Schlagwort-Archive: Europa

Urheberrecht im digitalen Zeitalter

In ihrem Kommentar „Es geht um Fairness – nicht um Zensur“ in der FAZ vom 4.7.2018 plädiert die Stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses des Europäischen Parlaments, Helga Trüpel, wie schon bereits in früheren Kommentaren, für eine starke ordnungsökonomische Antwort der Gesellschaft auf die Macht der Digitalkonzerne. Die Spielregeln im Umgang mit Daten und in diesem Fall auch mit den Urheberrechten sollten nicht von den großen Plattformen diktiert werden, sondern müssten gesellschaftliche gestaltet und für diese Konzerne verbindlich durchsetzbar gemacht werden. Wer den „digitalen Kapitalismus“ mit den Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft zähmen will, muss auf neue technologische Entwicklungen neue ordnungsökonomische Antworten entwickeln. Soweit die sehr überzeugende Grundhaltung von Frau Trüpel, die ich teile.

Sie kündigt an, im Europaparlament deshalb für die Vorschläge des Rechtsausschusses zur Reform des EU-Urheberrechts zu stimmen. Sie begründet dies mit der Fairness gegenüber den Kreativen, deren Schöpfungen von Digitalplattformen indirekt enorm erfolgreich vermarktet werden, an diesem Erfolg jedoch nicht fair partizipieren. Auch dieser Gedanke ist im Großen und Ganzen richtig. Der Teufel steckt jedoch im Detail, und hier macht es sich Frau Trüpel leider sehr einfach, auch wenn sie mit dem Rekurs auf den philosophischen Freiheitsbegriff und dem Berufen auf ordnungsökonomische Grundsätze versucht, die eher schlichten Argumente intellektuell zu veredeln.

Sie diagnostiziert, dass viele aus der „Netzgemeinde“, die sich gegen ein strengeres, auf die Digitalwirtschaft ausgelegtes Urheberrecht aussprechen, einem anarchistischen und letztlich „neoliberalen“ Freiheitsbegriff „auf den Leim gehen“. Diesen radikalen Freiheitsbegriff findet Frau Trüpel erstaunlich, weil doch ansonsten dieselbe Klientel etwa bei Fragen der Globalisierung sich für strikte Regulierungen des freien Marktes bzw. des Freihandels einsetzen, damit soziale und ökologische Standards gewährleistet werden. Dieser Interpretation widerspreche ich. Das Einsetzen für soziale und ökologische Regulierungen entspringt demselben Freiheitsbegriff: Freiheit erfordert, dass der Einzelne die Konsequenzen seiner Entscheidungen überschauen, bewerten, und verantworten kann. Bei Vorliegen von Externalitäten und Informationsasymmetrien gewährleistet aber der Markt und dessen Preissystem dies aber gerade nicht. Mit zunehmender Globalisierung wird es sogar immer schwieriger, die globalen Handlungsfolgen z.B. von Konsumentscheidungen zu verantworten, da sie sich nur sehr unzureichend im Preissystem widerspiegeln und somit die souveräne freie Entscheidung letztlich unterminieren. Die Begriffe „freier Markt“ und „Freihandel“, verstanden als ein möglichst unreguliertes System, sind ein völliges Missverständnis. Wer regulatorische Umweltstandards als „Hemmnis für den Freihandel“ bezeichnet, versteht von Allokationstheorie und dem Funktionieren von Märkten nichts. Hier kann man der angesprochenen Klientel also ein ein aufgeklärtes modernes Verständnis von Freiheit und Liberalismus zusprechen, was Frau Trüpel auch tut.

