in den Sinn: die Budgetierung in der GKV. Ist das Budget ausgeschöpft, kann der Arzt bis Monatsende keine Leistungen an GKV-Patienten abrechnen. Es ist lukrativer, bis dahin nur noch Privatpatienten (sowie dringende Fälle) zu nehmen, und die Termine der GKV-Patienten auf später zu verschieben, wenn das neue Budget freigegeben ist. Man kann dem Arzt dieses Verhalten nicht verübeln, denn wer möchte schon seine hochqualifizierte Arbeitskraft nur für “Gotteslohn” zur Verfügung stellen? Hier sollte man nicht mit moralischen Ansprüchen an den Arzt argumentieren, sondern ihn einfach fair bezahlen. Im Übrigen ist die Budgetierung auch bei den Befürwortern einer Bürgerversicherung ein meist übersehener Punkt. Ohne eine Reform dieses aus Kostendämpfungsgründen eingeführte Konstrukt wird auch eine Bürgerversicherung die Ungleichbehandlung von Patienten nicht überwinden können. Hier besteht beim genauen Design der Anreizstrukturen innerhalb einer Bürgerversicherung noch großer Diskussions- und Entwicklungsbedarf.

Der nächste Absatz des Kommentars von Herrn Mihm hat viel zu bieten: “Nichts hilft auch das paternalistische Argument vom schutzbedürftigen Privatpatienten, der vor dem diagnostischen Übereifer geldgieriger Ärzte zu bewahren sei.” Im VWL-Studium lernt man bereits im ersten Semester etwas über Dysfunktionalitäten des Marktes bei Vorliegen asymmetrischer Information – ein spannendes, mit Nobel(gedächtnis)preisen ausgezeichnetes Gebiet. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist ein Lehrbuchfall für solche asymmetrischen Informationen, denn der Patient kann weder beurteilen, welche Therapien und Medikamente er benötigt (also nachfragen muss), noch deren Preis-Leistungs-Verhältnis. Die aufgeklärte neoklassische Standardökonomik sieht hier klar einen Regulierungsbedarf. Mit “Paternalismus”, den der Autor hier unterstellt, hat das rein gar nichts zu tun. Die Standardökonomik unterstellt zudem rationales Verhalten, nicht “Geldgier”. Wenn wir Ökonomik betreiben, sollte man solche moralischen Zuschreibungen unterlassen.

Und weiter: “Ob dem Patienten die quasi-staatlichen Therapievorgaben eines weitab tagenden Bundesausschusses lieber sind als seine Autonomie gegenüber einem Behandler, dem er vertraut?” Der Leistungskatalog wird von Fachgremien erarbeitet, das Ziel ist eine deutliche Reduktion der Informationsasymmetrie. Die Diagnostik ist allein Sache des Arztes, dem ich vertraue, und er wird je nach Indikation Therapie und Medikamente verordnen, die einen gewissen Rahmen nicht übersteigen, also bei einem Schnupfen kein MRT verschreiben. Wenn der Autor, Herr Mihm, nicht beurteilen kann, ob der Gebrauchtwagen, den er vielleicht kaufen möchte, fahrtüchtig ist oder nicht, kann er sich bei Vorliegen einer TÜV-Plakette darauf verlassen, dass gewisse Standards eingehalten wurden. Ich glaube nicht, dass er den TÜV als paternalistischen Eingriff in seine vertrauensvolle Beziehung zu seiner Autowerkstatt oder seinem Autohändler versteht. Oder doch? Das Argument von Herrn Mihm spricht genau genommen nicht nur gegen die Bürgerversicherung, sondern generell auch gegen die GKV. Konsequenterweise müsste er für eine Totalprivatisierung des Gesundheitssystems plädieren. Ich schätze aber, dass Herrn Mihm, falls er denn überhaupt GKV-Patient ist, das Vertrauen in seinen Arzt dann wieder leichter fallen wird, wenn er private Zusatzversicherungen abschließt, die auch diejenigen (Luxus-) Leistungen abdeckt, die ihm der paternalistische Leistungskatalog vorenthält. Dies kann er jedoch gerne auch im Falle einer Bürgerversicherung tun! Das Sozialstaatsprinzip impliziert, dass jeder Bürger Zugang zu medizinisch notwendigen Maßnahmen haben sollte. Das dürfte ein extrem breiter Konsens sein. Was aber “notwendig” ist, dafür muss es nun mal allgemeine Spielregeln geben, ob der Autor diese nun als “paternalistisch” abtut oder nicht. Und darüber hinaus kann jeder anbieten und nachfragen, was er oder sie will.

