Dullien, S. (2020), Warum der Glaube in die Überlegenheit des Emissionshandels übertrieben ist. Makronom, 7. Januar 2020 (makronom.de)
In diesem Aufsatz stellt Sebastian Dullien die starke Präferenz vieler vor allem deutscher Ökonom*innen für die Zertifikatslösung in Frage, indem er auf einige Nachteile dieses Konzeptes hinweist. Er tut dies auf eine sehr angenehme sachlich-argumentative Weise. Dies ermöglicht (und ermutigt) eine ebenso sachlich-freundliche Replik.
Die meisten Ökonomen, welche die Zertifikatslösung präferieren, sprechen sich nicht gegen die CO2-Steuerlösung aus. Die Steuerlösung ist immer weitaus besser als der Status Quo, wenn vielleicht auch, nach Meinung vieler Ökonom*innen, nicht ganz so vorteilhaft wie die Zertifikatslösung. Aber niemand würde sich aktiv gegen eine Steuerlösung einsetzen. Sie ist auch kommunikativ deutlich einfacher zu vermitteln, was ein politökonomisch wichtiger Aspekt für ein schnelles klimapolitisches Handeln ist. Dies ist vermutlich auch der Hintergrund des Aufrufs zahlreicher amerikanischer Ökonomen und Zentralbanker, auf den Dullien zu Beginn verweist.
Eines seiner wichtigsten Argumente ist die Preisvolatilität, die sich beim Zertifikatehandel ergibt, im Gegensatz zur Steuerlösung. Dullien weist darauf hin, dass bei einer Einhegung der Preisvolatilität im Zertifikatsmodell durch Mindest- und Höchstpreise der zentrale Vorteil der planbaren Mengenentwicklung wegfallen würde. Das ist korrekt, zumindest wenn sich die Zertifikatsmenge an den Rändern des Preisintervalls elastisch an die Nachfrage anpasst. Bleibt die Zertifikatsmenge hingegen fix, so führt der Preiskorridor zu Rationierungseffekten, die ebenfalls unerwünscht sind. Bei einem reinen Zertifikatsmodell ohne Preiskorridor würden die Preise jedoch kurzfristig schwanken, was die Planungssicherheit für Investitionen in klimaneutrale Technologien einschränken würde. Hier kann man einwenden, dass (a) Investoren eher langfristige Preisentwicklungen im Blick haben, die bei systematischer Verknappung der Zertifikate ziemlich eindeutig sein sollte. (b) In einer Marktwirtschaft schwanken Preise ohnehin, Rohstoffpreise allzumal, was nicht per se ein Investitionshindernis ist. Unsicherheit der Preisentwicklung ist Teil der DNA einer Marktwirtschaft. Sie hat auch nicht verhindert, dass in den vergangenen 150 Jahren massiv in fossile Energien investiert wurde. (c) Schließlich gibt es Hedging-Instrumente für das Management von Unsicherheit, etwa options und futures auf Zertifikate. (d) Im Steuermodell unterliegt der zukünftige CO2-Preis politischen Risiken. Die Preissicherheit ist hier eher kurz- bis mittelfristig.
Wenn einem das Volatilitätsargument, aber auch das Argument der Sicherheit der Mengenentwicklung wichtig ist, könnte man auch daran denken, ein umfassendes ETS mit einer (relativ hohen) Steuer zu kombinieren, wobei der an der Börse gezahlte Preis auf die Steuerschuld angerechnet wird, sofern dieser unterhalb des Steuersatzes liegt. Auf diese Weise kennen Investoren den Pfad des Mindestpreises, der in die Amortisationsrechnung einfließt.