Mit demselben Freiheitsverständnis kann man nun fragen, wie es um die Macht der Digitalkonzerne und -plattformen bestellt ist und wie eine Gesellschaft regulatorisch bzw. ordnungsökonomisch darauf antworten soll. Die diesbezügliche Beschlussvorlage des Europaparlaments, dem Frau Trüpel zuzustimmen gedenkt, sieht vor, dass Digitalplattformen selbst, nicht nur die Nutzer, welche urheberrechtlich geschütztes Material hochladen, für die Urheberrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Daher sollen sie verpflichtet werden, Uploadfilter zu verwenden. In der Tat gibt es bereits Technologien, die von Google entwickelt und bei Youtube eingesetzt werden, welche Grundlage für solche Filter sein könnten (ContentID). Kritiker befürchten das Entstehen einer „Zensurmaschine“. Frau Trüpel wiederum weist dies zurück und argumentiert, dass es hier um Fairness gegenüber den Urhebern und nicht um Zensur ginge, und unterstellt den Kritikern unnötigerweise ein anarchistisches Freiheitsverständnis, also letztlich fehlenden Respekt vor den Kreativen. Das ist leider außerordentlich schlicht, zumal auch der sonstige Aufbau ihres FAZ-Beitrags logisch holpert. In zahlreichen Kommentaren, u.a. auch in der FAZ oder im Deutschlandfunk, wurde auf mehrere sehr gut begründbare Probleme dieser Filtertechnologie hingewiesen, die das eigentliche Ziel ggf. sogar unterminieren können. Auf all dies geht Frau Trüpel gar nicht ein. Sie wägt kein Für und Wider ab, sie stellt den Chancen der Zielerreichung nicht die Risiken von Kollateralschänden gegenüber. Als Politiker*in fühlt man sich vermutlich wirkmächtig, wenn man etwas beschließen kann, was die ökonomische und gesellschaftliche Realität gegen die Interessen der Großkonzerne verändert. Das übt einen großen Reiz aus, der einen leicht verdrängen lässt, wie wenig man als Politiker*in über die Details digitaler Technologien und deren ökonomischen Anreizwirkungen letztlich weiß. Nur zur Erinnerung seien ein paar Stichpunkte zu den Uploadfiltern genannt:

  • Diese Technologie ist sehr aufwändig, aber zwingend notwendig, wenn sich Konzerne vor Klagen gegen Urheberrechtsverletzungen schützen müssen. Um Millionen oder Milliarden von Content-Schnipseln auf etwaige Rechtsverletzungen zu überprüfen, müssen Algorithmen eingesetzt werden, die KI-basiert erlernen, wann es sich um eine Rechtsverletzung handelt. Wegen dieses sehr hohen Know-Hows und technologischen Aufwandes werden sich kleine Anbieter das nicht leisten können. Die Macht der ohnehin schon sehr großen Konzerne wirkt gestärkt, da nun kaum überwindbare Markteintrittsbarrieren bestehen.
  • Die Algorithmen werden nie perfekt in ihrem Urteil sein. Es wird Fehler erster und zweiter Ordnung geben (zulässiger Content wird falsch als unzulässig erkannt, unzulässiger Content wird falsch als zulässig erkannt). Da der zweite Fehler dem Konzern teuer zu stehen kommen kann, wird im Zweifel lieber viel zu viel als unzulässig aussortiert. Daher die Befürchtung der „Zensur“. Beispiele für Überfilterung finden sich täglich in den Medien. Da solche Digitalplattformen faktisch zu einer Infrastruktur gesellschaftlichen Austauschs geworden sind, muss mindestens ein Recht bestehen, zu Unrecht gefilterten Content doch wieder hochladen zu können.
  • Die Befürworter verwenden meist die sehr schlichten Beispiele um ihre Position zu begründen, etwa das unzulässige Hochladen eines Musikvideos von Beyoncé, wo auch der einfältigste Bürger einsehen kann, dass das nicht in Ordnung ist. Aber was ist, wenn diese Musik, vom Algorithmus gerade noch so identifizierbar, im Hintergrund eines privaten Partyvideos zu hören ist? Oder wenn jemand diesen Song nachspielt oder parodiert oder nur auf der Straße pfeift? Was ist mit verfremdeten, z.B. parodierenden Filmsequenzen? Das Urheberrecht gilt auch für Texte: Was ist mit dem Zitatrecht? Usw. usw. Es gibt sehr viele Beispiele, die nur auf den ersten Blick als konstruiert wirken, die aber einen sehr großen Teil gesellschaftlicher Debattenkultur und Kreativität ausmachen. Es reicht hier nicht darauf zu verweisen, dass es Beyoncé ganz sicher nicht darum geht, solche Dinge zu unterbinden. Es liegt gar nicht in der Hand von Beyoncé, sondern in der Hand ihrer Rechteverwerter sowie in der Hand der Abmahnindustrie. Also im Zweifel: lieber den Filter zu scharf stellen!
  • Der Schutz der Kreativen im Bereich Musik, Film, Text usw. ist außerordentlich wichtig und die Notwendigkeit einer fairen Vergütung sollte nicht bezweifelt werden. Da ist Frau Trüpel unbedingt zuzustimmen. Die Gesellschaft ist auf Kreative angewiesen. Was bei digitalen Gütern jedoch „fair“ bedeutet, ist nicht a priori klar und eindeutig. Das Reklamieren des Begriffes „fair“ für die eigene Position immunisiert diese und delegitimiert die Gegenposition. Das kann problematisch werden. Ich möchte daran erinnern, dass in aller Regel nicht die Kreativen unmittelbar, sondern deren Rechteverwerter von einer Vergütung profitieren. Diese verfügen ebenfalls über Marktmacht, und ihr Geschäftsmodell kann man zumindest teilweise als Extraktion von Renten verstehen. Die innere Anreizstruktur solcher Rechteverwerter führt häufig dazu, dass vor allem wenig erfolgreiche Kreative weit überproportional von Vergütungen profitieren („Superstar“-Phänomen), viele kleinere Kreative jedoch kaum oder gar nicht. Es sind daher Superstars wie Paul McCartney, die sich für die Verschärfung des Urheberrechts einsetzen, oder die Musikindustrie, die sich zum Anwalt des kleinen Künstlers aufschwingt. Man kann sich einmal umgekehrt die Frage stellen, ob ein Kreativer, der zwar jenseits der bekannten Plattformen gewisse Einnahmen mit seinen Leistungen generiert (oder auch nicht), auf den Plattformen sein Material sowie sämtlicher Content, den der Algorithmus irgendwie mit seinem geschützten Material in Verbindung bringt, aber geblockt wird, besser gestellt ist als jetzt. Würde er/sie das wollen? Technologien wie ContentID oder auch Experimente mit Blockchains könnten eine Möglichkeit bieten, jenseits kommerzieller Rechteverwerter einzelnen Kreativen die Möglichkeit zu geben, die Nutzung der Werke besser zu kontrollieren und ggf. Einnahmen zu generieren. Solche Ansätze entwickeln sich aber aus dem Know-How der Tech-Unternehmen heraus, nicht aus der staatlichen Regulierung derselben, die in ihrer ordnungsökonomischen Phantasielosigkeit erstarrt ist.

