Archiv der Kategorie: Soziale Sicherung

Bürgerfonds – ein Instrument zur Vermögensumverteilung und Alterssicherung

Das Vermögen in Deutschland ist extrem ungleich verteilt, auch im internationalen Vergleich. Vernachlässigt man die Ansprüche an die Rentenversicherung, so verfügen die unteren 40% der Haushalte über Null (!) Vermögen, während die oberen 10% der Haushalte über 60% des Vermögens verfügen (Bundesbank 2019). Selbst innerhalb dieser oberen 10% gibt es wiederum eine starke Ungleichverteilung. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland ist zwar ebenfalls Gegenstand einer Gerechtigkeitsdiskussion, aber erstens ist sie weitaus weniger stark ausgeprägt als die Vermögensungleichheit, zweitens liegt Deutschland hier eher im Mittelfeld, und drittens kann hier das Steuer-Transfer-System zu einem stärkeren Ausgleich beitragen (sekundäre Einkommensverteilung). Allerdings muss man konstatieren, dass trotz eines im Ländervergleich sehr stark ausgebauten Umverteilungsapparates der Effekt auf die Einkommensungleichheit vergleichsweise moderat ist. Das kann u.a. daran liegen, dass bereits die Primärverteilung der Einkommen ungleicher wird.

Bei den Vermögen hingegen gibt es keinen wirksamen Umverteilungsmechanismus. Im Gegenteil: Es gibt eine Tendenz zur stärkeren Konzentration, beispielsweise durch Vererbung (DIW 2019). Das Erbschaftssteuersystem ist löchrig und von vielen Ausnahmen geprägt; eine Vermögenssteuer gibt es derzeit nicht. Ihre Wiedereinführung wird zwar diskutiert, von vielen Ökonomen aber skeptisch gesehen. Die Möglichkeit ihrer verfassungskonforme Umsetzung ist Gegenstand eines jahrzehntelangen Streits. Maßnahmen zur Förderung der Vermögensbildung wie etwa Baukindergeld oder Riester-Rente sind angesichts der Dimensionen der Ungleichheit minimalistisch und teils dysfunktional (z.B. Mitnahmeeffekte beim Baukindergeld; Unrentabilität bei der Riesterrente). Weitere Vorschläge wie das Fördern des Aktienbesitzes werden wohl kaum die unteren 40% erreichen und möglicherweise diejenigen besserstellen, die ohnehin Aktien haben und weiter erwerben. Kaum ein Geringverdiener-Haushalt wird sehnlich auf die Steuererleichterung warten, damit er sich endlich einen ETF von Blackrock kaufen kann.

Ein Bürgerfonds, wie es ihn in anderen Ländern wie z.B. Norwegen schon lange gibt, ist ein derzeit auch im akademischen Bereich durchaus oft wohlwollend diskutierter Ansatz (etwa Fuest et al 2019). Aktuell wirbt Robert Habeck für ein solches Modell. Allgemein geht um einen Fonds, der systematisch in ein Vermögensportfolio investiert, an das alle Bürger einen Anspruch haben. Dieser Anspruch kann zum Beispiel darin bestehen, dass der im Laufe des Lebens akkumulierte Fondsanteil eines einzelnen Bürgers beim Eintritt in das Rentenalter als Rente ausbezahlt wird. Denkbar ist aber auch, dass das Vermögen im Fonds verbleibt und der Bürger ab dem 18. Lebensjahr die Rendite als Kapitaleinkommen ausbezahlt wird. Gerade angesichts der Perspektive, dass durch die Digitalisierung und Roboterisierung die Arbeit zwar nicht ausgehen, das Arbeitseinkommen aber möglicherweise an Bedeutung abnehmen wird, ist eine Partizipation am wachsenden Wohlstand, der zu einem erheblichen Teil von Maschinen erzeugt wird, dadurch möglich, dass ein Teil des Kapitalstocks diesem Fonds, also allen Bürgern gehört, die entsprechende Ansprüche daran haben. Auch andere Möglichkeiten sind denkbar, etwa, dass Bürger auf eine regelmäßige Auszahlung der Rendite verzichten, d.h. diese ansparen, und sich später in Form eines Zuschusses für ein Sabbatical oder längere Fortbildung auszahlen lassen (Corneo 2014).

Eine strittige Frage ist, wie ein solcher Fonds finanziert werden kann. Im Fall von Norwegen geschieht dies durch die hohen staatlichen Öleinnahmen, über die Deutschland jedoch nicht verfügt. Manche Ökonomen befürworten, dass eine Anschubfinanzierung durchaus durch Schuldtitel finanziert werden könne, da der deutsche Staat derzeit Null Zinsen zahlen muss (oder sehr geringe Zinsen bei sehr lang laufenden Anleihen). Bei Fälligkeit der Anleihen müssten diese dann aber entweder prolongiert werden zu einem dann aber möglicherweise höheren Zinssatz, oder ein größerer Teil des Fond-Vermögebrutto medianeinkommenns muss wieder veräußert werden. Deshalb ist eine dauerhafte Schuldenfinanzierung wohl nicht ratsam.

Eine weitere Quelle können freiwillige Zahlungen der Bürger sein, die ihr Erspartes dem Fonds anvertrauen möchten, um etwas für ihre Altersvorsorge zu tun. Dies könnte – wie bei der im Gegenzug abzuschaffenden Riesterrente – staatlich gefördert werden. Allerdings ist zu bedenken, dass dann hier ein staatliche geförderter und gemanagter Fonds als direkter Konkurrent zu privaten Vorsorgefonds auftritt, was wettbewerbsrechtlich problematisch ist.

In diesem Beitrag wird nun der Vorschlag gemacht, dass sich der Fonds aus den jährlichen Erbschaftssteuern speisen sollte. Dies setzt eine Erbschaftssteuerreform voraus, die keine Ausnahmen kennt, eine sehr breite Bemessungsgrundlage hat, aber auch deutliche Freibeträge vorsieht, damit kleinere Vermögen („Omas Häuschen“) nicht belastet werden. Bei 200 – 400 Mrd. Euro Erbschaften pro Jahr könnten so ein zweistelliger Milliardenbetrag jährlicher Steuereinnahmen zusammenkommen, die dem Bürgerfonds zugeführt werden. Man sollte dies nicht als sozialpolitische Wohltat des Staates auffassen, der den Bürgern einen Teil „seiner“ Steuereinnahmen „schenkt“. Es sollte vielmehr als Automatismus angesehen werden, bei dem bei jedem Erbfall das Vermögen der Bürger ohne Umwege in Bürgerhand bleibt, jedoch breiter verteilt wird.