Und der Autor beantwortet die oben zitierte rhetorische Frage selbst: “Wohl kaum. So befördert die Bürgerversicherung das mit Macht, was sie zu verhindern vorgibt: die Zwei-Klassen-Medizin.” Also wo genau hat er denn in seinem Text nun nachgewiesen, dass eine Bürgerversicherung die Zwei-Klassen-Medizin fördert? Alles, was darauf abzielt, dass man sich durch zusätzliche private Versicherungen zusätzliche Leistungen erkaufen kann, ist eine Banalität, die auch jetzt schon für GKV-Patienten möglich ist, und sollte nicht unter “Zwei-Klassen-Medizin” firmieren. Lediglich eine Ungleichbehandlungen im Rahmen des staatlich vorgegebenen Leistungskatalogs, der für alle Bürger denselben Zugang zu als notwendig erachteten Standardleistungen gewährleisten soll, kann als Zwei-Klassen-Medizin angesehen werden. Hier sehe ich aber keinerlei substanziellen Argumente im Text.

Und weiter: “Es bedarf keiner Glaskugel, um die Schockwellen zu erahnen, die der ernsthafte Versuch auslöste, das Versicherungssystem entsprechend umzukrempeln. Große Teile der Ärzteschaft wären verunsichert, viele würden protestieren – auch aus Sorge um die Einnahmen von den Privatpatienten. Die Stabilität des Gesundheitssystems geriete in Gefahr.” Ich nehme mal an, dass Mihm als liberaler Mensch kein Problem damit hat, wenn Märkte einem massiven Strukturwandel aufgrund neuer Technologien und Globalisierung ausgesetzt sind und sich neuen Herausforderungen stellen müssen. Und ich nehme auch an, dass er an anderen Stellen massiven Reformbedarf in der Politik sieht. Das Zitat allerdings klingt wie von jemandem, der strukturkonservativ und verzagt zu Hause auf dem Sofa sitzt, und den jede Veränderung ängstigt. Das raunende Heraufbeschwören “großer Gefahren” ist ziemlich traurig, weil es lediglich die Ressentiments des FAZ-Lesers bedient, und eine klare Analyse und empirische Argumente ersetzt. Herr Mihm wurde aber noch übertroffen von Herrn Silberbach vom Deutschen Beamtenbund, der durch die Bürgerversicherung die „Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens gefährdet” sieht – eine lachhafte Realsatire! Ich musste mich vergewissern, nicht etwa den “Postillon” zu lesen. Als noch vor einigen Jahren schwarz-gelbe Gesundheits-Reformprojekte wie Privatisierungen und die “Kopf-Pauschale” diskutiert wurden, hatte da Herr Mihm eigentlich auch von “Schockwellen”, “Verunsicherung” und Destabilisierung gewarnt? Ich weiß es nicht.