Das zweite große Gebiet der EU-Urheberrechtsreform ist das Leistungsschutzrecht, welches Digitalkonzerne dazu zwingen soll, für Text-Content (in erster Linie sind das Überschriften und Teaser von Nachrichten von Journalisten bzw. deren Zeitungsverlagen) etwas zu bezahlen. Ein solches Leistungsschutzrecht gibt es in Deutschland bereits, und es ist wirkungslos geblieben. Zwar muss z.B. Google („Google News“) Lizenzen erwerben, um das Recht zu erhalten, solche Überschriften und Teaser im eigenen Dienstleistungsangebot verwenden zu dürfen. Jedoch hat Google die Zeitungsverlage quasi gezwungen, solche Lizenzen kostenlos zu erteilen. Ansonsten würde man eben Nachrichten des betreffenden Zeitungsverlages bei „Google News“ einfach nicht mehr zeigen. Die Befürworter eines europäischen Leistungschutzrechtes argumentieren, dass die Gegenmacht der Verlage natürlich sehr viel größer werde, wenn dieses Recht nunmehr europaweit gelte. Man könne dann viel eher „auf Augenhöhe“ verhandeln. Auf den ersten Blick wirkt das überzeugend, und Politiker*innen genügt in aller Regel nur der erste Blick. Man stelle sich zwei Fragen:

  • Warum nur waren deutsche Zeitungsverleger bereit, Google solche Lizenzen kostenlos zu geben? Verleger erzielen Rückflüsse aus dem physischen Verkauf der Zeitungen und Zeitschriften, von Digital-Abos, vor allem aber durch Werbeeinnahmen und ggf. dem Verkauf von Nutzeer(meta)daten an Analysefirmen im Fall des Online-Angebotes. Google News hilft dabei, Nutzer auf die eigenen News-Seiten zu bekommen um dort Klicks und Werbeeinnahmen zu generieren. Davon profitieren die Verlage offenbar in dem Maße, das es ihnen profitabel erscheinen lässt, auf Lizenzeinnahmen zu verzichten statt nicht gelistet zu werden. Ökonomisch gesehen gibt es also bereits auch ohne Leistungsschutzrecht einen Preis für die Nutzung des digitalen Gutes, auch wenn hier keine monetären Zahlungen von Google erfolgen, aber doch eine digitale Leistung, die kein Verlag missen möchte. Es wäre sogar denkbar, dass Google eine Gebühr dafür verlangt, bei „Google News“ gelistet zu werden. In ähnlicher Weise zahlen Nutzer von Google Maps oder der anderen Diensten keinen monetären Preis, sie zahlen mit ihren Daten, welche die Konzerne außerordentlich erfolgreich verwerten. Das ökonomische Verständnis von Anreizstrukturen und Austauschbeziehungen ist eben ein wenig anders und komplexer als bei nicht-digitalen Gütern. Dennoch versuchen Politiker, das althergebrachte Instrumentarium des Urheber- und Leistungsschutzrechtes in derselben Weise auch im digitalen Bereich anzuwenden und verstehen dieses dann als „zeitgemäße Anpassung an die neuen digitalen Herausforderungen“. Im Grunde entstammen die Analyse- und Begründungsmuster aber noch aus der Zeit der Lehrbuch-Ökonomik nicht-digitaler Güter. Das trifft trotz ihrer lobenswerten Grundhaltung auch auf Frau Trüpel zu.
  • Wenn nun ein EU-Leistungsschutzrecht gilt, was würde sich substanziell an den ökonomischen Abwägungen der Verlage ändern? Das Argument, nunmehr „auf Augenhöhe“, also mit ähnlicher Marktmacht verhandeln zu können, setzt voraus, das sich alle Verlage zu einem Verhandlungskartell zusammenschließen – ordnungsökonomisch problematisch, wenn auch vielleicht tolerierbar im Sinn der „countervailing power“. Möglicherweise gelingt es tatsächlich, Google zu Lizenzzahlungen zu bewegen. Es ist aber mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Google News in Europa ohnehin nicht gerade der große Profitbringer ist und dann kurzerhand eingestellt wird, weil man keine Lust hat mit einem europäischen Verlegerkartell zu verhandeln. Oder man listet nur noch nicht-europäische Konkurrenten. Das wäre dann ein toller Erfolg des Gesetzes. Um der Gefahr, dann eben weniger Klicks und weniger Werbeeinnahmen zu bekommen, besteht für einzelne Verlage dann der starke Anreiz, sich aus ökonomischem Eigeninteresse heraus aus dem Kartell zu verabschieden und Google wieder eine Gratislizenz anzubieten.

Ich wünsche mir, dass sich gewählte Politiker*innen nicht bloß mit dem Augenscheinlichen, dem ersten Blick, dem Vordergründigen, dem was sich technisch uninformierten Bürgern gut verkaufen lässt, begnügen. Kluge regulatorische Antworten auf neue digitale Herausforderungen erfordern leider eine Auseinandersetzung mit technischen und ökonomischen Detailfragen und dem mühseligen Abwägen von erwünschten Effekten und unerwünschten Kollateralschäden. Es ist nicht damit getan, mit großer Geste den Kritikern der eigenen Symbolpolitik einen „falschen Freiheitsbegriff“, Geringachtung der Kreativen und mangelnde Fairness zu unterstellen.

Warnung von 154 Ökonomen vor Haftungsunion in Europa

F.A.Z. vom 21.5.2018: “154 Wirtschaftsprofessoren warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Wir dokumentieren ihren Aufruf im Wortlaut. “ Und ich kommentiere diesen Aufruf im Folgenden (Text des Aufrufs in Kursivschrift) .

1. Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wie geplant als Rückversicherung für die Sanierung von Banken (Backstop) eingesetzt wird, sinkt für Banken und Aufsichtsbehörden der Anreiz, faule Kredite zu bereinigen. Das geht zu Lasten des Wachstums und der Finanzstabilität.

Grundsätzlich ist an diesem Argument etwas dran, dass die Existenz von Sicherungssystemen zu Moral Hazard führen, d.h. der Anreiz für stabilitätskonformes und risikoadäquates Verhalten sinken kann. Auf der anderen Seite kann die Situation, in welcher der ESM einspringt, so konditioniert werden, dass die Entscheidungsträger wenig Interesse am Eintreten dieses Falles haben, also beispielsweise persönlich mithaften müssen, im Vorfeld Entscheidungsbefugnisse übertragen müssen, die Bankenaufsicht Druck ausübt usw. Es ist ja nicht so, dass der Kenntnisstand der VWL bezüglich Moral-Hazard-Fehlanreizen so ist, dass man dem Phänomen hilflos gegenübersteht. Ein etwas mutigeres Abschreiben fauler Kredite und Bereinigung der Portfolios und begleitende Kapitalerhöhungen –  unter Überwachung durch die Bankenaufsicht – kann sogar begünstigt werden, wenn nicht sofort Insolvenz befürchtet werden muss, da es einen Backstop gibt.

