Archiv der Kategorie: Eurosystem

Target2 und Euroaustritt – ein „Pulverfass“?

Target2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Buchungsvorgänge, und auch nur deshalb, weil trotz der Währungsunion weiterhin nationale Zentralbanken existieren statt nur die EZB. Bei einem grenzüberschreitenden Transfer zwischen Geschäftsbanken, welcher über die jeweiligen nationalen Zentralbanken abgewickelt wird, fließen sowohl Depositen (Passivseite) als auch Reserven (Aktivseite) von der italienischen Bank A zur deutschen Bank B (vermittelt über die jeweiligen nationalen Zentralbanken). Dadurch entsteht aber eine Differenz zwischen Aktiv- und Passivseite der jeweiligen Zentralbankbilanz – die Banca d’Italia hat also dieselben Assets wie zuvor, jedoch weniger Reserven, folglich einen Saldo auf der Passivseite. Entsprechend umgekehrt ist es bei der Deutschen Bundesbank. Gäbe es lediglich die EZB, wäre dieses ganze Problem völlig unbekannt, kein Ökonom würde Alarm schlagen, keine Zeitung darüber schreiben. Normalerweise stehen bei einer nationalen Zentralbank den Reserven (plus Bargeld) entsprechende Vermögensgegenstände gegenüber, also vor allem Wertpapiere oder Forderungen gegenüber nationalen Geschäftsbanken. Durch den Zufluss von Reserven an deutsche Geschäftsbanken, die die Deutsche Bundesbank gar nicht geschaffen hat, sondern die durch Überweisung nach Deutschland gekommen sind, entsteht eine T2- “Forderung” der Bundesbank auf der Aktivseite, die man als Forderung gegenüber der EZB betrachtet. Umgekehrt ist es bei der Banca d’Italia, die eine T2- “Verbindlichkeit” gegenüber der EZB hat. Zunächst einmal kommt die Sprechweise von “Forderung” und “Verbindlichkeit” durch die übliche Interpretation der Aktiv- und Passivseite einer Bilanz zustande. Faktisch hat sich die Banca d’Italia aber gar keine Mittel von der Bundesbank “geliehen”, schon gar nicht hat “Deutschland” Geld an “Italien” verliehen, welches dieses Geld irgendwie verjubelt hat (auch wenn das gescheit klingt wie „… zur Finanzierung des Zahlungsbilanzdefizits“). Die Interpretation der T2-Salden als „Kredit“ ist also zu recht sehr umstritten. Ich lehne sie ab.

Die Sorge ist nun, dass im Fall des Austritts eines T2- “Schuldner”-Landes aus der EWU man diese Salden ähnlich wie einen faulen Kredit  „abschreiben“ muss, da es sich nicht um eine werthaltige Forderung handelt. Schließlich wird das Land ja aufgrund großer finanzieller Probleme ausgetreten sein und daher weder in der Lage noch willens sein, einen Saldo zu begleichen. Müsste die Bundesbank eine riesige T2- “Forderung” abschreiben, so wäre ihr Eigenkapital mehr als aufgebraucht, es würde negativ werden. Das wäre an sich nicht unbedingt ein Problem (im Unterschied zu einer Geschäftsbank, die dann insolvent wäre), aber man würde dies vermeiden wollen, indem man den T2-Saldo als reinen Buchungsposten einfach stehen ließe. Im Fall, dass die „Billionen-Forderung“ abgeschrieben würde, müsste gegebenenfalls die Bundesbank durch den – Gott bewahre! – deutschen Steuerzahler rekapitalisiert werden. Das ist das Schreckensszenario, das kürzlich wieder durch die Tageszeitungen ging (wie immer mit der löblichen Ausnahme der sehr sorgfältigen Kolumnen von Gerald Braunberger in der FAZ).

Klar ist, dass die Banca d’Itlaia Teil des ESZB ist und die Wertpapiere auf ihrer Aktivseite dem ESZB gehören. Steht als Gegenbuchung nun ein T2-Saldo in ihrer Bilanz, so entsteht dann – und nur dann und in diesem Moment – eine Forderung des ESZB auf Rückübereignung der Wertpapiere in Höhe des T2-Saldos, als Folge des Austritts aus dem ESZB. Es kann ja nicht sein, dass die Banca d’Italia nach einer Währungsreform ihre Reserven in Lira umwandelt und die Wertpapiere, denen ja Euro-Forderungen der Banken gegenüberstehen, einfach als Anfangskapitalausstattung behält. Es ist aber davon auszugehen, dass in der Banca d’Italia vernünftige Leute mit Expertise sitzen, die genau wissen, dass man auch nach Austritt Italiens aus dem Euro den Zahlungsverkehr mit der Eurozone aufrechterhalten muss. Dies würde durch das eben skizzierte Vorgehen, welches spiegelbildlich die „Abschreibung einer Billionenforderung“ auf der Bundesbankbilanz zur Folge hätte, stark gefährdet und würde Italien wirtschaftliche vom Euroraum abschneiden.  Interessanterweise sind es ja oft dieselben Ökonomen, die vor einer T2-Katastrophe warnen, die sich auch für einen Austritt der Südländer aus dem Euro stark machen mit dem Hinweis, dass es dann für diese – per Abwertung und dadurch Stärkung des Exportes – so viel leichter wäre. Das setzt aber voraus, dass der Zahlungsverkehr mit der Eurozone reibungslos funktioniert. Das auch jüngst in der FAZ vom Sinn angeführte Erpressungspotenzial der T2-Salden (Motto: „Schuldenschnitt bzw. Transferunion oder wir lassen Eure T2-Forderung platzen!“) relativiert sich somit, da zur Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs eine einvernehmliche  Lösung gefunden werden muss:

Wie könnte es nach einem Austritt z.B. Italiens aus der EWU weitergehen? [Update/Korrektur]

Wir gehen davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt kein “Clearing” geben wird, d.h. die Banca d’Italia den T2-Saldo nicht durch Transfer entsprechender Wertpapiere an die Bundesbank (via EZB) ausgleichen wird. Die folgenden Überlegungen stellen eine Möglichkeit dar, die eine entsprechende Änderung des rechtlichen Rahmens notwendig macht. Im Fall des Euroaustritts ist aber ohnehin eine rechtliche Regelung notwendig. Ich gehe davon aus, dass der T2-Saldo zunächst einfach auf der Passivseite der Banca d’Italia stehenbleibt, während alle Reserven sowie das Bargeld in Lira umgewandelt werden. Die Banca d’Italia (und die italienische Wirtschaft und selbst populistische Regierungen) wird ein vitales Interesse daran haben, den Zahlungsverkehr zwischen Italien und dem Euroraum weiterhin zu gewährleisten. Dies kann durch einen vorübergehenden Verbleib im TARGET-System geschehen, solange noch Salden offenstehen.

Wenn es dann zu einer Überweisung von Deutschland nach Italien kommt, verringern sich die Euroreserven auf der Bank- sowie der Bundesbank-Bilanz – und der dort befindliche T2-Saldo ebenfalls. Wie der Empfang von Euroreserven sich dort auf das Verhältnis zwischen Geschäftsbank und Banca d’Italia auswirkt, sei dahingestellt. Die Banca d’Italia könnte z.B. die Euroreserven der italienischen Geschäftsbank in Lirareserven umtauschen, wobei dann bei ihr ein Passivtausch der T2-Verbindlichkeiten gegen Lira-Reserven stattfindet. Auch ihr T2-Saldo verringert sich.

Die umgekehrte Überweisung von Italien nach Deutschland würde man asymmetrisch behandeln: es werden von der italienischen Bank nur Euroreserven für den Transfer akzeptiert, die diese (bzw. die Banca d’Italia) zuvor bei der einer deutschen Geschäftsbank (bzw. der Bundesbank) mittels Tausch gegen Wertpapiere erworben hat. Auf diese Weise wird sich – anders als im bisherigen TARGET-System – der T2-Saldo zumindest nicht erhöhen. Man könnte diesen Vorgang auch daran koppeln, dass die Banca d’Italia einen Aufschlag von sagen wir 5% zahlt, also für einen 100 Mio-Transfer Wertpapiere für 105 Mio überträgt, die den bestehenden T2-Saldo um 5 Mio verringert. Auf diese Weise würde sich bei jedweder grenzüberschreitenden Zahlung der T2-Saldo ein Stückchen verringern. Ist dieser irgendwann Null, so kann man auf das symmetrische System übergehen, wie es auch sonst üblich ist, und Italien tritt aus dem TARGET-System aus. Selbst wenn sich der letztgenannte Aufschlag bei Überweisungen von Italien nach Deutschland politisch nicht durchsetzen ließe, so würden zumindest die Zahlungsvorgänge in die andere Richtung den T2-Saldo abschmelzen.

Das von einigen Ökonomen beschworene „Erpressungspotenzial“, weil Italien mit der Drohung der „Nichtrückzahlung der T2-Schulden“ beinahe jede Forderung durchsetzen könne, kann man auch genau umkehren: Solange noch ein T2-Saldo besteht, muss sich die Banca d’Italia auf die skizzierte technische Regelung einlassen, wenn Italien nicht vom Euroraum abgeschnitten werden will. Das dürfte wohl im beiderseitigen Interesse liegen.  Der Saldo wird dann so zurückgeführt, wie er entstanden ist: allein durch grenzüberschreitende Zahlungsvorgänge. So ganz ohne Katastrophe. Man kann nur hoffen, dass im Fall eines Austritts pragmatische Zentralbanker auf beiden Seiten die Sache in die Hand nehmen und nicht so manche deutsche Leitartikler.

Warnung von 154 Ökonomen vor Haftungsunion in Europa

F.A.Z. vom 21.5.2018: “154 Wirtschaftsprofessoren warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Wir dokumentieren ihren Aufruf im Wortlaut. “ Und ich kommentiere diesen Aufruf im Folgenden (Text des Aufrufs in Kursivschrift) .

1. Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wie geplant als Rückversicherung für die Sanierung von Banken (Backstop) eingesetzt wird, sinkt für Banken und Aufsichtsbehörden der Anreiz, faule Kredite zu bereinigen. Das geht zu Lasten des Wachstums und der Finanzstabilität.

Grundsätzlich ist an diesem Argument etwas dran, dass die Existenz von Sicherungssystemen zu Moral Hazard führen, d.h. der Anreiz für stabilitätskonformes und risikoadäquates Verhalten sinken kann. Auf der anderen Seite kann die Situation, in welcher der ESM einspringt, so konditioniert werden, dass die Entscheidungsträger wenig Interesse am Eintreten dieses Falles haben, also beispielsweise persönlich mithaften müssen, im Vorfeld Entscheidungsbefugnisse übertragen müssen, die Bankenaufsicht Druck ausübt usw. Es ist ja nicht so, dass der Kenntnisstand der VWL bezüglich Moral-Hazard-Fehlanreizen so ist, dass man dem Phänomen hilflos gegenübersteht. Ein etwas mutigeres Abschreiben fauler Kredite und Bereinigung der Portfolios und begleitende Kapitalerhöhungen –  unter Überwachung durch die Bankenaufsicht – kann sogar begünstigt werden, wenn nicht sofort Insolvenz befürchtet werden muss, da es einen Backstop gibt.

