Es ist kaum ernsthaft bestritten, dass die staatlich verordneten drastischen Beschränkungen richtig waren, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, damit keine Engpässe bei der intensivmedizinischen Versorgung entstehen und insbesondere ÄrztInnen nicht vor das Triage-Problem gestellt werden müssen. Auf der anderen Seite haben diese Maßnahmen, der „Lockdown“, zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten geführt: das Bruttoinlandsprodukt sinkt deutlich, die Arbeitslosigkeit steigt, es wird zu einer erheblichen Zahl von Pleiten kommen, Unternehmen und Staat werden anschließend hoch verschuldet sein.
Derzeit verläuft die Diskussion um eine mögliche Lockerung der Maßnahmen häufig entlang der moralischen Frage, ob man eine Lockerung aus wirtschaftlichen Gründen fordern dürfe, wo dies doch gleichzeitig das gesundheitliche Gefährdungspotenzial und damit Ansteckungs- und Todesfälle wieder nach oben treiben würde. Interessanterweise liest man hier oft die Sentenz, dass man „Menschenleben nicht gegen Wirtschaftsinteressen ausspielen dürfe“, dass schon die Behauptung eines Zielkonflikts „die Gesellschaft spalte“, und überhaupt Gesundheit und Menschenleben ein so hohes Gut sei, dass schnöde Wirtschaftsinteressen ja wohl kaum als moralisch gleichwertig anzusehen seien. Sobald solche Sentenzen mit entsprechender Empörung vorgetragen werden, kann man sich der eilfertigen Demutshaltung des Gegenübers sicher sein: Nein nein, so war das nicht gemeint…., Nein, mir geht es darum, einen Zielkonflikt zu vermeiden…. usw. Selbst namhafte Ökonomen schließen sich schnell diesem moralischen Diktum an.
Mich wundert das, und zwar aus zwei unterschiedlichen Gründen:
Der Zielkonflikt besteht. Und die Gesellschaft geht bereits damit um.
Es ist mir unbegreiflich wie man verneinen kann, dass es hier um Zielkonflikte und folglich um Abwägungen geht. Ganz offensichtlich gehen die drastisch einschränkenden Maßnahmen, um Ziel A (Rettung von Menschenleben, Gesundheit) zu erreichen, zulasten von Ziel B (florierende Wirtschaft, Jobs). Dies zu benennen und zu analysieren ist Grundlage eines rationalen Diskurses und nicht etwa ein unbotmäßiges „Ausspielen von A gegen B“ oder der Versuch „die Gesellschaft zu spalten“. Ein Zielkonflikt verschwindet nicht dadurch, indem man einfach nicht hinschaut und das Hinschauen moralisch diskreditiert. Ein Zielkonflikt erzwingt eine Güterabwägung, ob man will oder nicht. Genau das ist das Kerngeschäft der VWL.
Es ist auch ein grobes Un- oder Missverständnis, dass „rein wirtschaftliche Fragen“ auf dem einen Blatt stehen, darum darf sich dann die VWL kümmern, aber ethisch-moralische Fragen auf einem ganz anderen Blatt. Ökonomen sprechen von Präferenzen. Auch wenn in einführenden mikroökonomischen Lehrbüchern meistens Präferenzen auf (Konsum-) Güterbündel bezogen werden, so geht es tatsächlich aber um die Gesamtheit der Lebenswirklichkeit, die man unter knappen Ressourcen zu gestalten hat. Welche Bedingungen, unter denen ich als Einzelner innerhalb einer Gemeinschaft leben möchte, ziehe ich vor (prä-ferre)? Das reicht von reinen individuellen Geschmacksfragen (Lieber Rotwein oder Bier?) über die Frage der Gestaltung von Spielregeln (Welche Marktregulierungen, welches Steuersystem bevorzuge ich?) bis hin zum Grundsätzlichen (Über was möchte ich individuell frei entscheiden? Wo bin ich bereit, dass das Kollektiv entscheidet? Welche Gesetze, über die ich demokratisch abstimme, spiegeln meine ethischen Überzeugungen am besten wider?). Kurzum: ethische Fragen sind integraler Teil menschlicher Präferenzen und somit von Abwägungsprozessen.