Die “Sorge der Ärzte um ihre Einnahmen” ist der einzige ernst zu nehmende Punkt in obigem Zitat. Diese Sorge bezieht sich auf den Umstand, dass derzeit Ärzte für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten einen höheren Abrechnungssatz ansetzen dürfen als bei GKV-Patienten. Sie kann sich wohl kaum auf Zusatzleistungen beziehen, die sowohl im jetzigen System als auch bei einer Bürgerversicherung (privat) abrechenbar sind. Ich bin weder der Meinung, dass Ärzte geldgierig seien, noch dass sie zu viel verdienen würden (in Teilen kann man sogar das Gegenteil behaupten). Sie erbringen eine sehr wichtige Dienstleistung, für die sie ordentlich bezahlt werden müssen. Daher müssten bei einem Übergang auf eine Bürgerversicherung selbstverständlich die Abrechnungssätze so angepasst werden, dass es nicht zu Einkommenseinbußen kommt. Mit einer Unterfinanzierung wie im gescholtenen britischen System wäre niemandem geholfen. Eine solche Anpassung ist im Konzept der Bürgerversicherung vorgesehen. Da es aber starke regionale Unterschiede im Anteil der PKV-Patienten gibt, wird es aber zwangsläufig Gewinner und Verlierer geben, auch wenn das Gesamteinkommen der Ärzte etwa gleich bleibt.

Weiter im Artikel: “Krankenkassen sorgen sich schon davor, dass bei einer Öffnung der Privatversicherung zuerst die `schlechten Risiken’ – teure Kunden mit beitragsfreien Kindern oder chronischen Erkrankungen – kämen und Löcher in die Kassen rissen.” Welche Krankenkassen? In der PKV wäre ein Kontrakt, der auf einkommens- statt auf risikoäquivalenten Prämien aufbaut, problematisch, das ist richtig. Im Idealfall sollte natürlich für den Pool der Versicherten die Summe der einkommensäquivalenten Prämien so hoch sein, dass sie dennoch äquivalent zum Risiko sind, also mindestens die erwarteten Ausgaben decken können. Wettbewerb zwischen den PKV würde dann aber zu einem “Rosinenpicken” führen, so dass alle schlechten Risiken bei der GKV und somit bei der Allgemeinheit landen würden. Um das zu verhindern, ist ein Kontrahierungszwang vorgesehen. Dann aber besteht das Problem, dass durch Zufall (nicht durch unternehmerisches Handeln) eine Krankenkasse strukturell schlechtere Risiken abbekommt als andere. Das alles ist in der versicherungstheoretischen Literatur ein uralter Hut. Innerhalb der verschiedenen, ebenfalls in einem Wettbewerb zueinander stehenden GKV wird dieses Problem durch einen Strukturausgleichsfond (ähnlich dem Länderfinanzausgleich) ansatzweise gelöst. Es ist also kein brandneues Thema, mit dem man sich nun urplötzlich mit der Bürgerversicherung konfrontiert sieht, sondern jahrzehntealter Lehrbuchstoff. Im übrigen ist auch bei risikoäquivalenten Prämien innerhalb konkurrierender PKV der Wettbewerb eingeschränkt: Aus Gründen der intertemporalen Glättung bilden PKV Rückstellungen, die ein Versicherter verlieren würde, wenn er zu einem Wettbewerber wechseln möchte. Das führt zu “Wechselkosten”, also einer inhärenten Wettbewerbsbeschränkung. Daher muss es auch hier einen regulatorischen Ausgleich geben, bei dem die Mitnahme dieser Rückstellungen ermöglicht wird. Man kann auf diesem komplexen Gebiet nicht so simpel mit “Staat versus Markt” argumentieren, sondern nur mit dem Vergleich unterschiedlicher Designs regulatorischer Maßnahmen.