2. Wenn der ESM wie geplant als „Europäischer Währungsfonds“ (EWF) in EU-Recht überführt wird, gerät er unter den Einfluss von Ländern, die der Eurozone nicht angehören. Da einzelne Länder bei dringlichen Entscheidungen des EWF das Vetorecht verlieren sollen, könnten Gläubigerländer überstimmt werden. So würde zum Beispiel der Deutsche Bundestag sein Kontrollrecht verlieren.

Das ist eine juristische Frage, die ich schwer überschaue. Ich vermute, es gibt Möglichkeiten, die Entscheidungsbefugnisse auf diejenigen Länder zu begrenzen, die der Eurozone angehören. Ob bei Dringlichkeit automatisch Vetorechte außer Kraft gesetzt werden, dessen bin ich mir auch nicht sicher. Das alles hängt vom Design der Spielregeln ab. Der Deutsche Bundestag müsste selbstverständlich bei der Überführung des ESM in einen EWF gefragt werden, d.h. die Übertragung einer fiskalischen Verantwortung auf eine supranationale Institution muss demokratisch legitimiert werden. Eine Stärkung der demokratischen Legitimierung aller EU-Organe und Entscheidungsabläufe sollte ohnehin ein wichtiges Ziel der EU-Strukturreformvorschläge sein.

3. Wenn die Einlagensicherung für Bankguthaben wie geplant vergemeinschaftet wird, werden auch die Kosten der Fehler sozialisiert, die Banken und Regierungen in der Vergangenheit begangen haben.

Sprechen sich die Unterzeichner nur gegen die europäische Einlagensicherung oder generell gegen eine Einlagensicherung aus? Wenn es für letztere gute ökonomische Argumente gibt (etwa als Antwort auf Bank-Run-Gleichgewichte á la Diamond/Dybvig), dann sollten diese Argumente eigentlich durch eine Verbreiterung des Versicherungspools gestärkt werden. Ähnlich wie bei Punkt 1 erwähnt, muss das Einspringen der Einlagensicherung im Krisenfall konditioniert werden, so dass es für Banken in jedem Fall ein unangenehmes, zu vermeidendes Ereignis darstellt. Durch die Verbreiterung der Basis auf ganz Europa sollten die Prämien für eine Einlagensicherung aufgrund von Poolingeffekten sinken. Hinter dem Aufruf steht das Szenario, dass deutsche Banken in den Pool einzahlen, der Versicherungsfall aber in Italien stattfindet. Also im Prinzip: Ich will nicht in eine Krankenversicherung einzahlen, in der auch Leute Mitglied sind, die eventuell rauchen oder zu wenig Sport treiben.

4. Der geplante europäische Investitionsfonds zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der geplante Fonds zur Unterstützung struktureller Reformen dürften zu weiteren Transfers und Krediten an Euroländer führen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Reformmaßnahmen zu ergreifen. Es wäre falsch, Fehlverhalten zu belohnen.

Ein europäischer Investitionsfonds könnte auch zu anderen Zwecken als zur “Stabilisierung” nützlich sein, etwa zu Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben wie z.B. Grenzschutz, später einmal vielleicht einer europäischen Armee, Forschungsförderung, oder auch größerer Infrastrukturprojekte mit länderübergreifenden Spillovereffekten. Hier sehe ich wenig Substanz für Gegenargumente, allerdings würde auch mich die Zielbestimmung “gesamtwirtschaftliche Stabilisierung” stören. Unterstützung struktureller Reformen werden von den Unterzeichnern abgelehnt gerade weil man zwar Strukturreformen haben will, man aber nicht möchte, dass Mitnahmeeffekte entstehen oder Reformen verschleppt werden, um für deren Durchführung Geld zu erpressen. Das ist einsichtig. Auf der anderen Seite hängt auch dies von der Konditionierung der Unterstützung ab. Ob Reformschritte eher durchgeführt werden, wenn es dafür zusätzliche Anreize gibt, oder eher verschleppt werden, um damit Anreizzahlungen zu erpressen, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Die letztere Variante geht, wie auch alle anderen Moral-Hazard-Argumente der Unterzeichner, von dem pessimistischsten und krudesten Verhalten der europäischen Partnerländer aus. Das zeigt der Satz, dass “Fehlverhalten nicht belohnt werden” solle – obwohl der Fond ja eigentlich den Abbau des Fehlverhaltens zum Ziel hat! Letzteres scheint den Unterzeichnern so abwegig, dass er keiner Erwähnung wert ist. Ein Fond muss im übrigen auch nicht bedeuten, dass Reformschritte direkt monetär belohnt werden: der Reformprozess soll “unterstützt” werden, das kann man auch so verstehen, dass einem Kind Nachhilfe finanziert wird und nicht das Schreiben guter Schulnoten monetär belohnt wird (und daher jegliche intrinsische Motivation für die Schule zu lernen unterminiert wird). Als Ökonom möchte ich schon etwas genauer die Ausgestaltung eines Instruments anschauen anstatt es in Bausch und Bogen zu verdammen.

Über das Interbankzahlungssystem Target2 hat Deutschland bereits Verbindlichkeiten der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro akzeptiert, die nicht verzinst werden und nicht zurückgezahlt werden müssen.

Hier wird eine alte Debatte aufgewärmt, auf die ich zum einen nicht eingehen möchte, und bei der ich zum anderen keinen direkten Bezug zu dem vorherigen Absatz sehe, in dessen Kontext diese Aussage steht. Denn um “Transferzahlungen” handelt es sich bei den Target2-Salden nicht, soll aber wohl suggeriert werden.

5. Ein Europäischer Finanzminister mit Fiskalkapazität würde als Gesprächspartner der EZB dazu beitragen, dass die Geldpolitik noch stärker politisiert wird. Die sehr umfangreichen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (2550 Milliarden Euro bis September 2018) kommen schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich.