2. Wenn der ESM wie geplant als „Europäischer Währungsfonds“ (EWF) in EU-Recht überführt wird, gerät er unter den Einfluss von Ländern, die der Eurozone nicht angehören. Da einzelne Länder bei dringlichen Entscheidungen des EWF das Vetorecht verlieren sollen, könnten Gläubigerländer überstimmt werden. So würde zum Beispiel der Deutsche Bundestag sein Kontrollrecht verlieren.

Das ist eine juristische Frage, die ich schwer überschaue. Ich vermute, es gibt Möglichkeiten, die Entscheidungsbefugnisse auf diejenigen Länder zu begrenzen, die der Eurozone angehören. Ob bei Dringlichkeit automatisch Vetorechte außer Kraft gesetzt werden, dessen bin ich mir auch nicht sicher. Das alles hängt vom Design der Spielregeln ab. Der Deutsche Bundestag müsste selbstverständlich bei der Überführung des ESM in einen EWF gefragt werden, d.h. die Übertragung einer fiskalischen Verantwortung auf eine supranationale Institution muss demokratisch legitimiert werden. Eine Stärkung der demokratischen Legitimierung aller EU-Organe und Entscheidungsabläufe sollte ohnehin ein wichtiges Ziel der EU-Strukturreformvorschläge sein.

3. Wenn die Einlagensicherung für Bankguthaben wie geplant vergemeinschaftet wird, werden auch die Kosten der Fehler sozialisiert, die Banken und Regierungen in der Vergangenheit begangen haben.

Sprechen sich die Unterzeichner nur gegen die europäische Einlagensicherung oder generell gegen eine Einlagensicherung aus? Wenn es für letztere gute ökonomische Argumente gibt (etwa als Antwort auf Bank-Run-Gleichgewichte á la Diamond/Dybvig), dann sollten diese Argumente eigentlich durch eine Verbreiterung des Versicherungspools gestärkt werden. Ähnlich wie bei Punkt 1 erwähnt, muss das Einspringen der Einlagensicherung im Krisenfall konditioniert werden, so dass es für Banken in jedem Fall ein unangenehmes, zu vermeidendes Ereignis darstellt. Durch die Verbreiterung der Basis auf ganz Europa sollten die Prämien für eine Einlagensicherung aufgrund von Poolingeffekten sinken. Hinter dem Aufruf steht das Szenario, dass deutsche Banken in den Pool einzahlen, der Versicherungsfall aber in Italien stattfindet. Also im Prinzip: Ich will nicht in eine Krankenversicherung einzahlen, in der auch Leute Mitglied sind, die eventuell rauchen oder zu wenig Sport treiben.

4. Der geplante europäische Investitionsfonds zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der geplante Fonds zur Unterstützung struktureller Reformen dürften zu weiteren Transfers und Krediten an Euroländer führen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Reformmaßnahmen zu ergreifen. Es wäre falsch, Fehlverhalten zu belohnen.

Ein europäischer Investitionsfonds könnte auch zu anderen Zwecken als zur “Stabilisierung” nützlich sein, etwa zu Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben wie z.B. Grenzschutz, später einmal vielleicht einer europäischen Armee, Forschungsförderung, oder auch größerer Infrastrukturprojekte mit länderübergreifenden Spillovereffekten. Hier sehe ich wenig Substanz für Gegenargumente, allerdings würde auch mich die Zielbestimmung “gesamtwirtschaftliche Stabilisierung” stören. Unterstützung struktureller Reformen werden von den Unterzeichnern abgelehnt gerade weil man zwar Strukturreformen haben will, man aber nicht möchte, dass Mitnahmeeffekte entstehen oder Reformen verschleppt werden, um für deren Durchführung Geld zu erpressen. Das ist einsichtig. Auf der anderen Seite hängt auch dies von der Konditionierung der Unterstützung ab. Ob Reformschritte eher durchgeführt werden, wenn es dafür zusätzliche Anreize gibt, oder eher verschleppt werden, um damit Anreizzahlungen zu erpressen, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Die letztere Variante geht, wie auch alle anderen Moral-Hazard-Argumente der Unterzeichner, von dem pessimistischsten und krudesten Verhalten der europäischen Partnerländer aus. Das zeigt der Satz, dass “Fehlverhalten nicht belohnt werden” solle – obwohl der Fond ja eigentlich den Abbau des Fehlverhaltens zum Ziel hat! Letzteres scheint den Unterzeichnern so abwegig, dass er keiner Erwähnung wert ist. Ein Fond muss im übrigen auch nicht bedeuten, dass Reformschritte direkt monetär belohnt werden: der Reformprozess soll “unterstützt” werden, das kann man auch so verstehen, dass einem Kind Nachhilfe finanziert wird und nicht das Schreiben guter Schulnoten monetär belohnt wird (und daher jegliche intrinsische Motivation für die Schule zu lernen unterminiert wird). Als Ökonom möchte ich schon etwas genauer die Ausgestaltung eines Instruments anschauen anstatt es in Bausch und Bogen zu verdammen.