Dullien weist außerdem darauf hin, dass mit der Preisvolatilität auch die Rückzahlungen an die Bürger unsicher würden. Diese Rückerstattungen seien aber für die Akzeptanz einer CO2-Bepreisung sehr wichtig. Letzterem ist unbedingt zuzustimmen. Allerdings gibt es zwei Einwände: (a) das Aufkommen ist prinzipiell unsicher bei planbarer Menge und volatilen Preisen (Zertifikatsmodell), aber auch bei festen Preisen und unklarem Mengeneffekt (Steuermodell). (b) Im Zertifikatsmodell erzielt der Staat Einnahmen aus der anfänglichen Versteigerung (oder Verkauf) der Zertifikate auf dem Primärmarkt. Diese Einnahmen werden an die Bürger zurückgegeben. Die anschließenden Preisschwankungen auf dem Sekundärmarkt sind weniger relevant, denn die z.B. beim Preisanstieg steigenden Kosten des Zertifikatserwerbers (was dessen Angebot verteuert) sind gleichzeitig Einnahmen des Zertifikatsverkäufers, dessen Produktion sich verbilligt. Die Kosten verteilen sich im Privatsektor lediglich anders, was zu Relativpreisänderungen führt, die Nettozahlungen des Privatsektors an den Staat und damit die an die Haushalte rückzuerstattende Summe bleibt davon aber unberührt. Ob Schwankungen der Zertifikatspreise an der Börse sich unmittelbar und 1:1 in z.B. Benzinpreisschwankungen übersetzen, wird man sehen. In der Regel werden Mineralölkonzerne vorab Kontingente von Zertifikaten erwerben und nicht erst fallweise dann, wenn eine einzelne Tankstelle beliefert wird. Da der CO2-Preis lediglich einen überschaubaren Teil des Benzinpreises ausmacht, wird die Volatilität des ersteren vermutlich in der ohnehin vorhandenen Volatilität des letzteren untergehen. Zudem bedeutet eine Preisänderung an der Börse eine Kostenänderung für die Anbieter, die jetzt gerade trades durchführen. Für diejenigen, die bereits ausreichend Zertifikate besitzen und diese einsetzen, ändern die täglichen Schwankungen nichts an der Kostensituation. Nur Grenz-Unternehmen sind betroffen. Deshalb denke ich, dass das Volatilitätsargument überbewertet wird.
Allerdings geht Dullien von einer Vorab-“Rück”erstattung aus, d.h. der Staat müsste die “Klimaprämie” quasi vorfinanzieren. Wenn das so gewünscht ist, ist es weniger problematisch, wenn hier der Staat die Aufkommensunsicherheit etwas abfedert. Allerdings zeigt sich hier auch ein Vorteil der Zertifikatslösung, weil Emittenten die Rechte vorab erwerben müssen, während bei einer CO2-Steuer das exakte Steueraufkommen erst ex post feststeht, nachdem die Emissionsmengen gemessen wurden.
Desweiteren argumentiert Dullien, dass komplementäre klimapolitische Maßnahmen wie etwa Förderung von ÖPNV oder Infrastrukturmaßnahmen nötig seien, um überhaupt genügende Substitutionsmöglichkeiten zu schaffen. Denn die stetige Substitution CO2-emittierender Produkte und Verfahren, gesteuert durch Preise, ist ja das Ziel. Diese komplementären CO2-sparenden Maßnahmen seien jedoch schwierig mit dem Zertifikatsmodell zu kombinieren, weil diese Maßnahmen die Nachfrage nach Zertifikaten und damit deren Preis senken würden, so dass diese Zertifikate eben an anderer Stelle nachgefragt würden, und sich trotz der Maßnahmen am Ende des Tages die Emissionsmenge nicht verändern würde. Bei einer CO2-Steuer hingegeben würde der