Ein europäischer Finanzminister mit einer Fiskalkapazität für gemeinschaftliche Aufgaben (wie in Punkt 4 angedeutet) müsste demokratisch legitimiert sein, was generell auf eine politische Reform der EU verweist. Wieso dieser plötzlich ein “Gesprächspartner der EZB” wäre im Unterschied zu den nationalen Finanzministern heute, ist mir unklar. Auch ist unklar, was “Gesprächspartner” bedeuten soll. Etwa, dass man miteinander spricht? Das wäre ja in der Tat ganz furchtbar… In einer Welt, in der die formalen Voraussetzungen des Tinbergen-Modells nicht erfüllt sind, also ein “Assignment” der wirtschaftspolitischen Träger mit geradezu autistischen Zügen nicht das Gebot der Stunde ist, ist Politik-Koordination durchaus sinnvoll. Selbst ganz ohne Kommunikation sind Geld- und Fiskalpolitik strategisch wechselseitig voneinander abhängig, Assignment hin oder her. Das schließt eine klare Bindung an bestimmte Ziele (EZB: Preisniveaustabilität) nicht aus. Die dramatische Semantik der “Politisierung” der Geldpolitik bleibt hier ziemlich inhaltsleer. Die Anleihenkäufe der EZB kann man kritisieren, aber was genau hat das mit der Ablehnung eines europäischen Finanzministers zu tun? Besteht die Befürchtung, dass dieser – Gott bewahre! – etwa “Eurobonds” herausgibt, welche die EZB sofort kauft? Das ließe sich ja durch institutionelle Regeln von vornherein ausschließen. In diesem Zusammenhang verweise ich gerne wieder auf Brunnermeiers Vorschlag der European Safe Bonds (nicht zu verwechseln mit Eurobonds!), welche als Standard-Security für alle europäischen Bankgeschäfte genutzt und auch von der EZB gekauft werden (oder auch verkauft werden, um z.B. den enormen Bestand an Staatsschuldverschreibungen abzubauen), siehe dazu diesen Blogbeitrag.

Es folgen einige weitere nicht-nummerierte Statements in der Erklärung:

Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.

Stimme zu!

Die Haftungsunion unterminiert das Wachstum und gefährdet den Wohlstand in ganz Europa.

Zum einen kommt es darauf an, was genau unter einer “Haftungsunion” verstanden wird. Der Begriff bleibt hier bewusst vage, denn man soll ihn mit etwas a priori Negativen, mit Ängsten assoziieren. Eine analytische Kraft hätte er erst dann, wenn man sich die Mühe macht, für konkrete Ausgestaltungen von Spielregeln in konkreten Situationen konkrete Verhaltensanreize abzuleiten. Zum anderen dürfte es praktisch keine empirischen Belege für die obige Behauptung geben, dennoch drücken die Verfasser es nicht ihre Befürchtung aus, sondern sie konstatieren das wie ein Faktum.

Dies zeigt sich bereits jetzt in einem sinkenden Lohnniveau für immer mehr, meist junge Menschen.

Jetzt kippt der Text schon fast in den Bereich der Phantasie: Es wird vor geplanten Haftungsunionen gewarnt, gleichzeitig scheinen Haftungsunionen aber schon in signifikantem Umfang zu existieren (an was genau denken die Verfasser hier?), denn sonst könnte man nicht schon existierende negative Konsequenzen darauf zurückführen. Und sehe ich das richtig, dass hier liberale, eher angebotsorientierte Ökonomen ein sinkendes Lohnniveau nicht nur empirisch feststellen, sondern sogar als Problem empfinden? Sind das nicht dieselben Ökonomen, die für die überschuldeten Südeuropäer eine reale Abwertung (also sprich: sinkende Reallöhne) gefordert haben um wieder wettbewerbsfähig zu werden? Und die die Arbeitsmarkt-Strukturreformen in Deutschland befürwortet haben, welche tendenziell Niedriglohnarbeit gefördert hat, wenngleich aber auch die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist? Und die möglichst ungehemmten Freihandel und Globalisierung befürworten, wobei dann die Lohnspreizung zwischen qualifizierten und weniger qualifizierter Arbeit steigen kann (Stolper-Samuelson-Effekt)? Und genau diese Ökonomen sehen nun sinkende Löhne als Resultat einer europäischen “Haftungsunion” (?) an? Es kann an meiner mangelnden Literaturkenntnis liegen, aber für diese m.E. absurde Behauptung soll es stichhaltige empirische Belege geben? Ich dachte immer, dass Ökonomik heutzutage angeblich so stark “evidenzbasiert” sei. Ach ja, und der kausale Transmissionsmechanismus von einer „Haftungsunion“ zur Lohnsetzung auf dem Arbeitsmarkt erschließt sich mir auch nicht so auf den ersten Blick.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen.

Das unterstütze ich und möchte hinzufügen: einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, die bei der Gestaltung und Durchsetzung ihrer Spielregeln sowohl die ökologische und soziale Nachhaltigkeit, als auch die neuartigen Bedingungen globalisierter Produktion und der informationsbasierten Digitalwirtschaft im Blick hat. Daher ist “rück”besinnen vielleicht ein wenig unglücklich formuliert. Aber ein nach vorwärts gerichteter Gestaltungswille ist diesem Aufruf nicht unbedingt zu entnehmen. Es klingt eher wie ein Appell, auf dem Weg des fortschreitenden Übels “Europa” innezuhalten und zur Bundesrepublik Adenauers und Erhards zurückzukehren.

Es gilt, Strukturreformen voranzubringen, statt neue Kreditlinien und Anreize für wirtschaftliches Fehlverhalten zu schaffen.