Im Fall von vererbtem Betriebsvermögen besteht bislang das Problem, dass die Erben ein illiquides Vermögen, etwa den Familienbetrieb, erben, aber nicht genügend Mittel haben um die Erbschaftssteuer zu begleichen. Eine Veräußerung des Betriebs nur zu dem Zweck, die Steuerschulden zu bezahlen, ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Eigentumsrecht. Daher gibt es hier zahlreiche Ausnahmen. Bei einem Bürgerfonds ergäbe sich eine einfache elegante Lösung: Das Betriebsvermögen geht zu x% (Erbschaftssteuersatz) an den Fonds als Eigentümer (aber mit den Rechten eines Gläubigers) über. Dieser hat dann Anspruch auf x% der erwirtschafteten Erträge. Allerdings hat der Erbe das Recht, durch sukzessives Begleichen der Steuerschuld in frei gewählten Raten das Eigentum zurückzuerwerben. Das erlaubt maximale Gestaltungsspielräume und beeinträchtigt den Betrieb nicht. Die Details einer solchen Regelungen sind noch zu klären.

Perspektivisch kann man bei der etwaigen (Wieder-) Einführung einer Vermögenssteuer genauso verfahren: Es ist das Vermögen der Bürger und es bleibt das Vermögen der (aller) Bürger. Bei Betriebsvermögen, Immobilien und anderen schwer liquidierbaren Vermögensgegenständen kann analog verfahren werden wie bei der Erbschaftssteuer: ein bestimmter Prozentsatz (z.B. 1%) der Vermögenswerte (nach Abzug von Freibeträgen) geht in den Fonds über anstelle der Zahlung der Steuer.

Der Bürgerfonds geht das Problem der Vermögensungleichheit nicht nur von einer Seite an – der mit Ausnahmen durchlöcherten – Besteuerung der Vermögenden und Erben, sondern vor allem auch von der anderen Seite, dem Vermögensaufbau vor allem der unteren Hälfte der Gesellschaft, und zwar automatisch ohne Blick auf die Kassenlage des Staates und dessen momentaner politischer Agenda.

Auf welche Weise auch immer das Bürgerfondsvermögen oder dessen Erträge ausbezahlt werden, es verändert die primäre Einkommensverteilung. Das könnte sich langfristig als mindestens ebenso wichtiger Hebel herausstellen wie das (ebenfalls stark reformbedürftige) Steuer-Transfer-System, welches eine egalitärere sekundäre Einkommensverteilung um Ziel hat. Der spezielle Charme des Bürger-Fonds ist, dass er als Automatismus ohne diskretionären Eingriff des an der Tagespolitik ausgerichteten Staates fungiert. Er ist somit ein ordnungsökonomisch perfekt zur Sozialen Marktwirtschaft passendes Instrument. Man könnte aber auch formulieren: eine milde und liberale Form der „Vergesellschaftung“ von Vermögen.

Ein gängiger, jedoch schwacher Einwand ist, dass hier letztlich der Staat, genauer: ein vom Staat unabhängiges Management des Bürgerfonds über das Portfolio entscheidet, und nicht der mündige Bürger selbst. In den allermeisten Fällen ist es wohl kaum der Wunsch der Bürger, sich um einzelne Aktien, Schuldverschreibungen oder ETFs kümmern zu wollen. Jedoch kann der Fonds auch so organisiert werden, dass Bürger ab 18 Jahren über eine Auswahl von Anlagetypen für „ihren“ Fondsanteil entscheiden können. Man sollte sich aber auch vor Augen halten, dass z.B. bei der gesetzlichen Krankenversicherung ebenfalls der Staat über das Paket der gesetzlichen Leistungen bestimmt und nicht der mündige Bürger einen individuellen Krankenversicherungs-Kontrakt abschließt.

Zur institutionellen Ausgestaltung: Es ist das Vermögen der Bürger, das den Fonds speist, und das Vermögen der Bürger, welches dort angelegt wird. Das Management sollte an generelle Regen gebunden sein, etwa keine hochriskanten spekulativen Investments zu tätigen; moderate Risiken sollten aber möglich sein, also vor allem Aktienanlagen oder ETFs. Auch kann man ethische Standards definieren oder das Verbot von Investitionen in fossile Energien (dazu später mehr). Der Bürgerfonds sollte dann aber im Rahmen der gegebenen allgemeinen Spielregeln in der Gestaltung seiner Strategie frei sein, d.h. unabhängig vom Staat, ähnlich wie bei der Zentralbank. Der Gedanke dabei ist, dass es sonst sein könnte, dass der Staat den Fonds dazu drängt, möglichst in staatliche Anleihen zu investieren, also indirekt das Staatsbudget zu finanzieren. Oder der Staat weist den Fonds an, in die momentanen Lieblingsprojekte der Regierung zu investieren, also eine politische Agenda zu verfolgen. Das ist in der Regel nicht das, was die Bürger wollen, die an ihre Altersvorsorge denken. Solche Einmischungen sollten selbstbewusst zurückgewiesen werden können mit dem Hinweis darauf, dass der Prinzipal der Bürger ist, nicht die Regierung, und das Fondsmanagement der Agent, der dem Prinzipalen verpflichtet ist, nicht dem Fiskus.

In der langen Frist ist es denkbar, dass der Fonds ähnliche Größenordnungen annehmen kann wie z.B. der norwegische Staatsfond. Damit ist eine Macht verbunden, über deren Ausübung die oben erwähnten allgemeinen Spielregeln einen Rahmen setzen. Es ist vorstellbar, die Spielregeln so zu gestalten, dass der Fonds auch im Sinne genereller Politikziele, etwa der Dekarbonisierung der Produktion, der Einhaltung von Menschenrecht-Standards in der Zulieferkette und dergleichen, Einfluss auf die Unternehmen ausüben kann und soll, deren Miteigentümer er ist. Dies kann sowohl bei Aktionärsversammlungen geschehen, aber auch schon durch die Drohung, Investments abzuziehen, wenn z.B. weiterhin auf Kohleabbau gesetzt wird. Das setzt allerdings voraus, dass die allgemeinen Spielregeln es erlauben, auch in solche „unliebsamen Geschäftsfelder“ zu investieren. Man kann einen Ölkonzern schwer dazu drängen, sich massiv in den Bereich regenerativer Energien zu diversifizieren, wenn die Investitionsrichtlinien die Beteiligung an einem solchen Konzern untersagt. Man mag das als Politisierung der Kapitalmärkte kritisieren. Zahlreiche Großunternehmen, Verbände und private Fonds tun aber bereits genau das oder mahnen die Notwendigkeit eines sehr viel stärkeren committments gegenüber sozialen und ökologischen Zielen und veränderter Governance-Strukturen an. Und schließlich ist der Begriff der „Politisierung“ im Kern auch nicht korrekt, geht es doch letztlich um die Durchsetzung der Präferenzen von Eigentümern am Markt. Der Eigentümer, also der Fonds, ist via demokratische Abstimmung über die institutionelle Ausgestaltung, also auch der Investitions-Spielregeln, dazu legitimiert. Er soll letztlich die gemeinschaftlichen Interessen der Bürger durchsetzen helfen.

