Nach Kritik von Foodwatch mussten BDI und INSM ihre Zahlen zu den positiven Effekten von TTIP korrigieren, andere Institutionen zieren sich noch. Die fehlerhafte Darstellung von Ergebnissen aus Studien ist eine Sache, die Orientierung am optimistischen oberen Rand der Schätzungen dieser Studien ist eine andere. Je nach zitierter Studie und nach zitiertem Szenario innerhalb einer Studie schwanken die Schätzungen bezüglich der Wirkungen auf BIP-Wachstum und geschaffenen Arbeitsplätzen enorm. Arbeitsplatzeffekte werden für Europa mit 12.000 bis zu 1,3 Millionen angegeben – wobei letzteres das über Hundertfache (!) der konservativen Schätzung ist. Kann man da überhaupt noch von einer „Schätzung“ sprechen? Selbst der Kalenderweisheit, dass die Wahrheit „irgendwo in der Mitte“ liegen wird, ist wohl kaum zu trauen.
Dasselbe gilt für „Schätzungen“ der Wachstumseffekte: 100 Milliarden in einem Zeitraum von 10 (!) Jahren. Abgesehen davon, dass auf das Jahr gerechnet der Effekt sich prozentual erst in der Nachkommastelle der Wachstumsrate bemerkbar machen würde, darf man fragen, was von derartig langfristigen Prognosen zu halten ist, wenn man die Fehlerquoten des Sachverständigenrates und anderer Institutionen betrachtet, die bei einem Prognosezeitraum von nur einem einzigen Jahr auftreten. Daran gemessen läge der angebliche TTIP-Effekt noch im Bereich der Standardabweichung normaler Wachstumsprognosen. Prognosen für einen so großen Wirtschaftsraum über einen so langen Zeitraum mit so vielen aus den Rechnungen eliminierten Variablen und Unwägbarkeiten – das ist kaum mehr als der Blick in eine Glaskugel, nur dass diese sich heutzutage zum Beispiel „DSGE-Model“ oder „Hochrechnung“ nennt. Dabei ist TTIP noch nicht einmal beschlossen und die Details des Vertrages, so er denn geschlossen würde, sind noch nicht klar. Den Erstellern der zitierten Studien kann man das kaum vorhalten, denn diese kennen die im Kleingedruckten dokumentierten Grenzen und Voraussetzungsabhängigkeit ihrer Rechnungen in aller Regel.
Wenn TTIP-Befürworter in ihren Broschüren stets die euphorischsten Schätzungen als „Fakten zu TTIP“ präsentieren, dann kann man das wohlwollend noch als Lobbyarbeit verstehen, die ganz auf die Naivität eines Lesers setzt, der den Unterschied zwischen „vager Schätzung“ und „Fakt“ nicht kennt (geschweige denn den Unterschied zwischen einem Erwartungswert und dem oberen Rand eines Konfidenzintervalls) und auf dessen Ehrfurcht vor „Wirtschaftsexperten“ man noch setzen kann. Sie können sich auch damit herausreden, dass sie jede Zahl mit dem Zusatz „bis zu“ versehen (beim Leser werden trotzdem „100 Milliarden Euro“ im Gedächtnis bleiben und nicht der Gedanke, dass es auch „Null“ sein könnten). So formuliert, muss man dann dem TTIP-Gegner nicht einfach konzedieren, Chancen und Risiken anders einzuschätzen als man selbst, sondern kann ihm vorhalten „die Fakten zu ignorieren“, während man selbst zur „Versachlichung“ der Diskussion beitrage. Das mag perfide sein, beleidigt aber zumindest nicht die Intelligenz der Broschüren-Schreiber und PR-Strategen. Unterstellt man weniger wohlwollend, dass die Autoren selbst an die Faktizität glauben, so muss man wohl an deren Fachexpertise zweifeln.
Nun kann man auch TTIP-Gegnern nicht unbedingt attestieren, dass sie stets die Sachwalter kühler Vernunft und sachlich-differenzierter Darstellung sind. Im medialen Kampf um Meinungshoheit ist das vermutlich nicht gerade eine Schlüsselkompetenz. Daher sollte man immer genauer hinschauen, wenn sich jemand zum Anwalt von Vernunft und Sachlichkeit aufschwingt, indem er am häufigsten das Worten „Fakten“ im Mund führt.