Man kann die Vorschläge zur Umgestaltung der Europäischen Union (Macron und andere) durchaus als Teil solcher “Strukturreformen” verstehen. Strukturreformen sind bei den Unterzeichnern ein stets positiv konnotierter Begriff. “Neue Kreditlinien” sind keine substanziellen Forderungen, die irgendjemand stellt, es ist deshalb rhetorisch billig, dies dem Argumentationsgegner zu unterstellen um dann demonstrativ dagegen zu sein. Ich denke, man wollte gerne gegen ein weiteres Hilfspaket für Griechenland und möglicherweise demnächst ins Haus stehende Hilfen für Italien vorbeugen. Aber das ist nicht Gegenstand der europäischen Reformdebatte, ist hier also fehlplatziert. Ob bei den gemachten Vorschlägen Anreize zu Fehlverhalten produziert werden, möchte ich sehr zurückhaltend bewerten, da kommt es genau auf die Konditionalitäten, die Ausgestaltung an. Das ist intellektuelle Detailarbeit, für die Ökonomen nun mal da sind. In der hier zugespitzten Form wirkt es wie eine ordnungsökonomische Keule, mit der mit Stumpf und Stil jeglicher Vorschlag niedergeknüppelt wird, der nach “mehr Europa” klingt.

Die Privilegierung der Staatsanleihen in der Risikovorsorge der Banken ist abzuschaffen.

Immerhin mal ein konkreter Vorschlag! Wenn diese Forderung lediglich bedeutet, dass Staatsanleihen mit einem positiven Risikofaktor gewichtet und somit einer Kapitaldeckung unterworfen werden sollen, so spricht nichts dagegen. Wie wäre es darüber hinaus mit Eurpean Safe Bonds, um den “diabolic loop” zwischen Staatsschulden und Bankenrettung zu durchbrechen (siehe Blogbeitrag)?

Die Eurozone braucht ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten und ein geordnetes Austrittsverfahren.

Ja, dem stimme ich zu. Das ist keine neue Feststellung.

Die Kapitalmarktunion sollte vollendet werden – auch weil internationale Kapitalbewegungen asymmetrische Schocks kompensieren.

Ich bin verblüfft, denn hier wird ein Begriff, in dem das Wort “Union” vorkommt, positiv konnotiert, aber es geht ja auch um den Kapitalmarkt, um dessen Funktionsfähigkeit man sich sorgt. In meiner Lesart bedeutet Kapitalmarktunion: einheitliche strikte Finanzmarktregulierungen, einheitliche Bankenaufsicht, ein europäischer Einlagensicherungsfond, vielleicht sogar Umbau des ESM zu einem EWF …. Nein, ich glaube nicht, dass es das ist, was die Unterzeichner meinen. „Asymmetrische Schocks kompensieren“ funktioniert u.a. über hohe Faktormobilität, das ist richtig. Im Fall des Faktors Kapital ist es jedoch in der Literatur etwas umstritten, ob asymmetrische Schocks stets absorbiert oder u.U. sogar verstärkt werden können. Vielleicht darf daran erinnert werden, dass genau solche Kapitaltransfers zu hohen Target2-Salden führen.

Bei der EZB sollten Haftung und Stimmrechte miteinander verbunden werden.

Darüber kann man durchaus nachdenken. Das kann ich momentan nicht beurteilen.

Die Target-Salden sind regelmäßig zu begleichen.

Wie wäre es mit Euopean Safe Bonds als Clearing-Instrument (siehe Blogbeitrag)? Leider ist das Target-System in dieser Hinsicht fehlkonstruiert. In der jetzigen Form ist die Forderung wohlfeil, aber kaum zu realisieren. Da erwarte ich von den Unterzeichnern konkrete Reformideen.

Die Ankäufe von Staatsanleihen sollten ein schnelles Ende finden.

Zwar habe ich nie etwas von der ordoliberalen Teufelszeug-Rhetorik gegen die QE-Maßnahmen der EZB gehalten, bin aber auch der Meinung, dass dieses Instrument inzwischen relativ wenig wirksam ist, so dass es in keinem Verhältnis zu den eingegangenen Bilanzrisiken steht. Generell obliegt die Entscheidung darüber aber der unabhängigen Zentralbank, die sich weder von der Fiskalpolitik, noch von deutschen Ökonomen reinreden lässt und nur so ihre Glaubwürdigkeit behält. Ordoliberale betonen stets, dass die Zentralbank in der Wahl ihrer Mittel unabhängig sein müsse, nun wollen sie ihr aber gleichzeitig vorschreiben, was zu tun ist. Das ist bemerkenswert.

Gegen eine Bindung an wohldurchdachte ordnungsökonomische Prinzipien und Spielregeln ist überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber die Expertise von Ökonomen sollte gerade darin bestehen, diese Spielregeln im Detail zu analysieren und Designvorschläge zu machen, welche Fehlanreize verhindern. Stattdessen wird mit relativ geringer empirischer Evidenz pauschal vor (fast) allem gewarnt, das irgendwie “Union” und “Gemeinschaft” im Namen trägt. Der Duktus des ganzen Aufrufs ist, dass Nationalstaaten für sich selbst verantwortlich bleiben sollen und insbesondere das mustergültige Deutschland sich gegen die Zumutungen der Sünder-Staaten abgrenzen müsse. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass weniger Europa und mehr nationale Zuständigkeiten besser sei, statt sich mit den Details zu befassen, wie man z.B. die Macron-Vorschläge hier verbessern oder dort entschärfen könnte um die EWWU voranzubringen. Es atmet den Geist von tiefer Europa-Skepsis. Kein Wunder also, dass Beatrix von Storch auf Twitter kommentiert: “154 Wirtschafsprofessoren rufen dringend zur Wahl der AfD auf.”

Schade eigentlich, da auch mir Ordnungsökonomik wichtig ist.