Zusammengefasst: In dem Beitrag wird vorgeschlagen, das Instrument des Bürgerfonds mit dem Instrument der Erbschaftssteuer (perspektivisch: ggf. auch Vermögenssteuer) zu verknüpfen und ihn von der Regierung unabhängig zu machen. Somit erhielte der Fonds die zentrale Aufgabe einer automatischen, nicht vom politischen Tagesgeschäft oder Kassenlage abhängigen Vermögensumverteilung und der Beteiligung aller Bevölkerungsschichten an Vermögen und Kapitalansprüchen. Auch wenn die Ausgestaltung im Detail knifflig sein kann, so ist die Kernidee simpel und effektiv.

Der Streit um die Bürgerversicherung

Das Thema ist schon deshalb interessant, weil viele ökonomische Aspekte und Interessen eine Rolle spielen. Beide Märkte, der Versicherungs- und der Gesundheitsmarkt, sind voller interessanter ökonomischer Besonderheiten, die Sorgfalt und Vorsicht bei der kritischen Analyse erfordern. Umso ärgerlicher ist die Tatsache, wie häufig die Kontroverse auf der Basis ideologischer Behauptungen ausgetragen wird. Vor allem die Kritiker einer Bürgerversicherung stellen deren Befürworter fast immer unter einen Ideologieverdacht.

Aus diesem Anlass nehme ich mir den Artikel “Nur Verlierer durch die Bürgerversicherung” von Andreas Mihm in der F.A.Z. vom 10.1.2018 vor, und gehe chronologisch durch den Text. Im Anschluss daran befasse ich mich mit dem Artikel “Von Bismarck bis heute: Die verflixte Bürgerversicherung” von Werner Abelshauser in der F.A.Z. vom 8.2.2018. Beide Artikel stammen von klaren Kritikern der Bürgerversicherung bzw. Befürwortern des bestehenden dualen Systems aus PKV und GKV.

Zunächst zu Andreas Mihm: Wie üblich für jeden kritischen Artikel verweist der Autor gleich zu Beginn auf die negativen Erfahrungen einer Einheitsversicherung in Großbritannien, wo es zu starken Rationierungen kommt, und rückt dieses “staatliche Einheitssystem”, welches “offenkundig versagt” habe, rhetorisch sofort in die Nähe des “Sozialismus”, der bekanntlich ja “zusammengebrochen” sei, und der nur noch von “Ideologen” (sprich: SPD und Grüne) propagiert werde. Denn eigentlich, so suggeriert der Text, ist das Ergebnis für jeden denkenden Menschen klipp und klar: die Bürgerversicherung erzeugt “nur Verlierer”. Es ist schon erstaunlich: Wenn jemand einen Vorschlag macht, wie man ein soziales Sicherungssystem anders organisieren könnte, und man aber der Meinung ist, dass viele sachlich-ökonomische Argumente gegen diesen Vorschlag sprechen, weshalb ist es dann nötig, die Gegenposition gleich als erstes unter Ideologie- und Sozialismusverdacht zu stellen? Der abwertende Schreibstil unter Verwendung vieler Reizworte, die beim klassischen FAZ-Leser Beißreflexe erzeugen (sollen), und die unerschütterliche Selbstgewissheit des Autors auf der richtigen Seite zu stehen, nähren gewisse Zweifel, wer denn hier eher zu ideologischen Argumentationen neigt. Ganz nebenbei bemerkt: Werden die schlimmen Rationierung in Großbritannien durch das dortiges Versicherungssystem verursacht, oder liegt es möglicherweise schlicht an einer Unterversorgung mit Ärzten, die wiederum schlicht an einer chronischen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems liegt?

Nun gut, nächster Absatz. Dort steht ein interessanter Relativsatz: “Der privaten Krankenvollversicherung, die die Sozialdemokraten so dringend abschaffen wollen, …. “ Es geht den Sozialdemokraten also angeblich um ihre ideologische Feindschaft gegenüber einem privaten Markt. Jedoch: Wo sieht das Konstrukt einer Bürgerversicherung die “Abschaffung” der privaten Krankenvollversicherung vor? Wenn ich die Aussagen z.B. von Herrn Lauterbach lese (Interview Tagesspiegel vom 24.7.2017), dass PKV-Versicherte durchaus in der PKV bleiben können, aber dann eben auch deren finanziellen Risiken möglicher drastischer Beitragserhöhungen tragen müssten, dann erscheint dieser Relativsatz schon hart an der Grenze zur Unwahrheit. Gewiss, das Geschäft mit privaten Vollversicherung wird als Reaktion auf eine solche Reform stark zurückgehen, aber das ist nicht das Reformziel.

Der nächste Absatz widmet sich dem Aspekt, dass die Bürgerversicherung “als Gerechtigkeitsprojekt verkauft” werde, aber schon bei der ursprünglich angedachten Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Finanzierung so starke Abstriche gemacht wurden, dass der Autor resümiert: “`Gerechter’, wie behauptet, weil sie stärker auf alle Einnahmen und nicht nur auf jene aus Arbeit abstellt, wird die Finanzierung der Kassen durch die SPD-Pläne also nicht.” Hier ist also das Argument gegen die Bürgerversicherung, dass das Konzept nicht mehr so radikal ist wie ursprünglich gedacht? Habe ich das richtig verstanden? Und der Autor teilt offenbar sogar die Vorstellung, dass es gerechter wäre, alle Einkommensarten hinzuzuziehen – wie etwa bei einem steuerfinanzierten Gesundheitssystem wie in Schweden oder Kanada? Oder in dem zuvor kritisierten Großbritannien? Steht das nicht etwa unter Sozialismusverdacht? Nebenbei bemerkt will nicht eine überschaubare Gruppe linker Ideologen es als “Gerechtigkeitsprojekt verkaufen”, sondern eine sehr große Mehrheit der Bürger empfindet es (a) als gerecht, wenn alle Bürger gleichen Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen haben, (b) diese nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip bezahlt werden, und (c) sie empfinden die Abrechnung höherer Preise für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten und die u.a. (aber nicht nur) dadurch bedingte bevorzugte Terminvergabe nicht als gerecht. Vielleicht sollte man daran erinnern, dass in einer liberalen Gesellschaft die allgemeinen Spielregeln die Gerechtigkeitsvorstellungen der großen Mehrheit der Bürger widerspiegeln (sollten).