Und wir als Gesellschaft haben kollektiv eine solche Abwägung bereits getroffen. Nämlich mit sehr starkem Gewicht des Ziels, Menschenleben und Gesundheit zu schützen, zulasten der Wirtschaft. Da schnelles Handeln erforderlich war, konnten keine langen Debatten zur Güterabwägung geführt werden. Zudem musste man unter großer Unsicherheit Entscheidungen treffen. Wie viele Covid-19-Todesfälle oder auch schwerwiegende Krankheitsverläufe man vermieden, wie viele ausgestandene Ängste, wie viele Triage-Entscheidungen man vermieden haben wird, wird man im Nachhinein vielleicht abschätzen können. Wie viele Jobs und Einkommenseinbußen das gekostet haben wird, wie viele freiberufliche Existenzen und Lebenspläne zerstört, wie viele Betriebe pleite gegangen sein werden, wie stark Bildungsprozesse beeinträchtigt sein werden, wie viel zusätzliche häusliche Gewalt und Depressionen es gegeben haben wird, wird man dann auch abschätzen können.
Es ist bemerkenswert, dass solche Abwägungen schnell und mit erstaunlichem Einverständnis der Bevölkerung getroffen wurden, notgedrungen ohne detaillierte Debatte, obwohl die Einschränkungen ja tief in die Grundrechte hineingehen. Man darf vielleicht daran erinnern, dass in vielen anderen Bereichen völlig unabhängig von Corona ebenfalls moralische Zielkonflikte bestehen, die die Gesellschaft bislang ganz anders bewertete: Wie viele Tote könnte man jedes Jahr vermeiden, wenn Rauchen verboten wäre? Wenn es keinen Autoverkehr oder zumindest Tempolimit auf Autobahnen gäbe? Wenn es eine allgemeine Impfpflicht für Grippeimpfungen gäbe? Sicher, in all diesen Fällen ist die Problemlage immer etwas anders als bei Corona, um dem Argument, „das kann man doch nicht miteinander vergleichen“, vorzubeugen – wobei: selbstverständlich kann man die Dinge vergleichen. Differenzierendes Vergleichen ist oft hilfreich. Woher sonst wüssten wir, dass es neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede gibt, wenn man nicht einen Vergleich angestellt hätte? Was allen Beispielen gemeinsam ist, ist die Güterabwägung, die wir sonst häufig nicht zugunsten von Leben und Gesundheit treffen.
Moralisten ziehen dann oft die Trumpfkarte, dass „menschliches Leben“ doch mit nichts aufzuwiegen sei und deshalb sich ein „Aufrechnen“ per se verbieten würde („Na, sag schon, sag schon, was ist denn der Geldpreis für ein Menschenleben?“). Als Ökonom weise ich darauf hin, dass auch Menschen, die so argumentieren, durch ihre eigenen täglichen Entscheidungen aufzeigen, dass sie selbst eben solche Abwägungen treffen, deren rationalen Diskurs sie für verwerflich halten: Sie fahren mit dem Auto zur Arbeit? Sie rauchen? Sie sind schon mal bei Rot über die Ampel gegangen? Mit anderen Worten: Sie riskieren, wenn auch nur mit ganz geringer Wahrscheinlichkeit, ihr eigenes Leben, um einen mehr oder weniger schnöden Vorteil zu erlangen? Interessant. Sie gehen faktisch begrenzte (im Prinzip bezifferbare) Lebens- und Gesundheitsrisiken ein um dafür andere Vorteile zu bekommen. Dies zu benennen, transparent und bewusst zu machen, einem rationalen Diskurs zugänglich zu machen kann ich nicht als moralische Zumutung sehen. Und wenn solche Abwägungen kollektiv getroffen werden müssen, dann ist ein solcher rationaler Diskurs sogar angebracht. Moralische Denkverbote unterminieren sonst demokratische Legitimität kollektiver Entscheidungen.