Es ist zugegeben wahrscheinlich, dass private Kassen überwiegend Zusatzversicherungen anbieten werden bzw. Vollversicherungen nur für diejenigen, die die Wahlmöglichkeit haben, nicht in die Bürgerversicherung zu wechseln. Daher die möglicherweise berechtigte Sorge des Autors: “Schon warnt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor dem Verlust Tausender Arbeitsplätze in der Privatversicherung.” Interessant, dass sich marktliberale Ökonomen die Befürchtungen von Gewerkschaften zu eigen machen, wo doch sonst die Auffassung herrscht, dass Reformen und Strukturwandel nun mal eine Re-Allokation des Faktors Arbeit erfordern würden. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Wird mehr oder weniger dieselbe Leistung (hier: die Versicherung für die Gesundheitsversorgung nach dem gesetzlichen Leistungskatalog) mit weniger Faktorinput (sprich: weniger Arbeitsplätzen) erstellt, nennt der Ökonom das normalerweise “technischer Fortschritt” und “Effizienzgewinn”. Auch wenn ich nicht so weit gehen würde, so ist ein Aufschrei in der F.A.Z., dass Strukturwandel “Arbeitsplätze koste”, etwas kurios. Ich bin nicht sicher, ob Herr Mihm mit der gleichen Emphase den Wegfall tausender Arbeitsplätze im Kohlebergbau in NRW in den letzten Jahrzehnten, bei den Siemens-Werksschließungen in Görlitz, oder in ganzen Gewerben wie Postkutschen und Mundschenken beklagt. Ich nehme mal an, er wird argumentieren, dass die durch Strukturwandel unbeschäftigten Faktoren in andere, produktivere Verwendungsmöglichkeiten gelenkt werden, wofür flexible Märkte schon sorgen würden. Hier aber stehen Herr Mihm und PKV-Lobbyisten plötzlich hinter den Gewerkschaften und schwingen deren Fahne. Und noch kurioser: Wenn es tatsächlich stimmt, dss nicht etwa Arbeitsplätze in Richtung GKV verlagert, sondern netto abgebaut werden, obwohl es dann viel mehr “Einheitsversicherte” und kaum noch PKV-Vollversicherte gibt, heißt das denn nicht in der Konsequenz, dass die zentralistischen Versicherungsbürokratien des sozialistischen Wohlfahrtsstaates etwa unglaublich schlank und effizient aufgestellt sind, so dass sie mit kaum mehr Personal deutlich mehr Versicherte bedienen können? Ironie beiseite: mit dem Arbeitsplatzargument gegen Reformen und Strukturwandel zu argumentieren kaufe ich Herrn Mihm nicht ab.

Der Autor könnte mir sehr leicht widersprechen, indem er auf Studien verweist, die der GKV höhere (direkte und indirekt verursachte) Verwaltungskosten nachweist im Vergleich zur PKV. Das nämlich würde eine geringere Effizienz sprechen. Hier gibt es empirisch – je nach Berechnungsmethode – widersprüchliche Aussagen. Jedoch kommt dieser Aspekt nur ganz unspezifisch auf das Gesundheitssystem insgesamt bezogen im allerletzten Absatz zur Sprache, und auch dort nur in dem Kontext, dass es eigentlich viel drängendere Probleme zu lösen gäbe als die Einführung einer Bürgerversicherung. Gewiss! Aber die Existenz anderer Baustellen ist kein Hinderungsgrund, sich mit eben dieser Baustelle zu beschäftigen. Ich verstehe das als Ablenkungsrhetorik. Und so endet der Text, nicht ohne noch einmal das Reizwort der “Verstaatlichung” unterzubringen, um dem FAZ-Leser nochmal schön den Schaum aus dem Mund quellen zu lassen. Summiert man, was an substantiellen Argumenten und empirischer Evidenz vorgetragen wurde, und überlegt, wen das überzeugen könnte, so kann ich nur den letzten Satz des zweiten Absatzes von Herrn Mihm zitieren: “Die Antwort lautet: niemand.”

Am meisten hat mich dann gewundert, als ich nach einem Mausklick auf den Autor erfahren habe, dass dieser seinerzeit Volkswirtschaftslehre (sic!) studiert hat.