Eine weitere “Gerechtigkeitsbaustelle” sieht der Autor bei dem Problem, dass Privatpatienten eher einen Arzttermin bekommen. Da dies empirisch nicht von der Hand zu weisen ist, bestreitet der Autor das auch nicht. Jedoch: “Die Einheitsversicherung oder auch nur die einheitliche Bezahlung der Ärzte änderte daran aber wenig. Wie lange würde es wohl dauern, bis Zusatzversicherungen auf den Markt kämen, die den Wohlhabenden erlaubten, ihren Arzttermin bevorzugt zu buchen?” Ich lese das so, dass zwar im Prinzip die einheitliche Bezahlung die Ungleichbehandlung durchaus abstellen würde, aber als Ausweichreaktion man sich durch Zusatzversicherungen dann eben doch eine bevorzugte Behandlung erkaufen kann, womit die Zwei-Klassen-Medizin wieder hergestellt sei. Ich überlege mir, was dies denn für eine Zusatzversicherung sein könnte: Ich schließe mit einem Privatversicherer einen Vertrag, für den ich Prämien zahle, und der mir im Fall, dass ich einen Arzttermin benötige, was genau garantiert? Dass ich einen früheren Termin bekomme? Wie das? Was soll den Arzt denn bewegen, mir einen früheren Termin zu geben? Etwa Zusatzzahlungen von mir oder der Versicherung? Wäre das nicht ein klarer Fall von Korruption bzw. Vorteilsnahme? Vielleicht könnte der Autor hier in der Analyse der Anreizwirkungen etwas ins Detail gehen statt auf die Suggestivwirkung des Arguments zu setzen, dass der Markt schon für neue Produkte als Ausweichreaktion sorgen werde. Ich biete hier mal dem Autor etwas Schützenhilfe: vielleicht eine Versicherung von Zusatzleistungen über das notwendige Maß hinaus, die der Arzt zusätzlich abrechnen kann und deshalb auch gleich einen bevorzugten Termin vergibt? Wie groß mag der Anreiz dafür wohl sein, wenn dadurch allen Beteiligten (Patient, Arzt, Versicherung) bewusst wäre, dass es hier um medizinisch eher kaum indizierte Zusatzleistungen geht? Auch müsste der Arzt stets genau wissen, welcher Patient über welche Art von privater Zusatzversicherung verfügt. Wenn der Patient mit dem gebrochenen Bein eine Zusatzversicherung für Fertilitätsuntersuchungen auf den Tisch legt, wird das den Arzt wohl kaum bewegen ihn bevorzugt zu behandeln. Während PKV-Lobbyisten in der Bürgerversicherung einen “Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin” sehen – wegen besagter Ausweichreaktionen – halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass sich ein “Markt für Vorzugsbehandlung” in nennenswertem Umfang herausbildet, der das Problem der Terminvergabe verschärft. Zusatzversicherungen für Zusatzangebote wird es selbstverständlich noch geben, und niemand will das einschränken. Aber das wird deutlich seltener die Terminvergabepraxis beeinflussen. Vielleicht darf man daran erinnern, dass es bereits jetzt einen Markt für bevorzugte Behandlung geben müsste, auf dem GKV-Patienten Zusatzleistungen nachfragen, die sich PKV-Patienten gleichstellen.

Interessanterweise kommt dem Autor nicht ein zweiter, wahrscheinlich sogar wichtigerer Grund für die bevorzugte Terminvergabe in den Sinn: die Budgetierung in der GKV. Ist das Budget ausgeschöpft, kann der Arzt bis Monatsende keine Leistungen an GKV-Patienten abrechnen. Es ist lukrativer, bis dahin nur noch Privatpatienten (sowie dringende Fälle) zu nehmen, und die Termine der GKV-Patienten auf später zu verschieben, wenn das neue Budget freigegeben ist. Man kann dem Arzt dieses Verhalten nicht verübeln, denn wer möchte schon seine hochqualifizierte Arbeitskraft nur für “Gotteslohn” zur Verfügung stellen? Hier sollte man nicht mit moralischen Ansprüchen an den Arzt argumentieren, sondern ihn einfach fair bezahlen. Im Übrigen ist die Budgetierung auch bei den Befürwortern einer Bürgerversicherung ein meist übersehener Punkt. Ohne eine Reform dieses aus Kostendämpfungsgründen eingeführte Konstrukt wird auch eine Bürgerversicherung die Ungleichbehandlung von Patienten nicht überwinden können. Hier besteht beim genauen Design der Anreizstrukturen innerhalb einer Bürgerversicherung noch großer Diskussions- und Entwicklungsbedarf.

Der nächste Absatz des Kommentars von Herrn Mihm hat viel zu bieten: “Nichts hilft auch das paternalistische Argument vom schutzbedürftigen Privatpatienten, der vor dem diagnostischen Übereifer geldgieriger Ärzte zu bewahren sei.” Im VWL-Studium lernt man bereits im ersten Semester etwas über Dysfunktionalitäten des Marktes bei Vorliegen asymmetrischer Information – ein spannendes, mit Nobel(gedächtnis)preisen ausgezeichnetes Gebiet. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist ein Lehrbuchfall für solche asymmetrischen Informationen, denn der Patient kann weder beurteilen, welche Therapien und Medikamente er benötigt (also nachfragen muss), noch deren Preis-Leistungs-Verhältnis. Die aufgeklärte neoklassische Standardökonomik sieht hier klar einen Regulierungsbedarf. Mit “Paternalismus”, den der Autor hier unterstellt, hat das rein gar nichts zu tun. Die Standardökonomik unterstellt zudem rationales Verhalten, nicht “Geldgier”. Wenn wir Ökonomik betreiben, sollte man solche moralischen Zuschreibungen unterlassen.

Und weiter: “Ob dem Patienten die quasi-staatlichen Therapievorgaben eines weitab tagenden Bundesausschusses lieber sind als seine Autonomie gegenüber einem Behandler, dem er vertraut?” Der Leistungskatalog wird von Fachgremien erarbeitet, das Ziel ist eine deutliche Reduktion der Informationsasymmetrie. Die Diagnostik ist allein Sache des Arztes, dem ich vertraue, und er wird je nach Indikation Therapie und Medikamente verordnen, die einen gewissen Rahmen nicht übersteigen, also bei einem Schnupfen kein MRT verschreiben. Wenn der Autor, Herr Mihm, nicht beurteilen kann, ob der Gebrauchtwagen, den er vielleicht kaufen möchte, fahrtüchtig ist oder nicht, kann er sich bei Vorliegen einer TÜV-Plakette darauf verlassen, dass gewisse Standards eingehalten wurden. Ich glaube nicht, dass er den TÜV als paternalistischen Eingriff in seine vertrauensvolle Beziehung zu seiner Autowerkstatt oder seinem Autohändler versteht. Oder doch? Das Argument von Herrn Mihm spricht genau genommen nicht nur gegen die Bürgerversicherung, sondern generell auch gegen die GKV. Konsequenterweise müsste er für eine Totalprivatisierung des Gesundheitssystems plädieren. Ich schätze aber, dass Herrn Mihm, falls er denn überhaupt GKV-Patient ist, das Vertrauen in seinen Arzt dann wieder leichter fallen wird, wenn er private Zusatzversicherungen abschließt, die auch diejenigen (Luxus-) Leistungen abdeckt, die ihm der paternalistische Leistungskatalog vorenthält. Dies kann er jedoch gerne auch im Falle einer Bürgerversicherung tun! Das Sozialstaatsprinzip impliziert, dass jeder Bürger Zugang zu medizinisch notwendigen Maßnahmen haben sollte. Das dürfte ein extrem breiter Konsens sein. Was aber “notwendig” ist, dafür muss es nun mal allgemeine Spielregeln geben, ob der Autor diese nun als “paternalistisch” abtut oder nicht. Und darüber hinaus kann jeder anbieten und nachfragen, was er oder sie will.

