Deutschland hat nun ein Lieferkettengesetz. Nach zahlreichen Lobbyaktivitäten, aber auch Bedenken aus dem akademischen Bereich ist es nun ein verhältnismäßig bescheidenes, wirkungsarmes Gesetz für eine überschaubare Anzahl von Unternehmen geworden. Dennoch ist die Empörung über den bürokratischen Aufwand, aber auch gegen unvorhersehbare Klagemöglichkeiten groß. Im Folgenden geht es nicht um die Details des Gesetzes, und auch ich bin der Ansicht, dass deutsche Regulierungsgründlichkeit, gepaart mit eklatanter Rückständigkeit in Sachen Digitalisierung und Unkenntnis der Lage der Adressaten der Regulierungen, zu sehr transaktionskostenträchtigen Lösungen führt. Stattdessen möchte ich wenige grundsätzliche Überlegungen anführen, die auf die Kritik eingehen, dass es ja wohl nicht sein könne, dass deutsche Unternehmen für die Versäumnisse der Politik in fremden Ländern in Haftung genommen werden. Ich gehe der Frage nach, ob „wir“, d.h. unsere Unternehmen dafür verantwortlich sein können, wie in anderen Ländern mit Umwelt, Arbeit und Menschenrechten umgegangen wird. Ist das überhaupt ein wirtschaftliches Thema, oder muss das nicht politisch in den entsprechenden Ländern gelöst werden?
Ich nehme die Pointe gleich vorweg: Ja, natürlich tragen „wir“ und somit auch deutsche Unternehmen Verantwortung, und ja, es ist ein wirtschaftliches Thema. Und das lässt sich ganz altmodisch ordnungsökonomisch begründen. Den Salbader um angebliche linksgrüne Weltrettungs-Ideologien werde ich höflich ignorieren.
Unsere Gesellschaft hat klare Vorstellungen und Präferenzen bezüglich Menschenrechte und Mindeststandards für angemessene Arbeitsbedingungen, und wir haben dementsprechende Regeln für die Produktion hierzulande. Nun erfolgt die Produktion aber heute in globalen Wertschöpfungsketten, die sich oft über viele Länder erstrecken, und die für die letzte Produktionsstufe oft gar nicht mehr nachvollziehbar sind. Daraus resultiert eine mangelnde Sichtbarkeit der Konsequenzen von Produktions- und Konsumentscheidungen, die an ganz entfernten Stellen ausgelöst werden, was zu einer Art „Verantwortungsdiffusion“ führt. Dies untergräbt die Souveränität, für die eigenen Handlungskonsequenzen Verantwortung tragen zu können. Zumindest die Kenntnisnahme der Konsequenzen einer Handlung durch Transparenz der Lieferkette ist ein Schritt in Richtung der Wiederherstellung dieser Souveränität.
Selbstverständlich gehört es zum Kernverständnis von Freiheit, auch die Verantwortung für die Konsequenzen der eigenen Entscheidung zu übernehmen, auch wenn diese andere Menschen in anderen Ländern betreffen.
Die durch hochgradige globale Arbeitsteilung geschaffene Informationsasymmetrie bezüglich der Handlungskonsequenzen ist bereits ein Problem für die Allokationseffizienz von Märkten, die ich an anderer Stelle diskutiert habe. Die damit einhergehende Verantwortungsdiffusion, die dadurch gerechtfertigt wird, dass ja andere Länder bzw. deren Regierungen dafür zuständig seien, ist in gewissem Sinn eine Zersetzung der Grundlagen des Liberalismus, weil Entscheidungsfreiheit und Verantwortung entkoppelt werden, indem man mit dem Finger auf andere zeigt.
Hinzu kommt, dass Preise nicht allein Knappheiten widerspiegeln, sondern auch asymmetrische Machtverhältnisse: Monopole extrahieren Konsumentenrente, Monopsone extrahieren Produzentenrente. Je unelastischer die Nachfrage- bzw. Angebotsseite, desto größer ist die Rentenextraktion. Im Fall des unelastischen Arbeitsangebots im globalen Süden – aufgrund der Armut muss jeder Job angenommen werden – beträgt die Rentenextraktion bis zu 100%, es bleibt also ein reiner Reservationslohn. Dazu braucht man keine „linken“ Theorien, das ist simpelste neoklassische Mikroökonomik aus Econ101-Kursen.
Komparative Vorteile, die zu Spezialisierung und globalen Wertschöpfungsketten führen, können deshalb auch dadurch entstehen, dass Anbieter in einem Land sehr geringe Marktmacht haben und deshalb jeden Preis akzeptieren müssen, der die Grenzkosten gerade deckt. So können Lieferketten zu „Rentenextraktionsketten“ werden, die den geschaffenen Mehrwert einseitig verteilen, und einige Glieder der Kette keinen substanziellen Mehrertrag gegenüber der Subsistenzwirtschaft haben. Möchten sich deutsche Unternehmen gerne daran beteiligen? Möchten sie es zumindest gerne wissen? Nein? Aber ich, der Nachfrager, möchte es gerne wissen.
Macht steht Wettbewerb entgegen. Wenn – durchaus richtig – von den Segnungen des Wettbewerbs auf globalen Märkten geredet wird, so wird leicht vergessen, dass in weiten Teilen dieser Wettbewerb nur eingeschränkt existiert. Größere Konzerne auf Rohstoffmärkten oder lokalen Arbeitsmärkten verhalten sich logischerweise anders als kleinere Unternehmen im harten Wettbewerb im Endproduktbereich. Hier wäre eine globale Wettbewerbspolitik vonnöten, die es mangels globaler rechts(durch)setzender Institutionen aber nicht gibt. Daher kann man als second-best zumindest Unternehmen im eigenen Land dazu anhalten, diese Problematik zu erkennen und entsprechende Verantwortung zu übernehmen, wie sie den hier allgemein akzeptierten Wertegrundlagen entspricht.
Wir könnten einer globalen freiheitlichen Ordnung einen Schritt näher sein und einen Schritt weiter weg von einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ (Ulrich Beck).
Über die handwerklichen Unzulänglichkeiten des Gesetzes und den Grenzen der Kontrollierbarkeit von Vor-Vor-Vorprodukten, über die das deutsche Unternehmen zu vertretbaren Kosten kaum etwas wissen kann, sowie auch die Grenzen von Verantwortbarkeit, wenn viele eine Teil-Verantwortung tragen, wird an anderer Stelle noch zu diskutieren sein.