ESBies: Ein Instrument zur Reduktion von Risiken im Eurosystem

[Siehe Follow-Up am Ende des Beitrags]

Im Folgenden geht es um zwei mehr oder weniger voneinander unabhängige Risiken im Eurosystem, nämlich erstens um die Bilanzrisiken der EZB aufgrund des Quantitative Easing (QE), und zweitens um die enorm hohen TARGET2-Salden im Eurosystem (siehe ausführliches Papier hier). QE hat die ESZB-Bilanz stark ausgedehnt. Mir geht es hier nicht um eine kritische Würdigung der unkonventionellen Maßnahmen insgesamt, sondern ausschließlich um das Problem, dass zum einen eine kurz- bis mittelfristige Rückführung der Geldbasis kaum möglich erscheint. Werden Staatspapiere fällig, so verringert sich zwar die Geldbasis automatisch, aber die Fälligkeit der meisten Papiere liegt in ferner Zukunft. Dieser Automatismus ist also für eine Exit-Strategie wenig geeignet. Ein massiver Verkauf der Papiere ist wegen des dadurch erzeugten Preis- und Zinsdrucks ebenfalls kaum möglich. Zum anderen besteht das Risiko, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder auch nur der Erwartung höherer staatlicher Budgetrisiken die Preise der bereits gekauften und bilanzierten Papiere fällt, und die EZB somit zu hohen Abschreibungen gezwungen sein wird. Aus dem Grund hat sie bereits Rückstellungen gebildet. Da die EZB formal nicht insolvent werden kann (d.h. auch mit negativem Eigenkapital durchaus weiterarbeiten kann), sollte dieses Risiko nicht dramatisiert werden. Aber erstrebenswert ist es nicht.

Nun haben bereits vor ein paar Jahren Brunnermeier et al. (2011, 2016) einen Vorschlag entwickelt, nämlich die Konstruktion eines European Safe Bonds (ESBies), einem Derivat, hinter dem ein ein Pool aus Staatsanleihen europäischer Länder steht. Im Grunde funktioniert das Instrument wie jedes Asset Backed Security (ABS) durch den Pooling-Effekt: das Ausfallrisiko des Derivats ist überschaubar, da der gleichzeitige Ausfall gleich mehrerer Staaten unwahrscheinlich ist, und die Risikoprämie entsprechend etwas kleiner ist als im Durchschnitt der einzelnen darin enthaltenen Titel. Die Autoren schlagen vor, dieses Derivat in Tranchen aufzuteilen – auch dies ähnlich wie bei anderen ABS. Die Senior Tranche ist dabei so konstruiert, dass sie den Zinssatz (und Risikoprämie) des besten darin enthaltenen AAA-Bonds hat (z.B. eine deutsche Staatsanleihe). Risiko und Zinssatz der  Junior Tranche ist entsprechend höher. Im Grunde nutzt man die Möglichkeiten der Finanzintermediationstechniken für die Finanzierung europäischer Staaten geschickt aus, und schafft dabei ein europaweites hochliquides Finanzinstrument. Um voreiligen Schlüssen vorzubeugen: Nein, dies ist kein Eurobond im Sinne einer “Vergemeinschaftung von Schulden”! Die Staaten sind für ihre eigenen Schulden verantwortlich. Kein Staat kann ESBies herausgeben und sich darüber finanzieren, oder über dieses Instrument Risiken auf andere abwälzen. Ändern sich Risiken einzelner Staaten, ändert sich entsprechend die Performance des ESBies und die begebende Institution muss ggf. entsprechend die Struktur des ESB und das Tranching anpassen. Es ist strenggenommen noch nicht einmal ein politischer Akt der Einführung von ESBies notwendig, denn der Markt selbst könnte ohne weiteres ungefragt solche Derivate produzieren. Denjenigen Deutschen, die bei der Wortkombination “Euro” und “Bond” bereits aufhören zu lesen und zu protestieren anfangen, entgehen leider ein paar erhellende Einsichten.

Man kann sich nun vorstellen, dass eine Institution (ein “Special Purpose Vehicle” im öffentlichen Auftrag oder auch private SPV) in großen Stil Staatspapiere zum Beispiel aus Beständen des ESZB, aber auch von anderen Anlegern aufnimmt, poolt, in eine sichere Senior-Tranche (ESBie) und einer riskante Junior-Tranche verwandelt, und an interessierte Anleger weiterverkauft, z.B. wiederum Zentralbanken, Banken oder Fonds. Aufgrund des Pooling-Effekts dürfte für renditeorientierte Anleger eine Junior-Tranche vielleicht interessanter sein als direkt eine griechische Staatsanleihe zu kaufen (die aber gleichwohl zu einem gewissen Prozentsatz in der Tranche enthalten ist). Die Senior-Tranchen könnten als Sicherheit von Banken gehalten werden. Gegebenenfalls kann man deren Nachfrage nach Senior-ESBies sogar erzwingen, indem das ESZB diese als Sicherheiten für Refinanzierungsgeschäfte verlangt. Auf diese Weise könnte die EZB auch vor Fälligkeit in größerem Umfang Staatspapiere loswerden ohne diese direkt auf Sekundärmärkten verkaufen und somit Preisdruck hervorrufen zu müssen. Im Januar 2017 hat Gerald Braunberger diesen Gedanken des Brunnermeier-Papiers bereits in der F.A.Z. sehr schön diskutiert. Sofern Banken diese ESBies dann kaufen (und entsprechend mit Reserven bezahlen), sinkt die Geldbasis. Dies würde der EZB sehr viel mehr Flexibilität für eine mögliche Exit-Strategie aus ihrem QE-Programm bringen.