Und der Autor beantwortet die oben zitierte rhetorische Frage selbst: “Wohl kaum. So befördert die Bürgerversicherung das mit Macht, was sie zu verhindern vorgibt: die Zwei-Klassen-Medizin.” Also wo genau hat er denn in seinem Text nun nachgewiesen, dass eine Bürgerversicherung die Zwei-Klassen-Medizin fördert? Alles, was darauf abzielt, dass man sich durch zusätzliche private Versicherungen zusätzliche Leistungen erkaufen kann, ist eine Banalität, die auch jetzt schon für GKV-Patienten möglich ist, und sollte nicht unter “Zwei-Klassen-Medizin” firmieren. Lediglich eine Ungleichbehandlungen im Rahmen des staatlich vorgegebenen Leistungskatalogs, der für alle Bürger denselben Zugang zu als notwendig erachteten Standardleistungen gewährleisten soll, kann als Zwei-Klassen-Medizin angesehen werden. Hier sehe ich aber keinerlei substanziellen Argumente im Text.

Und weiter: “Es bedarf keiner Glaskugel, um die Schockwellen zu erahnen, die der ernsthafte Versuch auslöste, das Versicherungssystem entsprechend umzukrempeln. Große Teile der Ärzteschaft wären verunsichert, viele würden protestieren – auch aus Sorge um die Einnahmen von den Privatpatienten. Die Stabilität des Gesundheitssystems geriete in Gefahr.” Ich nehme mal an, dass Mihm als liberaler Mensch kein Problem damit hat, wenn Märkte einem massiven Strukturwandel aufgrund neuer Technologien und Globalisierung ausgesetzt sind und sich neuen Herausforderungen stellen müssen. Und ich nehme auch an, dass er an anderen Stellen massiven Reformbedarf in der Politik sieht. Das Zitat allerdings klingt wie von jemandem, der strukturkonservativ und verzagt zu Hause auf dem Sofa sitzt, und den jede Veränderung ängstigt. Das raunende Heraufbeschwören “großer Gefahren” ist ziemlich traurig, weil es lediglich die Ressentiments des FAZ-Lesers bedient, und eine klare Analyse und empirische Argumente ersetzt. Herr Mihm wurde aber noch übertroffen von Herrn Silberbach vom Deutschen Beamtenbund, der durch die Bürgerversicherung die „Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens gefährdet” sieht – eine lachhafte Realsatire! Ich musste mich vergewissern, nicht etwa den “Postillon” zu lesen. Als noch vor einigen Jahren schwarz-gelbe Gesundheits-Reformprojekte wie Privatisierungen und die “Kopf-Pauschale” diskutiert wurden, hatte da Herr Mihm eigentlich auch von “Schockwellen”, “Verunsicherung” und Destabilisierung gewarnt? Ich weiß es nicht.

Die “Sorge der Ärzte um ihre Einnahmen” ist der einzige ernst zu nehmende Punkt in obigem Zitat. Diese Sorge bezieht sich auf den Umstand, dass derzeit Ärzte für ein und dieselbe Leistung bei PKV-Patienten einen höheren Abrechnungssatz ansetzen dürfen als bei GKV-Patienten. Sie kann sich wohl kaum auf Zusatzleistungen beziehen, die sowohl im jetzigen System als auch bei einer Bürgerversicherung (privat) abrechenbar sind. Ich bin weder der Meinung, dass Ärzte geldgierig seien, noch dass sie zu viel verdienen würden (in Teilen kann man sogar das Gegenteil behaupten). Sie erbringen eine sehr wichtige Dienstleistung, für die sie ordentlich bezahlt werden müssen. Daher müssten bei einem Übergang auf eine Bürgerversicherung selbstverständlich die Abrechnungssätze so angepasst werden, dass es nicht zu Einkommenseinbußen kommt. Mit einer Unterfinanzierung wie im gescholtenen britischen System wäre niemandem geholfen. Eine solche Anpassung ist im Konzept der Bürgerversicherung vorgesehen. Da es aber starke regionale Unterschiede im Anteil der PKV-Patienten gibt, wird es aber zwangsläufig Gewinner und Verlierer geben, auch wenn das Gesamteinkommen der Ärzte etwa gleich bleibt.

Weiter im Artikel: “Krankenkassen sorgen sich schon davor, dass bei einer Öffnung der Privatversicherung zuerst die `schlechten Risiken’ – teure Kunden mit beitragsfreien Kindern oder chronischen Erkrankungen – kämen und Löcher in die Kassen rissen.” Welche Krankenkassen? In der PKV wäre ein Kontrakt, der auf einkommens- statt auf risikoäquivalenten Prämien aufbaut, problematisch, das ist richtig. Im Idealfall sollte natürlich für den Pool der Versicherten die Summe der einkommensäquivalenten Prämien so hoch sein, dass sie dennoch äquivalent zum Risiko sind, also mindestens die erwarteten Ausgaben decken können. Wettbewerb zwischen den PKV würde dann aber zu einem “Rosinenpicken” führen, so dass alle schlechten Risiken bei der GKV und somit bei der Allgemeinheit landen würden. Um das zu verhindern, ist ein Kontrahierungszwang vorgesehen. Dann aber besteht das Problem, dass durch Zufall (nicht durch unternehmerisches Handeln) eine Krankenkasse strukturell schlechtere Risiken abbekommt als andere. Das alles ist in der versicherungstheoretischen Literatur ein uralter Hut. Innerhalb der verschiedenen, ebenfalls in einem Wettbewerb zueinander stehenden GKV wird dieses Problem durch einen Strukturausgleichsfond (ähnlich dem Länderfinanzausgleich) ansatzweise gelöst. Es ist also kein brandneues Thema, mit dem man sich nun urplötzlich mit der Bürgerversicherung konfrontiert sieht, sondern jahrzehntealter Lehrbuchstoff. Im übrigen ist auch bei risikoäquivalenten Prämien innerhalb konkurrierender PKV der Wettbewerb eingeschränkt: Aus Gründen der intertemporalen Glättung bilden PKV Rückstellungen, die ein Versicherter verlieren würde, wenn er zu einem Wettbewerber wechseln möchte. Das führt zu “Wechselkosten”, also einer inhärenten Wettbewerbsbeschränkung. Daher muss es auch hier einen regulatorischen Ausgleich geben, bei dem die Mitnahme dieser Rückstellungen ermöglicht wird. Man kann auf diesem komplexen Gebiet nicht so simpel mit “Staat versus Markt” argumentieren, sondern nur mit dem Vergleich unterschiedlicher Designs regulatorischer Maßnahmen.