Zum Artikel von Herrn Abelshauser: Ähnlich wie bei Mihm spielt die Wortwahl und Rhetorik eine große Rolle. Jeder marktliberale und wettbewerbsbegeisterte Leser wird bei Nominalkomposita, die mit “Einheits-” beginnen, sofort Aversion entwickeln, so eben auch bei der “Einheitsversicherung”, die dem gesunden Mix des dualen Systems aus GKV und PKV gegenübergestellt wird. Zur Erinnerung: Zunächst geht darum, dass der Staat seine Bürger verpflichtet eine Versicherung abzuschließen, welche einheitliche (Mindest-) Leistungen abdeckt, egal von welcher Art von Versicherungsunternehmen diese stammt. Dahinter steckt der Wunsch, dass alle Bürger gleichen (d.h. einheitlichen) Zugang zu als notwendig erachteten Gesundheitsleistungen bekommen ohne Ansehen der Person. Wir haben auch ein “Einheits-Recht”, das gleichermaßen für alle gilt, und wir haben im Bildungsbereich gleiche Rechte (und Pflichten) zu Bildung, welche auf bundeslandweiten einheitlichen Standards beruht. Niemandem wird im Bildungs- oder Gesundheitsbereich verwehrt, sich weitere zusätzliche Leistungen hinzuzukaufen. Im Bereich des dualen Systems aus GKV und PKV wird die Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen jedoch allein dadurch in Frage gestellt, dass es für ein und dieselbe Leistung zwei unterschiedliche Preise für unterschiedliche Kundengruppen gibt: die Vergütungen bei PKV-Versicherten sind deutlich höher als bei GKV-Versicherten. Eine solche Form der Preisdiskriminierung wäre in der Marktwirtschaft nur möglich bei Vorliegen von Marktmacht, also einer massiven Einschränkung des gepriesenen Wettbewerbs. Sie ist also eher Symptom eines Defektes als ein Symptom funktionierenden Wettbewerbs. Die Einheitlichkeit des Preises für dasselbe Gut ist für gewöhnlich das Resultat funktionierenden Wettbewerbs

Ein weiterer Kniff in der Wortwahl ist die Gegenüberstellung des – positiv konnotierten – Sozialstaates, der sich ordnungsökonomisch den Wettbewerb zunutze macht, und der – negativ konnotierte – Wohlfahrtsstaat, in welchem allen Substantiven ein “Einheits-” vorangestellt wird, um Assoziationen zur DDR zu erwecken, ähnlich wie im oben diskutierten Artikel von Mihm. Jeder kann natürlich definieren, wo die feine semantische Linie zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat verläuft, jeoch halte ich das für uninteressant. Die Frage ist stets, welche Spielregeln der Staat (im Auftrag der Bürger) definiert, und wie diese sich auf Anbieter von medizinischen Leistungen und Anbieter von Versicherungsleistungen auswirken, und ob das gewünschte Resultat (siehe oben) auf möglichst effiziente Weise erzielt wird. Wenn die sozialpolitische Grundsatzentscheidung lautet, dass alle Bürger mit gleicher Indikation Zugang zu den gleichen Leistungen haben sollen, für die schon jetzt ein gesetzlicher Katalog definiert wurde (und darüber hinaus jeder medizinische Leistungen nachfragen kann wie er oder sie will), dann ist also gewollt, dass der Wettbewerb nicht vermittels der genannten Preisdiskriminierung funktioniert.