Über das Interbankzahlungssystem Target2 hat Deutschland bereits Verbindlichkeiten der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro akzeptiert, die nicht verzinst werden und nicht zurückgezahlt werden müssen.

Hier wird eine alte Debatte aufgewärmt, auf die ich zum einen nicht eingehen möchte, und bei der ich zum anderen keinen direkten Bezug zu dem vorherigen Absatz sehe, in dessen Kontext diese Aussage steht. Denn um “Transferzahlungen” handelt es sich bei den Target2-Salden nicht, soll aber wohl suggeriert werden.

5. Ein Europäischer Finanzminister mit Fiskalkapazität würde als Gesprächspartner der EZB dazu beitragen, dass die Geldpolitik noch stärker politisiert wird. Die sehr umfangreichen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (2550 Milliarden Euro bis September 2018) kommen schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich.

Ein europäischer Finanzminister mit einer Fiskalkapazität für gemeinschaftliche Aufgaben (wie in Punkt 4 angedeutet) müsste demokratisch legitimiert sein, was generell auf eine politische Reform der EU verweist. Wieso dieser plötzlich ein “Gesprächspartner der EZB” wäre im Unterschied zu den nationalen Finanzministern heute, ist mir unklar. Auch ist unklar, was “Gesprächspartner” bedeuten soll. Etwa, dass man miteinander spricht? Das wäre ja in der Tat ganz furchtbar… In einer Welt, in der die formalen Voraussetzungen des Tinbergen-Modells nicht erfüllt sind, also ein “Assignment” der wirtschaftspolitischen Träger mit geradezu autistischen Zügen nicht das Gebot der Stunde ist, ist Politik-Koordination durchaus sinnvoll. Selbst ganz ohne Kommunikation sind Geld- und Fiskalpolitik strategisch wechselseitig voneinander abhängig, Assignment hin oder her. Das schließt eine klare Bindung an bestimmte Ziele (EZB: Preisniveaustabilität) nicht aus. Die dramatische Semantik der “Politisierung” der Geldpolitik bleibt hier ziemlich inhaltsleer. Die Anleihenkäufe der EZB kann man kritisieren, aber was genau hat das mit der Ablehnung eines europäischen Finanzministers zu tun? Besteht die Befürchtung, dass dieser – Gott bewahre! – etwa “Eurobonds” herausgibt, welche die EZB sofort kauft? Das ließe sich ja durch institutionelle Regeln von vornherein ausschließen. In diesem Zusammenhang verweise ich gerne wieder auf Brunnermeiers Vorschlag der European Safe Bonds (nicht zu verwechseln mit Eurobonds!), welche als Standard-Security für alle europäischen Bankgeschäfte genutzt und auch von der EZB gekauft werden (oder auch verkauft werden, um z.B. den enormen Bestand an Staatsschuldverschreibungen abzubauen), siehe dazu diesen Blogbeitrag.

Es folgen einige weitere nicht-nummerierte Statements in der Erklärung:

Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.

Stimme zu!

Die Haftungsunion unterminiert das Wachstum und gefährdet den Wohlstand in ganz Europa.

Zum einen kommt es darauf an, was genau unter einer “Haftungsunion” verstanden wird. Der Begriff bleibt hier bewusst vage, denn man soll ihn mit etwas a priori Negativen, mit Ängsten assoziieren. Eine analytische Kraft hätte er erst dann, wenn man sich die Mühe macht, für konkrete Ausgestaltungen von Spielregeln in konkreten Situationen konkrete Verhaltensanreize abzuleiten. Zum anderen dürfte es praktisch keine empirischen Belege für die obige Behauptung geben, dennoch drücken die Verfasser es nicht ihre Befürchtung aus, sondern sie konstatieren das wie ein Faktum.