Es ist zugegeben wahrscheinlich, dass private Kassen überwiegend Zusatzversicherungen anbieten werden bzw. Vollversicherungen nur für diejenigen, die die Wahlmöglichkeit haben, nicht in die Bürgerversicherung zu wechseln. Daher die möglicherweise berechtigte Sorge des Autors: “Schon warnt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor dem Verlust Tausender Arbeitsplätze in der Privatversicherung.” Interessant, dass sich marktliberale Ökonomen die Befürchtungen von Gewerkschaften zu eigen machen, wo doch sonst die Auffassung herrscht, dass Reformen und Strukturwandel nun mal eine Re-Allokation des Faktors Arbeit erfordern würden. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Wird mehr oder weniger dieselbe Leistung (hier: die Versicherung für die Gesundheitsversorgung nach dem gesetzlichen Leistungskatalog) mit weniger Faktorinput (sprich: weniger Arbeitsplätzen) erstellt, nennt der Ökonom das normalerweise “technischer Fortschritt” und “Effizienzgewinn”. Auch wenn ich nicht so weit gehen würde, so ist ein Aufschrei in der F.A.Z., dass Strukturwandel “Arbeitsplätze koste”, etwas kurios. Ich bin nicht sicher, ob Herr Mihm mit der gleichen Emphase den Wegfall tausender Arbeitsplätze im Kohlebergbau in NRW in den letzten Jahrzehnten, bei den Siemens-Werksschließungen in Görlitz, oder in ganzen Gewerben wie Postkutschen und Mundschenken beklagt. Ich nehme mal an, er wird argumentieren, dass die durch Strukturwandel unbeschäftigten Faktoren in andere, produktivere Verwendungsmöglichkeiten gelenkt werden, wofür flexible Märkte schon sorgen würden. Hier aber stehen Herr Mihm und PKV-Lobbyisten plötzlich hinter den Gewerkschaften und schwingen deren Fahne. Und noch kurioser: Wenn es tatsächlich stimmt, dss nicht etwa Arbeitsplätze in Richtung GKV verlagert, sondern netto abgebaut werden, obwohl es dann viel mehr “Einheitsversicherte” und kaum noch PKV-Vollversicherte gibt, heißt das denn nicht in der Konsequenz, dass die zentralistischen Versicherungsbürokratien des sozialistischen Wohlfahrtsstaates etwa unglaublich schlank und effizient aufgestellt sind, so dass sie mit kaum mehr Personal deutlich mehr Versicherte bedienen können? Ironie beiseite: mit dem Arbeitsplatzargument gegen Reformen und Strukturwandel zu argumentieren kaufe ich Herrn Mihm nicht ab.

Der Autor könnte mir sehr leicht widersprechen, indem er auf Studien verweist, die der GKV höhere (direkte und indirekt verursachte) Verwaltungskosten nachweist im Vergleich zur PKV. Das nämlich würde eine geringere Effizienz sprechen. Hier gibt es empirisch – je nach Berechnungsmethode – widersprüchliche Aussagen. Jedoch kommt dieser Aspekt nur ganz unspezifisch auf das Gesundheitssystem insgesamt bezogen im allerletzten Absatz zur Sprache, und auch dort nur in dem Kontext, dass es eigentlich viel drängendere Probleme zu lösen gäbe als die Einführung einer Bürgerversicherung. Gewiss! Aber die Existenz anderer Baustellen ist kein Hinderungsgrund, sich mit eben dieser Baustelle zu beschäftigen. Ich verstehe das als Ablenkungsrhetorik. Und so endet der Text, nicht ohne noch einmal das Reizwort der “Verstaatlichung” unterzubringen, um dem FAZ-Leser nochmal schön den Schaum aus dem Mund quellen zu lassen. Summiert man, was an substantiellen Argumenten und empirischer Evidenz vorgetragen wurde, und überlegt, wen das überzeugen könnte, so kann ich nur den letzten Satz des zweiten Absatzes von Herrn Mihm zitieren: “Die Antwort lautet: niemand.”

Am meisten hat mich dann gewundert, als ich nach einem Mausklick auf den Autor erfahren habe, dass dieser seinerzeit Volkswirtschaftslehre (sic!) studiert hat.

Zum Artikel von Herrn Abelshauser: Ähnlich wie bei Mihm spielt die Wortwahl und Rhetorik eine große Rolle. Jeder marktliberale und wettbewerbsbegeisterte Leser wird bei Nominalkomposita, die mit “Einheits-” beginnen, sofort Aversion entwickeln, so eben auch bei der “Einheitsversicherung”, die dem gesunden Mix des dualen Systems aus GKV und PKV gegenübergestellt wird. Zur Erinnerung: Zunächst geht darum, dass der Staat seine Bürger verpflichtet eine Versicherung abzuschließen, welche einheitliche (Mindest-) Leistungen abdeckt, egal von welcher Art von Versicherungsunternehmen diese stammt. Dahinter steckt der Wunsch, dass alle Bürger gleichen (d.h. einheitlichen) Zugang zu als notwendig erachteten Gesundheitsleistungen bekommen ohne Ansehen der Person. Wir haben auch ein “Einheits-Recht”, das gleichermaßen für alle gilt, und wir haben im Bildungsbereich gleiche Rechte (und Pflichten) zu Bildung, welche auf bundeslandweiten einheitlichen Standards beruht. Niemandem wird im Bildungs- oder Gesundheitsbereich verwehrt, sich weitere zusätzliche Leistungen hinzuzukaufen. Im Bereich des dualen Systems aus GKV und PKV wird die Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen jedoch allein dadurch in Frage gestellt, dass es für ein und dieselbe Leistung zwei unterschiedliche Preise für unterschiedliche Kundengruppen gibt: die Vergütungen bei PKV-Versicherten sind deutlich höher als bei GKV-Versicherten. Eine solche Form der Preisdiskriminierung wäre in der Marktwirtschaft nur möglich bei Vorliegen von Marktmacht, also einer massiven Einschränkung des gepriesenen Wettbewerbs. Sie ist also eher Symptom eines Defektes als ein Symptom funktionierenden Wettbewerbs. Die Einheitlichkeit des Preises für dasselbe Gut ist für gewöhnlich das Resultat funktionierenden Wettbewerbs