Einsparanreiz bestehen bleiben. Das Argument ist völlig richtig, jedoch meines Erachtens dennoch irreführend. Bei einer CO2-Steuer wird es mangels Substitutionsmöglichkeiten oft keine ausreichende Verhaltensänderung geben. Deshalb wird es nötig, solche Substitutionsmöglichkeiten durch Zusatzmaßnahmen zu fördern, damit überhaupt eine nennenswerte Mengenwirkung erzielt wird. Beim Zertifikatsmodell hingegen ist die Mengenwirkung sicher. Allerdings würde bei unzureichenden Substitutionsmöglichkeiten der Zertrifikatspreis und damit die Kosten des klimaschädlichen Verhaltens durch die Decke gehen. Die begleitenden Maßnahmen (ÖPNV-Ausbau etc.) haben hier also den Sinn, bezahlbare Alternativen zu schaffen bei sicherem Mengeneffekt. Dieselbe Maßnahme im Kontext der CO2-Steuer hat den Sinn – obgleich klimaschädliches Verhalten einen lediglich moderaten Preis hat – eine halbwegs attraktive Alternative zu schaffen, damit es überhaupt einen Mengeneffekt gibt. Ich denke nicht, dass man diese zweifellos notwendigen komplementären klimapolitischen Maßnahmen in dem einen Kontext als Vorteil, im anderen als “schwierig vereinbar” sehen kann. Der Verweis darauf, dass es “attraktiv” sein muss CO2 zu sparen, klingt gut, ist hier aber nicht hilfreich, wenn das Instrument diese Einsparung bereits erzwingt.
Dasselbe Argument wird geltend gemacht bezüglich individueller Anstrengungen CO2 einzusparen. In einem Zertifikatssystem werden all diese Anstrengungen “zunichte” gemacht, weil die frei werdenden Zertifikate dann einfach anderswo eingesetzt werden und sich an der Gesamtmenge nichts ändert. Beispiel: Verzicht auf innereuropäische Flüge, was keinerlei CO2 einspart. Das ist richtig und für das intuitive Verständnis der breiten Bevölkerung sicherlich schwieriger nachvollziehbar als der kontinuierliche Vermeidungsanreiz einer CO2-Steuer. Als Misanthrop teile ich die Auffassung, dass die Logik des Zertifikatsmodells einer breiten Bevölkerung schwierig zu vermitteln ist. Aber der Sinn einer Internalisierung ist es ja, dass Konsumenten sich nun auf das Relativpreissystem verlassen können statt ihre Dispositionen zusätzlich von moralischen Überlegungen leiten zu lassen, wie man etwas Gutes für das Klima tun könne. Für die Konsumenten reicht das “normale” Substitutionsverhalten völlig aus um das Konsummuster klimafreundlicher werden zu lassen. Für Anbieter entsteht bei beiden Systemen (Zertifikate, CO2-Steuer) ein Anreiz, klimaschonende Alternativen zu entwickeln und sich so einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Für den moralisch motivierten Bürger, der zusätzlich etwas für das Klima tun möchte, würde ich raten: Kaufe CO2-Zertifikate und entziehe sie so dem Markt. Im Unterschied zu anderen individuellen klimaschonenden Maßnahmen kann man hier sogar exakt bestimmen, wieviel CO2 damit vermieden wird, nämlich eine Tonne pro Zertifikat. Der Nachteil ist allerdings, dass diese Rechnung zwar völlig korrekt ist, der virtuelle Kaufakt eines Wertpapiers per Mausklick aber psychologisch viel unbefriedigender ist als eine Verzichtsübung im täglichen Konsum. Hier kann man dann die Frage stellen, ob man die erzieherische Wirkung auf Menschen oder den tatsächlichen Effekt auf die Emissionen priorisiert.