In diesem Beitrag gehe ich noch einen Schritt weiter: Diejenigen ESBies, welche nicht an Banken verkauft werden, verbleiben in den Bilanzen der EZB sowie der nationalen Zentralbanken. Da es sich um ein europaweit einheitliches liquides Finanzprodukt handelt, wäre es möglich, ähnlich wie im amerikanischen Fed-System, einen Clearing-Mechanismus bei grenzüberschreitendem Zentralbankverkehr einzubauen. TARGET2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Zahlungen, da mit einer Überweisung von Bank A aus Land X zu Bank B in Land Y nicht nur die Depositen, sondern auch die entsprechenden Reserven von Bilanz A in die Bilanz B wandern. Findet der Transfer innerhalb eines Raumes mit nur einer Zentralbank statt, so würde dieselbe Reservemenge von Bank B statt Bank A bei der Zentralbank gehalten. Da aber Banken nur Refinanzierungsgeschäfte mit ihrer jeweiligen nationalen Zentralbank tätigen, ergibt sich auf Zentralbankebene nun ein Saldo (TARGET2), da die Aktivseiten der nationalen Zentralbanken bei diesem Transfer unberührt bleiben und somit dieser Saldo entsteht. Derzeit hat die deutsche Bundesbank enorm hohe “Forderungen” gegenüber südlichen Zentralbanken, etwa der griechischen, wobei der Terminus “Forderung” eine Interpretation als “Kredit” oder gar “Kredit aus der (elektronischen) Notenpresse”(H.-W. Sinn) nahelegt. Das ist jedoch umstritten ist, denn weder geht davon eine Finanzierungswirkung für jemanden aus Land X aus, noch implizieren die salden-bedingte Verlängerung der Zentralbankbilanzen eine Geldmengenerhöhung (siehe dazu Burgold und Voll (2012)). Der TARGET2-Saldo ist nicht eine Finanzierungsvoraussetzung, damit der griechische Importeur (per “elektronischem Kredit”) die deutsche Ware kaufen kann (“wir” also “deren” Leistungsbilanzdefizit finanzieren), sondern ist vielmehr Resultat einer Zahlung, die der Importeur möglicherweise aus eigenen Mitteln finanzieren konnte. Diese Debatte soll aber hier nicht das Thema sein.

Würden alle nationalen Zentralbanken ESBies halten, so würden bei grenzüberschreitendem Zahlungsverkehr die ursprünglichen “Forderungen”, welche bei der nationalen Zentralbank in Land X denjenigen Reserven gegenüberstehen, die nun in Land Y geflossen sind, eben auch die entsprechenden Forderungen in gleicher Höhe in Gestalt von ESBies an die Zentralbank in Land Y übertragen. So wie zwischen Geschäftsbanken stets Depositen und Reserven von einer Bilanz zur anderen überwiesen werden, werden nun Reserven und ESBies von einer Zentralbankbilanz zur anderen überweisen. Ein TARGET2-Saldo würde nicht entstehen (oder nur temporär, wenn Zentralbank X momentan nicht über genügend ESBies verfügt und sich diese erst am Markt beschaffen muss). Ein permanentes Clearing wäre die Folge, was Ähnlichkeiten zum amerikanischen Fed-System aufweisen würde (siehe Voll (2014)). Der Austritt aus der Währungsunion wäre nicht mehr mit verbleibenden “Forderungen” gegenüber der austretenden Zentralbank verbunden.

Auch die sehr hohen Bestände von TARGET2-Salden ließen sich ohne Effekte auf die Basisgeldmenge reduzieren: Zentralbank X müsste entweder einen Teil seiner Staatspapiere in das “Special Purpose Vehicle” auslagern und in ESBies umtauschen (Aktivtausch), anschließend an die Zentralbank in Y transferieren und den existierenden Saldo glattstellen. Soll die Menge an ESB ebenfalls konstant bleiben, so könnte Zentralbank X Aktiva mit Geschäftsbanken tauschen, sofern letztere bereit wären, ESB gegen die von Zentralbank X gehaltenen Aktiva zu tauschen. Das wäre sicherlich eine Frage des Preises, aber im Prinzip möglich. Man kann auch daran denken, auch Junior-ESB einzubeziehen.

Ein weiterer Vorteil wäre, dass nationale Geschäfts- und Zentralbanken nicht auf das Halten heimischer Staatsanleihen fixiert wären. Dies führt nämlich zu einem “diabolic loop”, weil Zweifel an der staatlichen Zahlungsfähigkeit zu einem Preisverfall deren Papiere führt und damit die nationalen Banken in Bedrängnis bringt, so dass wiederum teure staatliche Bankenrettungsmaßnahmen nötig werden können. Wie Brunnermeier et al. zeigen, sind ESB ein Instrument, diese Zirkularität zu durchbrechen.

Brunermeier et al. (2016) haben diesen Vorschlag mit empirischen Daten in aufwändigen Simulationen durchgerechnet um die Eigenschaften der ESBies und Junior-Tranchen für unterschiedliche Risiko-Szenarien zu untersuchen. Zwar ist richtig, dass viele Menschen seit der Finanzkrise eine Gänsehaut bekommen, wenn sie auch nur “Derivate”, “Asset Backed Securities”, “Tranching” oder “Hedging” hören, aber es ist zu hoffen, dass geldpolitische Entscheidungsträger und Europapolitiker genügend Expertise haben um zu erkennen, dass man die Vorteile von Finanzintermediation nicht einfach links liegen lassen, sondern nutzen sollte.