Ein weiterer Kniff in der Wortwahl ist die Gegenüberstellung des – positiv konnotierten – Sozialstaates, der sich ordnungsökonomisch den Wettbewerb zunutze macht, und der – negativ konnotierte – Wohlfahrtsstaat, in welchem allen Substantiven ein “Einheits-” vorangestellt wird, um Assoziationen zur DDR zu erwecken, ähnlich wie im oben diskutierten Artikel von Mihm. Jeder kann natürlich definieren, wo die feine semantische Linie zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat verläuft, jeoch halte ich das für uninteressant. Die Frage ist stets, welche Spielregeln der Staat (im Auftrag der Bürger) definiert, und wie diese sich auf Anbieter von medizinischen Leistungen und Anbieter von Versicherungsleistungen auswirken, und ob das gewünschte Resultat (siehe oben) auf möglichst effiziente Weise erzielt wird. Wenn die sozialpolitische Grundsatzentscheidung lautet, dass alle Bürger mit gleicher Indikation Zugang zu den gleichen Leistungen haben sollen, für die schon jetzt ein gesetzlicher Katalog definiert wurde (und darüber hinaus jeder medizinische Leistungen nachfragen kann wie er oder sie will), dann ist also gewollt, dass der Wettbewerb nicht vermittels der genannten Preisdiskriminierung funktioniert.

Auch bei einer Bürgerversicherung (oder im FAZ-Duktus: der Einheitsversicherung des sozialistischen Wohlfahrtsstaates) besteht Wettbewerb: Zunächst gibt es Wettbewerb zwischen den GKV, wenn auch die Spielräume wegen des gesetzlichen Leistungskataloges und des Kontrahierungszwangs eher begrenzt sind. Dieser Wettbewerb wird auch von Anhängern des dualen Systems nicht bestritten, und dieser würde auch in einem System der Bürgerversicherung weiter bestehen. Weiterhin gibt es Wettbewerb zwischen Ärzten oder Kliniken um möglichst lukrative Fälle – also nicht Fälle, in denen für dieselbe Leistung ein höherer Preis abkassiert werden kann, sondern Fälle, bei denen das Verhältnis von Vergütung und Kosten möglichst günstig ist bei gleichzeitig hoher Versorgungsqualität, weil ansonsten die Kunden einen anderen Arzt oder eine andere Klinik wählen. Dies sollte zu einem möglichst effizienten Ressourceneinsatz führen, also nicht zu möglichst geringem Ressourceneinsatz, da sonst die Versorgungsqualität leidet und man den Kunden verliert, aber auch nicht zu einer Überversorgung mit Ressourcen, bei der sich der Kunde zwar gut versorgt fühlt, die dafür aber die Gewinnmarge stark schmälert. Die Effekte eines solchen Qualitäts-Wettbewerbs sollten zum einen zur Herausbildung komparativer Vorteile, sprich Spezialisierung führen, zu einem besseren Informationsaustausch um Kosten von Doppeluntersuchungen zu vermeiden, sowie zu einem bedarfsgesteuerten regionalen Angebot. Derzeit konzentrieren sich die Anbieter dort, wo es die meisten PKV-Nachfrager gibt statt dort, wo es die entsprechende Menge an Indikationen gibt, auf die man selbst spezialisiert ist (z.B. Stadt-Land-Gefälle). Wenn also die Anhänger des dualen Systems den Wettbewerb preisen, den man mit einem sozialistischen Einheitssystem aushebeln würde, so zeigt das eher eine Ideologiegetriebenheit der Argumentation und unzureichendes Verständnis, was auf diesen Märkten derzeit stattfindet. Man verlässt sich auf die Phrase, dass “der Markt” doch irgendwie immer besser sei als “der Staat”. Eine ökonomische Analyse der komplexen dreiseitigen Beziehung zwischen Patient und Arzt, Arzt und Versicherer sowie Versicherer und Patient, welche sowohl durch starke Informationsasymmetrien gekennzeichnet sind, als auch durch Anforderungen, die durch das Sozialstaatsprinzip festgelegt sind, zeichnet ein differenzierteres Bild, wo welche Art von Wettbewerb möglich, nützlich, oder ggf. auch ungünstig ist. Im gegenwärtigen System besteht beispielsweise ein Anreiz zu einer Überversorgung von PKV-Patienten, weil der Arzt oder die Klinik es einfach abrechnen können. Der Versicherer hat weniger Instrumente zur Kostenkontrolle an der Hand und wird sich scheuen, einen Teil der als überhöht angesehenen Rechnung nicht zu begleichen aus Angst, den Kunden zu verlieren. Auf diese Weise kann der Arzt via Versicherung Extraktion von Konsumentenrente betreiben. Der Kunde wiederum kann nicht beurteilen ob diese Leistung notwendig war oder nicht, kann diesen Fehlanreiz also nicht durch sein Nachfrageverhalten beheben.

Und so bleiben am Ende des Artikels von Herrn Abelshauser zwar eine sehr informative Nacherzählung der Geschichte der GKV und PKV, aber am Ende auch die fast ausschließlich ideologiebasierte schlichte Behauptung, dass sich dieses System “bewährt” und deshalb erfolgreich stets gegen solche sozialistisch anmutende Radikalexperimente gestemmt habe. Substanzielle theoretische und empirische ökonomische Argumente sind Fehlanzeige.

Wer auch immer zum Thema Bürgerversicherung Interviews gibt und in den Medien Kommentare schreibt, sollte mal folgende fiktive Klausuraufgabe eines VWL-Studierenden im Fach “Finanzwissenschaft II” versuchen zu lösen: “Analysieren sie den Gesundheitsmarkt mit den Akteuren Patient, Arzt und Versicherung einschließlich der Informationsasymmetrien zwischen allen drei Akteursgruppen und die daraus folgenden Handlungsanreize. Gehen Sie weiterhin von der Restriktion aus, dass alle Patienten bei gleicher Indikation den Zugang zu dem gleichen Mindeststandard an Gesundheitsleistungen haben sollen. Die dafür zu zahlenden Prämien sollen einkommensäquivalent sein. Untersuchen Sie verschiedene Allokationsmechanismen hinsichtlich ihrer Effizienz, und leiten Sie entsprechende ordnungsökonomische und regulatorische Politikempfehlungen ab.”

Die Ungleichverteilung und die „Schere zwishen Arm und Reich“

Die FAZ widmet eine ganze Themenseite zu diesem Thema. Außer dem Armutsbericht der Bundesregierung und UN-Berichten zur globalen Armut gibt es immer wieder Publikationen, welche die Ungleichheit der Einkommen oder Vermögen zum Gegenstand haben, zuletzt etwa eine Studie der Deutschen Bundesbank oder die Überschlagsrechnung von Oxfam, nach welcher die reichsten 64 Personen der Welt mehr als die Hälfte des Vermögens besitzen. Regelmäßig betonen die einen – so auch überwiegend die FAZ-Redakteure -, dass es weder innerhalb Deutschland noch global eine Zunahme der Ungleichheit gebe, und global die Ungleichheit sogar sinke. Die anderen wiederum akzeptieren dies nicht und behaupten im Gegenteil, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehe. Ich behaupte hier, dass beide von verschiedenen Dingen sprechen.