Völlig unbestritten ist natürlich, dass alle Maßnahmen, die auf eine Verringerung von Zielkonflikten führen, zu begrüßen sind. Hätte man massenhaft Corona-Tests incl. Testkapazitäten und ausreichend Schutzmasken, könnte man die Ausbreitung des Virus mit erheblich weniger wirtschaftlichen Einschränkungen eindämmen. Solche Pfade zu identifizieren, wie man Zielkonflikte reduziert, ist im Grunde ein ökonomisches Optimierungsproblem, was aber eben einen Konsens voraussetzt, wie man die unterschiedlichen Ziele abwägt. Zu bedenken ist dabei aber, dass eben auch die Maßnahmen zur Reduzierung des Zielkonflikts, selbst kostenträchtig sind und deshalb Teil der Optimierung sind. Vermutlich ließe sich das Triage-Problem auf ein absolutes Minimum drücken, wenn man völlig unabhängig von Pandemien stets 10 Millionen Intensivbetten mit Beatmungsgeräten vorhält. Wenn man sich als Gesellschaft entschließt: Ja, wir wollen sehr gerne jedes Jahr Ressourcen im Wert von mehreren hundert Milliarden Euro für derartige totale Vorsorge ausgeben, die dann allerdings anderen Verwendungsmöglichkeiten entzogen werden, so kann man das gerne tun, da das offenbar den Präferenzen der Menschen entspricht. Wenn nicht, müssen wir eben mit dem Risiko leben, ab und wann zu den hier diskutierten Güterabwägungen gezwungen zu sein.
Es geht um Freiheit und Würde, nicht nur um Wirtschaftsinteressen
Vor Kurzem hat ein Verfassungsrechtler in einem sehr klugen Kommentar in der F.A.Z. darauf hingewiesen, dass menschliches Leben keineswegs diesen hohen Verfassungsrang hat, wie viele Menschen glauben. Es geht nicht um das Leben als solches, sondern um ein Leben in Würde, was auch eine freie Selbstentfaltung einschließt. Die Einschränkungen des Tötungsverbotes z.B. im Kriegsfall oder in Notwehrsituationen, bei Schwangerschaftsabbrüchen, bei der jüngsten Rechtsprechung bezüglich selbstbestimmten Sterbens usw. zeigen dies. Nun geht es zugegeben im Fall der Triage nicht allein um die Frage der Rettung von Menschenleben, sondern um die Frage, wen man angesichts von Ressourcenknappheit sterben lassen muss. Das berührt sehr wohl auch Fragen der Würde.
Auf der anderen Seite sind die Maßnahmen, die eben eine solche Situation vermeiden sollen, nicht einfach bloß ein „Herunterfahren der Wirtschaft“, wie es oft heißt. Das verleitet viele zu der Auffassung „Das ist doch bloß Wirtschaft, da geht es doch letztlich nur um Materielles und um Geld“, also nichts, was moralisch wirklich ins Gewicht fällt. Das ist ein Irrtum. Es geht um eine erhebliche Einschränkung wesentlicher Grundrechte. Versammlungs- und Religionsfreiheit sind eingeschränkt. Die Freiheit, sich wirtschaftlich zu betätigen (als Friseur, Restaurantbesitzerin, Konzertveranstalter, Musikerin usw.) und damit die Freiheit der Berufsausübung ist eingeschränkt. Bewegungs- und Reisefreiheit ist eingeschränkt, usw. Wenn man einem an Covid-19 Sterbenden nicht die Hand halten darf, ist das ein Antasten der Menschenwürde. Ich finde es atemberaubend, wie schnell und problemlos sich die Bevölkerung damit arrangiert, was sie mit wenig Murren bereit ist herzugeben (ökonomisch: Opportunitätskosten) um die Ausbreitung eines Virus zu stoppen, der zu einer vermutlich sehr hohen, aber unbekannten Zahl von Toten führen wird bzw. würde. Die Bereitschaft, sehr viel mildere Maßnahmen in Kauf zu nehmen, um die ca. 25.000 Grippetoten in Deutschland 2017/18 zu vermeiden, war dagegen nicht vorhanden. Ich will das nicht bewerten, finde aber die Beobachtung interessant, wie unterschiedlich hier kollektive Güterabwägungen erfolgen. Wie gesagt: dies zu untersuchen, transparent und bewusst zu machen, einem rationalen Diskurs zuzuführen, ist Kerngeschäft der VWL.