[Follow-Up: Kommentar zum Gastkommentar von Ludger Schuknecht und Levin Holle in der FAZ vom 23.11.2017]

In der FAZ-Überschrift und im Teaser ist von ESBies als „Euro-Anleihen“ und „Schuldenvergemeinschaftung“ die Rede. Das ist irreführend! Mit ESBies werden keine neuen Anleihen begeben, die dem Staat Geld bescheren, und von einer „Vergemeinschaftung“ im Sinne einer gemeinschaftlichen Haftung kann nicht die Rede sein, im Gegenteil. ESBis werden so schon nach wenigen Zeilen in unmittelbare Nähe zu Eurobomds gerückt, wo der Durchschnitts-FAZ-Leser bereits aufhört zu lesen und negativ voreingenommen wird. Man kann nur hoffen, dass nicht die Autoren selbst, beide hochrangige Mitarbeiter des BMF, diese Begriffe gewählt haben.

Die Autoren befürchten, dass es sich um ein „Schönwetterkonstrukt“ handelt, und im Krisenfall eines Staates die Nachfrage nach Junior-Tranchen versiegt und so eine Emission von ESBies nicht mehr möglich sei. Zum einen zweifeln sie damit die ausführlichen Simulationen von Brunnermeier et al. an, die genau die Auswirkungen solcher Krisenfälle untersucht haben. Da hätte man schon gerne gewusst, wie die Autoren zu dieser abweichenden Einschätzung kommen. Zum anderen betrifft ihr Argument in erster Linie die Neu-Emission von ESBies, da im Krisenfall lediglich die Junior-Tranchen an Wert verlieren werden. Bei der Neu-Emission würde sich aber die Portfoliozusammensetzung und der Tranching-Punkt entsprechend der neuen Situation anpassen. Papiere von Krisenstaaten hätten dann ein geringeres Gewicht oder fallen ganz heraus.

Die Autoren bemängeln, dass ESBies nicht das verfügbare Volumen an sicheren liquiden Anlagen erhöhen, da ja in entsprechendem Umfang die emittierende Institution sichere Staatsanleihen vom Markt weggekauft hat. Das allerdings ist trivial. Es ist auch gar nicht der vorrangige Zweck von ESBies, in großen Stil zusätzliche sichere Assets bereitzustellen, aber ein über Ländergrenzen hinweg einheitliches Asset (was zumindest einen gewissen Einfluss auf die Liquiditätsprämie haben dürfte, da die Marktsegmentierung abnimmt). Zudem scheinen die Autoren zu übersehen, dass der Sinn der Übung doch gerade die Nutzung des Pooling-Effektes ist: die Assets, die schon zuvor ein AAA-Rating hatten, gehen nun in einem synthetischen Asset auf, welches ebenfalls dieses Rating hat. Durch Pooling und Tranching jedoch können auch AA, oder A-Papiere zu dem synthetischen Papier beitragen, wodurch sich eben doch der Gesamtumfang von AAA-Papieren (wenn auch nicht dramatisch) erhöht. Auch verstehe ich die Logik nicht ganz, weshalb dieses Argument gegen ESBies spricht.

Schließlich bemängeln die Autoren, dass ein synthetisches Konstrukt komplexer, intransparenter, und daher risikoreicher sei. Man sei auf das Risikomanagement des Emittenten angewiesen. Wir sprechen hier von Staatsschuldverschreibungen und klaren transparenten Regeln nach dem ESBies Handbook, das alles möglicherweise überwacht und zertifiziert durch öffentliche Institutionen. Die Zielgruppe der Abnehmer sind Banken des Euroraums sowie (Geldmarkt-) Fonds, nicht so sehr Oma Paschulke, oder Zeitungsleser, bei denen sich beim Wort „synthetisches Derivat“ schon Verwirrung einstellt. Die Autoren meinen, dass deshalb wohl eine regulatorische Privilegierung notwendig sei, diese jedoch „nicht gewollt sein kann“. Da liegt wohl ein Missverständnis vor, denn genau das ist durchaus gewollt. Wenn ESBies als Standard-Asset in Bankbilanzen verwendet wird, z.B. weil diese als Sicherheit für Offenmarktgeschäfte gefordert sind, oder weil diese, wie bisher schon AAA-geratete Staatsanleihen, keine Eigenkapitalanforderung benötigen, dann wird z.B. der „Diabolic Loop“ durchbrochen, wie Brunnermeier et al. argumentieren, und dann ergeben sich auch die potenziellen Vorteile, die ich weiter oben beschrieben habe. Ich sehe nicht, weshalb man die Vorteile der Finanzintermediation einfach ungenutzt lassen sollte.

Als Alternative und letztlich besseren Weg zur Stabilität im Euroraum schlagen die Autoren zwei Banalitäten vor: (i) die adäquate Risikobepreisung auch von Staatsanleihen mit entsprechenden Eigenkapitalanforderungen in Bankbilanzen. Das ist natürlich ein sehr guter Vorschlag und wird von Ökonomen schon lange eingefordert. Er spricht aber nicht gegen ESBies, die eben genau aufgrund eines solchen Schritts attraktiver werden würden, zumindest bei Banken, die bislang nur B-Staatsanleihen in ihrer Bilanz halten. (ii)  Die Staaten sollten für solide Staatsfinanzen sorgen. Ach du meine Güte, ja wer soll denn da etwas dagegen haben. Die ESBies sind ja nun wahrlich kein Instrument, das als Alternative zu soliden Staatsfinanzen gedacht ist. Wer unsolide wirtschaftet, dessen emittierte Anleihen werden in stetig sinkendem Maß im ESBie-Portfolio berücksichtigt, so dass Staaten gerade einen Anreiz zu soliden Staatsfinanzen haben sollten. Diese Vorschläge der Autoren werden bei FAZ-Lesern reflexhaften Beifall hervorrufen. Aber es ist ungefähr so, als würden Herzchirurgen über die Vorteilhaftigkeit einer neuen Generation von Herzkathedern diskutieren, und einer lehnt diese pauschal ab, weil es doch viel besser sei, wenn potenzielle Patienten vorher mehr Sport treiben würden.