Auch bei einer Bürgerversicherung (oder im FAZ-Duktus: der Einheitsversicherung des sozialistischen Wohlfahrtsstaates) besteht Wettbewerb: Zunächst gibt es Wettbewerb zwischen den GKV, wenn auch die Spielräume wegen des gesetzlichen Leistungskataloges und des Kontrahierungszwangs eher begrenzt sind. Dieser Wettbewerb wird auch von Anhängern des dualen Systems nicht bestritten, und dieser würde auch in einem System der Bürgerversicherung weiter bestehen. Weiterhin gibt es Wettbewerb zwischen Ärzten oder Kliniken um möglichst lukrative Fälle – also nicht Fälle, in denen für dieselbe Leistung ein höherer Preis abkassiert werden kann, sondern Fälle, bei denen das Verhältnis von Vergütung und Kosten möglichst günstig ist bei gleichzeitig hoher Versorgungsqualität, weil ansonsten die Kunden einen anderen Arzt oder eine andere Klinik wählen. Dies sollte zu einem möglichst effizienten Ressourceneinsatz führen, also nicht zu möglichst geringem Ressourceneinsatz, da sonst die Versorgungsqualität leidet und man den Kunden verliert, aber auch nicht zu einer Überversorgung mit Ressourcen, bei der sich der Kunde zwar gut versorgt fühlt, die dafür aber die Gewinnmarge stark schmälert. Die Effekte eines solchen Qualitäts-Wettbewerbs sollten zum einen zur Herausbildung komparativer Vorteile, sprich Spezialisierung führen, zu einem besseren Informationsaustausch um Kosten von Doppeluntersuchungen zu vermeiden, sowie zu einem bedarfsgesteuerten regionalen Angebot. Derzeit konzentrieren sich die Anbieter dort, wo es die meisten PKV-Nachfrager gibt statt dort, wo es die entsprechende Menge an Indikationen gibt, auf die man selbst spezialisiert ist (z.B. Stadt-Land-Gefälle). Wenn also die Anhänger des dualen Systems den Wettbewerb preisen, den man mit einem sozialistischen Einheitssystem aushebeln würde, so zeigt das eher eine Ideologiegetriebenheit der Argumentation und unzureichendes Verständnis, was auf diesen Märkten derzeit stattfindet. Man verlässt sich auf die Phrase, dass “der Markt” doch irgendwie immer besser sei als “der Staat”. Eine ökonomische Analyse der komplexen dreiseitigen Beziehung zwischen Patient und Arzt, Arzt und Versicherer sowie Versicherer und Patient, welche sowohl durch starke Informationsasymmetrien gekennzeichnet sind, als auch durch Anforderungen, die durch das Sozialstaatsprinzip festgelegt sind, zeichnet ein differenzierteres Bild, wo welche Art von Wettbewerb möglich, nützlich, oder ggf. auch ungünstig ist. Im gegenwärtigen System besteht beispielsweise ein Anreiz zu einer Überversorgung von PKV-Patienten, weil der Arzt oder die Klinik es einfach abrechnen können. Der Versicherer hat weniger Instrumente zur Kostenkontrolle an der Hand und wird sich scheuen, einen Teil der als überhöht angesehenen Rechnung nicht zu begleichen aus Angst, den Kunden zu verlieren. Auf diese Weise kann der Arzt via Versicherung Extraktion von Konsumentenrente betreiben. Der Kunde wiederum kann nicht beurteilen ob diese Leistung notwendig war oder nicht, kann diesen Fehlanreiz also nicht durch sein Nachfrageverhalten beheben.

Und so bleiben am Ende des Artikels von Herrn Abelshauser zwar eine sehr informative Nacherzählung der Geschichte der GKV und PKV, aber am Ende auch die fast ausschließlich ideologiebasierte schlichte Behauptung, dass sich dieses System “bewährt” und deshalb erfolgreich stets gegen solche sozialistisch anmutende Radikalexperimente gestemmt habe. Substanzielle theoretische und empirische ökonomische Argumente sind Fehlanzeige.

Wer auch immer zum Thema Bürgerversicherung Interviews gibt und in den Medien Kommentare schreibt, sollte mal folgende fiktive Klausuraufgabe eines VWL-Studierenden im Fach “Finanzwissenschaft II” versuchen zu lösen: “Analysieren sie den Gesundheitsmarkt mit den Akteuren Patient, Arzt und Versicherung einschließlich der Informationsasymmetrien zwischen allen drei Akteursgruppen und die daraus folgenden Handlungsanreize. Gehen Sie weiterhin von der Restriktion aus, dass alle Patienten bei gleicher Indikation den Zugang zu dem gleichen Mindeststandard an Gesundheitsleistungen haben sollen. Die dafür zu zahlenden Prämien sollen einkommensäquivalent sein. Untersuchen Sie verschiedene Allokationsmechanismen hinsichtlich ihrer Effizienz, und leiten Sie entsprechende ordnungsökonomische und regulatorische Politikempfehlungen ab.”