Ein weiteres Argument Dulliens ist der Hinweis darauf, dass die im Zertifikatsmodell vorgegebene Menge und deren Reduzierung im Allgemeinen nicht sozial optimal ist. Dies wäre nur der Fall, wenn die Grenzvermeidungskosten dem Grenzschaden entspräche. Das Zertifikatsmodell lege jedoch nur eine Menge fest, deren Preis dann zwar den Grenzvermeidungskosten entspricht, der Grenzschaden jedoch systematisch keine Rolle spielt. Nun ist allerdings die Ermittlung des “Grenzschadens” einer Tonne CO2 außerordentlich methodenabhängig, man könnte auch sagen: spekulativ. Wenn man die UBA-Berechnung von “mindestens 180 Euro/Tonne” zugrundelegt, dann sind auch alle bekannten CO2-Steuerkonzepte sozial ineffizient. Befindet man sich in absehbarer Zeit an den Kipp-Punkten im Klima-System, dann dürfte es wohl keine seriösen “Berechnungen” von “Grenzschäden” mehr geben. Zielführender scheint mir daher das Kriterium zu sein, ob mit der Maßnahme das verbleibende CO2-Budget eingehalten werden kann, das zur Erreichung des 1.5- oder 2-Grad-Ziels erforderlich ist. Zwar ist es ein Problem zu bestimmen, welchen Anteil Deutschland am globalen CO2-Budget hat, was ja auch eine normative Frage ist. Aber sobald diese Frage politisch geklärt ist, ist der Spielraum für plausible Reduktionspfade, die sich innerhalb des Budgets bewegen, nicht allzu groß und sollten die Vorlage für die jährlichen Caps im Emissionshandel sein. Global gesehen wären dies im Schnitt konstante Reduktionsraten von 8-9 Prozent jährlich (Annahme: verbleibendes CO2-Budget = 420 Gt, jährliche Emissionen = 36 Gt), aus Gründen der Klimagerechtigkeit dürfte das bei Industriestaaten wohl etwas höher liegen, sagen wir z.B. 10 Prozent, um Spielraum für sich entwickelnde Volkswirtschaften zu schaffen. Ob dabei irgendwelche theoretischen Marginalbedingungen erfüllt sind oder nicht – ich glaube nicht, dass Dullien auf ein derartig neoklassisches Argument so viel Wert legt.
Schließlich argumentiert Dullien gegen das Argument, dass nur Zertifikatshandel einen einheitlichen CO2-Preis garantiert, der für effiziente Einsparung bzw. Allokation der Emissionen nötig sei. Zunächst ist es ein Strohmann-Argument, denn meines Wissens anerkennt jede*r Ökonom*in, dass auch eine CO2-Steuer ein einheitlicher Preis wäre. In dieser Hinsicht unterscheiden sich beide Konzepte nicht. Wenn es aber Argumente wie sektorspezifische Netzwerkeffekte und positive Externalitäten gibt, die an der Effizienz einheitlicher Preise zweifeln lassen, so trifft auch dies zunächst beide Instrumente. Sektorspezifische Extra-Steuern oder Subventionen, welche diese speziellen Marktunvollkommenheiten adressieren, sind in beiden Modellen möglich. Ich sehe darin kein systematisches Argument gegen das Zertifikatsmodell.
Im Gesamturteil ist Dullien sehr vorsichtig trotz der erkennbaren Präferenz für die Steuerlösung. Es ist durchaus verdienstvoll, kritische Punkte am Zertifikatsmodell herauszuarbeiten. Dennoch halte ich die Kritikpunkte für nicht allzu tragfähig und gravierend, um den m.E. entscheidenden Vorteil des Zertifikatsmodells überzukompensieren: Eine verlässliche quantitative Reduktion innerhalb des verbleibenden CO2-Budgets ist unabdingbar und mit einem umfassenden Zertifikatsmodell mehr oder weniger zu “erzwingen”. Dieser Vorteil ist keineswegs “übertrieben” obschon jedes Instrument, jedes klimapolitische Konzept selbstverständlich Vor- und Nachteile hat. Die Flankierung durch weitere klimapolitische Maßnahmen (Infrastruktur, FuE, Ordnungsrecht) sowie der soziale Ausgleich durch Rückgabe der staatlichen Einnahmen an die Haushalte sind in beiden Modellen wichtig.