Dies zeigt sich bereits jetzt in einem sinkenden Lohnniveau für immer mehr, meist junge Menschen.

Jetzt kippt der Text schon fast in den Bereich der Phantasie: Es wird vor geplanten Haftungsunionen gewarnt, gleichzeitig scheinen Haftungsunionen aber schon in signifikantem Umfang zu existieren (an was genau denken die Verfasser hier?), denn sonst könnte man nicht schon existierende negative Konsequenzen darauf zurückführen. Und sehe ich das richtig, dass hier liberale, eher angebotsorientierte Ökonomen ein sinkendes Lohnniveau nicht nur empirisch feststellen, sondern sogar als Problem empfinden? Sind das nicht dieselben Ökonomen, die für die überschuldeten Südeuropäer eine reale Abwertung (also sprich: sinkende Reallöhne) gefordert haben um wieder wettbewerbsfähig zu werden? Und die die Arbeitsmarkt-Strukturreformen in Deutschland befürwortet haben, welche tendenziell Niedriglohnarbeit gefördert hat, wenngleich aber auch die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist? Und die möglichst ungehemmten Freihandel und Globalisierung befürworten, wobei dann die Lohnspreizung zwischen qualifizierten und weniger qualifizierter Arbeit steigen kann (Stolper-Samuelson-Effekt)? Und genau diese Ökonomen sehen nun sinkende Löhne als Resultat einer europäischen “Haftungsunion” (?) an? Es kann an meiner mangelnden Literaturkenntnis liegen, aber für diese m.E. absurde Behauptung soll es stichhaltige empirische Belege geben? Ich dachte immer, dass Ökonomik heutzutage angeblich so stark “evidenzbasiert” sei. Ach ja, und der kausale Transmissionsmechanismus von einer „Haftungsunion“ zur Lohnsetzung auf dem Arbeitsmarkt erschließt sich mir auch nicht so auf den ersten Blick.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen.

Das unterstütze ich und möchte hinzufügen: einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, die bei der Gestaltung und Durchsetzung ihrer Spielregeln sowohl die ökologische und soziale Nachhaltigkeit, als auch die neuartigen Bedingungen globalisierter Produktion und der informationsbasierten Digitalwirtschaft im Blick hat. Daher ist “rück”besinnen vielleicht ein wenig unglücklich formuliert. Aber ein nach vorwärts gerichteter Gestaltungswille ist diesem Aufruf nicht unbedingt zu entnehmen. Es klingt eher wie ein Appell, auf dem Weg des fortschreitenden Übels “Europa” innezuhalten und zur Bundesrepublik Adenauers und Erhards zurückzukehren.

Es gilt, Strukturreformen voranzubringen, statt neue Kreditlinien und Anreize für wirtschaftliches Fehlverhalten zu schaffen.

Man kann die Vorschläge zur Umgestaltung der Europäischen Union (Macron und andere) durchaus als Teil solcher “Strukturreformen” verstehen. Strukturreformen sind bei den Unterzeichnern ein stets positiv konnotierter Begriff. “Neue Kreditlinien” sind keine substanziellen Forderungen, die irgendjemand stellt, es ist deshalb rhetorisch billig, dies dem Argumentationsgegner zu unterstellen um dann demonstrativ dagegen zu sein. Ich denke, man wollte gerne gegen ein weiteres Hilfspaket für Griechenland und möglicherweise demnächst ins Haus stehende Hilfen für Italien vorbeugen. Aber das ist nicht Gegenstand der europäischen Reformdebatte, ist hier also fehlplatziert. Ob bei den gemachten Vorschlägen Anreize zu Fehlverhalten produziert werden, möchte ich sehr zurückhaltend bewerten, da kommt es genau auf die Konditionalitäten, die Ausgestaltung an. Das ist intellektuelle Detailarbeit, für die Ökonomen nun mal da sind. In der hier zugespitzten Form wirkt es wie eine ordnungsökonomische Keule, mit der mit Stumpf und Stil jeglicher Vorschlag niedergeknüppelt wird, der nach “mehr Europa” klingt.

Die Privilegierung der Staatsanleihen in der Risikovorsorge der Banken ist abzuschaffen.