Von welcher (Ungleich-) Verteilung wird gesprochen?

Manche beziehen sich auf Einkommen, andere auf das (Netto-) Vermögen. Das ist nicht dasselbe. Ist nun der „Arme“ derjenige mit dem sehr geringen Einkommen, oder derjenige mit dem sehr geringen Vermögen? Die übliche Armutsdefinition bezieht sich auf das Einkommen. Aber auch hier kommt es auf die normative Perspektive an: absolute Armut (z.B. Einkommen unter 1,30 Dollar/Tag) versus relative Armut (Einkommen unter 60% des Median-Einkommens). Der globale Erfolg bei der Armutsbekämpfung bezieht sich auf die absolute Armut. Dabei wird die unterschiedliche Kaufkraft in den Ländern sowie die Inflation durchaus berücksichtigt. Dem Armutsbericht der Bundesregierung und dem deutschen Mediendiskurs liegt dagegen der relative Armutsbegriff zugrunde. Konstruktionsbedingt kann es natürlich sein, dass es in einem bettelarmen Land viel weniger relative Armut gibt als im reichen Deutschland. Da ist es müßig, wenn sich in den Medien die Anhänger unterschiedlicher Sichtweisen gegenseitig vorwerfen, sie würden einen „irreführenden“ Indikator verwenden. Die beiden Armutsindikatoren beantworten unterschiedliche Fragen und haben beide ihre Vor- und Nachteile.

Auf der anderen Seite wird die Verteilung des Vermögens gemessen. Was das genau ist und wie hoch dieses ist, ist weitaus weniger klar als im Fall des Einkommens. Besonders umstritten sind die Punkte, (i) ob Ansprüche an die Rentenversicherung einbezogen werden sollen (was in der Statistik eher selten der Fall ist), und ob (ii) die Betrachtung des Nettovermögens (Vermögen minus Schulden) sinnvoll ist. Befürworter argumentieren, dass man ja wohl keinen Besitzer einer Villa plus Rolls-Royce jemandem gleichstellen kann, der ebenfalls eine Villa und Rolls-Royce hat, sich dies aber nur auf Pump geleistet hat. Dies spricht für die Nettobetrachtung. Dann allerdings ist jemand, der 1 Mio Euro Vermögen sowie 1.1 Mio Euro (nachhaltig finanzierte) Schulden hat rechnerisch „ärmer“ als der Tagelöhner aus Bangladesch, der keine Schulden machen kann, weil er überhaupt kein Vermögen hat. Was ist nun sinnvoll? Ich lasse das mal offen.

Wie wird (Ungleich-) Verteilung gemessen?

Es gibt eine ganze Reihe von Messkonzepten, von denen ein weithin bekanntes und viel genutztes der Gini-Koeffizient ist (siehe dazu den entsprechenden Wikipedia-Artikel). Dieser hat den Vorteil, dass er unabhängig vom absoluten Einkommens- oder Vermögensniveau – und damit auch inflations- und währungsunabhängig – ist und ein standardisiertes objektives Maß bietet. Aber bei jeder Betrachtung, die die Umstände auf eine einzige Zahl verdichtet, gehen natürlich Informationen verloren. Ein gleich bleibender Gini-Koeffizient sagt zum Beispiel nicht viel über den Abstand der Haushalte mit dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen bzw. Vermögen aus (Polarität). Es ist somit statistisch kein Widerspruch – wie zum Beispiel im letzten Bundesbankbericht zur Vermögensverteilung nachzulesen ist -, dass die ärmsten 40% der Haushalte in 2014 über ein geringeres Nettovermögen verfügten als noch 2010, während die reichsten 10% der Haushalte über ein höheres Vermögen verfügen, aber der Gini-Koeffizient trotzdem gleich bleibt. Das kann zum Beispiel dadurch zustande kommen, dass mehr vermögensschwache Haushalte in die Mittelklasse aufgerückt sind. Wenn also die Botschaft der Studie, dass der Gini-Koeffizient sich zwischen 2010 und 2014 praktisch überhaupt nicht verändert hat, einen FAZ-Redakteur zu der Aussage verleitet, dass damit bewiesen sei, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht, so ist das eine Fehldeutung der Aussage des Koeffizienten.

Also obacht! mit den verwendeten Verteilungsmaßen. Ähnliches gilt auch für die globale Ungleichverteilung, die angeblich seit den 1990er Jahren eher abnimmt als zunimmt, weil vor allem in einigen Schwellenländern eine Mittelschicht heranwächst, die zu den Industrienationen aufzuholen beginnt. Das mag zwar stimmen und erscheint mir nicht unplausibel, aber ein abnehmender Gini-Koeffizient für die Verteilung der Durchschnittseinkommen reicher und armer Länder ist nur ein unzureichender Indikator. Wie wir oben gesehen haben, könnte man einen sinkenden globalen Gini-Koeffizienten auch dann haben, wenn lediglich eine reiche Elite in den armen Ländern deutlich zu den reichen Ländern aufholt, während die arme Hälfte im Elend versinkt, während gleichzeitig in den reichen Ländern das ärmste Drittel von der Gesamtentwicklung abgehängt wird. Ein solches Szenario würde einem wohl weniger Jubelschreie entlocken als nur die Aussage, dass die globale Ungleichheit gemäß Gini-Koeffizient abnimmt. Genaueres wüsste man, wenn man die Einkommensverteilungsfunktionen aller einzelnen Länder hätte, aber die liegen sehr oft nicht vor, oder werden durch mehr oder weniger fantasievolle Hilfskonstrukte approximiert.

Summa summarum: Das Verteilungsmaß des Gini-Koeffizienten ist außerordentlich nützlich, aber dieser misst nicht die „Schere zwischen Arm und Reich“. Dazu sind Informationen nötig, die bei der Konstruktion des Koeffizienten untergehen.

PS: In den Medien gibt es die verbreitete Attitüde, dass mit wegwerfender Handbewegung gesagt wird: „Ach, das ist bloß Statistik. Der ist eh nicht zu trauen, mit kann man eh zeigen, was man will…“ oder „Ach, das sind doch bloß Durchschnittswerte, die haben eh nichts mit der Realität zu tun…“  usw. Davor kann man nur warnen! Wer so denkt, liefert sich ideologischem Denken fernab jeder Empirie aus. Wer braucht schon empirisches Wissen, wenn man schon Überzeugungen hat? Die auch von Studierenden immer wieder gern bemühte „Realität“ erfassen wir nun mal mit Messmethoden. Diese sind nie theoriefrei und setzen meist normative Entscheidungen voraus. Wer dies nicht kritisch reflektieren möchte, sollte auch nicht über „die Realität“ schwadronieren.