Immerhin mal ein konkreter Vorschlag! Wenn diese Forderung lediglich bedeutet, dass Staatsanleihen mit einem positiven Risikofaktor gewichtet und somit einer Kapitaldeckung unterworfen werden sollen, so spricht nichts dagegen. Wie wäre es darüber hinaus mit Eurpean Safe Bonds, um den “diabolic loop” zwischen Staatsschulden und Bankenrettung zu durchbrechen (siehe Blogbeitrag)?

Die Eurozone braucht ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten und ein geordnetes Austrittsverfahren.

Ja, dem stimme ich zu. Das ist keine neue Feststellung.

Die Kapitalmarktunion sollte vollendet werden – auch weil internationale Kapitalbewegungen asymmetrische Schocks kompensieren.

Ich bin verblüfft, denn hier wird ein Begriff, in dem das Wort “Union” vorkommt, positiv konnotiert, aber es geht ja auch um den Kapitalmarkt, um dessen Funktionsfähigkeit man sich sorgt. In meiner Lesart bedeutet Kapitalmarktunion: einheitliche strikte Finanzmarktregulierungen, einheitliche Bankenaufsicht, ein europäischer Einlagensicherungsfond, vielleicht sogar Umbau des ESM zu einem EWF …. Nein, ich glaube nicht, dass es das ist, was die Unterzeichner meinen. „Asymmetrische Schocks kompensieren“ funktioniert u.a. über hohe Faktormobilität, das ist richtig. Im Fall des Faktors Kapital ist es jedoch in der Literatur etwas umstritten, ob asymmetrische Schocks stets absorbiert oder u.U. sogar verstärkt werden können. Vielleicht darf daran erinnert werden, dass genau solche Kapitaltransfers zu hohen Target2-Salden führen.

Bei der EZB sollten Haftung und Stimmrechte miteinander verbunden werden.

Darüber kann man durchaus nachdenken. Das kann ich momentan nicht beurteilen.

Die Target-Salden sind regelmäßig zu begleichen.

Wie wäre es mit Euopean Safe Bonds als Clearing-Instrument (siehe Blogbeitrag)? Leider ist das Target-System in dieser Hinsicht fehlkonstruiert. In der jetzigen Form ist die Forderung wohlfeil, aber kaum zu realisieren. Da erwarte ich von den Unterzeichnern konkrete Reformideen.

Die Ankäufe von Staatsanleihen sollten ein schnelles Ende finden.

Zwar habe ich nie etwas von der ordoliberalen Teufelszeug-Rhetorik gegen die QE-Maßnahmen der EZB gehalten, bin aber auch der Meinung, dass dieses Instrument inzwischen relativ wenig wirksam ist, so dass es in keinem Verhältnis zu den eingegangenen Bilanzrisiken steht. Generell obliegt die Entscheidung darüber aber der unabhängigen Zentralbank, die sich weder von der Fiskalpolitik, noch von deutschen Ökonomen reinreden lässt und nur so ihre Glaubwürdigkeit behält. Ordoliberale betonen stets, dass die Zentralbank in der Wahl ihrer Mittel unabhängig sein müsse, nun wollen sie ihr aber gleichzeitig vorschreiben, was zu tun ist. Das ist bemerkenswert.

Gegen eine Bindung an wohldurchdachte ordnungsökonomische Prinzipien und Spielregeln ist überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber die Expertise von Ökonomen sollte gerade darin bestehen, diese Spielregeln im Detail zu analysieren und Designvorschläge zu machen, welche Fehlanreize verhindern. Stattdessen wird mit relativ geringer empirischer Evidenz pauschal vor (fast) allem gewarnt, das irgendwie “Union” und “Gemeinschaft” im Namen trägt. Der Duktus des ganzen Aufrufs ist, dass Nationalstaaten für sich selbst verantwortlich bleiben sollen und insbesondere das mustergültige Deutschland sich gegen die Zumutungen der Sünder-Staaten abgrenzen müsse. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass weniger Europa und mehr nationale Zuständigkeiten besser sei, statt sich mit den Details zu befassen, wie man z.B. die Macron-Vorschläge hier verbessern oder dort entschärfen könnte um die EWWU voranzubringen. Es atmet den Geist von tiefer Europa-Skepsis. Kein Wunder also, dass Beatrix von Storch auf Twitter kommentiert: “154 Wirtschafsprofessoren rufen dringend zur Wahl der AfD auf.”

Schade eigentlich, da auch mir Ordnungsökonomik wichtig ist.