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ESBies: Ein Instrument zur Reduktion von Risiken im Eurosystem

[Siehe Follow-Up am Ende des Beitrags]

Im Folgenden geht es um zwei mehr oder weniger voneinander unabhängige Risiken im Eurosystem, nämlich erstens um die Bilanzrisiken der EZB aufgrund des Quantitative Easing (QE), und zweitens um die enorm hohen TARGET2-Salden im Eurosystem (siehe ausführliches Papier hier). QE hat die ESZB-Bilanz stark ausgedehnt. Mir geht es hier nicht um eine kritische Würdigung der unkonventionellen Maßnahmen insgesamt, sondern ausschließlich um das Problem, dass zum einen eine kurz- bis mittelfristige Rückführung der Geldbasis kaum möglich erscheint. Werden Staatspapiere fällig, so verringert sich zwar die Geldbasis automatisch, aber die Fälligkeit der meisten Papiere liegt in ferner Zukunft. Dieser Automatismus ist also für eine Exit-Strategie wenig geeignet. Ein massiver Verkauf der Papiere ist wegen des dadurch erzeugten Preis- und Zinsdrucks ebenfalls kaum möglich. Zum anderen besteht das Risiko, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder auch nur der Erwartung höherer staatlicher Budgetrisiken die Preise der bereits gekauften und bilanzierten Papiere fällt, und die EZB somit zu hohen Abschreibungen gezwungen sein wird. Aus dem Grund hat sie bereits Rückstellungen gebildet. Da die EZB formal nicht insolvent werden kann (d.h. auch mit negativem Eigenkapital durchaus weiterarbeiten kann), sollte dieses Risiko nicht dramatisiert werden. Aber erstrebenswert ist es nicht.

Nun haben bereits vor ein paar Jahren Brunnermeier et al. (2011, 2016) einen Vorschlag entwickelt, nämlich die Konstruktion eines European Safe Bonds (ESBies), einem Derivat, hinter dem ein ein Pool aus Staatsanleihen europäischer Länder steht. Im Grunde funktioniert das Instrument wie jedes Asset Backed Security (ABS) durch den Pooling-Effekt: das Ausfallrisiko des Derivats ist überschaubar, da der gleichzeitige Ausfall gleich mehrerer Staaten unwahrscheinlich ist, und die Risikoprämie entsprechend etwas kleiner ist als im Durchschnitt der einzelnen darin enthaltenen Titel. Die Autoren schlagen vor, dieses Derivat in Tranchen aufzuteilen – auch dies ähnlich wie bei anderen ABS. Die Senior Tranche ist dabei so konstruiert, dass sie den Zinssatz (und Risikoprämie) des besten darin enthaltenen AAA-Bonds hat (z.B. eine deutsche Staatsanleihe). Risiko und Zinssatz der  Junior Tranche ist entsprechend höher. Im Grunde nutzt man die Möglichkeiten der Finanzintermediationstechniken für die Finanzierung europäischer Staaten geschickt aus, und schafft dabei ein europaweites hochliquides Finanzinstrument. Um voreiligen Schlüssen vorzubeugen: Nein, dies ist kein Eurobond im Sinne einer “Vergemeinschaftung von Schulden”! Die Staaten sind für ihre eigenen Schulden verantwortlich. Kein Staat kann ESBies herausgeben und sich darüber finanzieren, oder über dieses Instrument Risiken auf andere abwälzen. Ändern sich Risiken einzelner Staaten, ändert sich entsprechend die Performance des ESBies und die begebende Institution muss ggf. entsprechend die Struktur des ESB und das Tranching anpassen. Es ist strenggenommen noch nicht einmal ein politischer Akt der Einführung von ESBies notwendig, denn der Markt selbst könnte ohne weiteres ungefragt solche Derivate produzieren. Denjenigen Deutschen, die bei der Wortkombination “Euro” und “Bond” bereits aufhören zu lesen und zu protestieren anfangen, entgehen leider ein paar erhellende Einsichten.

Man kann sich nun vorstellen, dass eine Institution (ein “Special Purpose Vehicle” im öffentlichen Auftrag oder auch private SPV) in großen Stil Staatspapiere zum Beispiel aus Beständen des ESZB, aber auch von anderen Anlegern aufnimmt, poolt, in eine sichere Senior-Tranche (ESBie) und einer riskante Junior-Tranche verwandelt, und an interessierte Anleger weiterverkauft, z.B. wiederum Zentralbanken, Banken oder Fonds. Aufgrund des Pooling-Effekts dürfte für renditeorientierte Anleger eine Junior-Tranche vielleicht interessanter sein als direkt eine griechische Staatsanleihe zu kaufen (die aber gleichwohl zu einem gewissen Prozentsatz in der Tranche enthalten ist). Die Senior-Tranchen könnten als Sicherheit von Banken gehalten werden. Gegebenenfalls kann man deren Nachfrage nach Senior-ESBies sogar erzwingen, indem das ESZB diese als Sicherheiten für Refinanzierungsgeschäfte verlangt. Auf diese Weise könnte die EZB auch vor Fälligkeit in größerem Umfang Staatspapiere loswerden ohne diese direkt auf Sekundärmärkten verkaufen und somit Preisdruck hervorrufen zu müssen. Im Januar 2017 hat Gerald Braunberger diesen Gedanken des Brunnermeier-Papiers bereits in der F.A.Z. sehr schön diskutiert. Sofern Banken diese ESBies dann kaufen (und entsprechend mit Reserven bezahlen), sinkt die Geldbasis. Dies würde der EZB sehr viel mehr Flexibilität für eine mögliche Exit-Strategie aus ihrem QE-Programm bringen.

In diesem Beitrag gehe ich noch einen Schritt weiter: Diejenigen ESBies, welche nicht an Banken verkauft werden, verbleiben in den Bilanzen der EZB sowie der nationalen Zentralbanken. Da es sich um ein europaweit einheitliches liquides Finanzprodukt handelt, wäre es möglich, ähnlich wie im amerikanischen Fed-System, einen Clearing-Mechanismus bei grenzüberschreitendem Zentralbankverkehr einzubauen. TARGET2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Zahlungen, da mit einer Überweisung von Bank A aus Land X zu Bank B in Land Y nicht nur die Depositen, sondern auch die entsprechenden Reserven von Bilanz A in die Bilanz B wandern. Findet der Transfer innerhalb eines Raumes mit nur einer Zentralbank statt, so würde dieselbe Reservemenge von Bank B statt Bank A bei der Zentralbank gehalten. Da aber Banken nur Refinanzierungsgeschäfte mit ihrer jeweiligen nationalen Zentralbank tätigen, ergibt sich auf Zentralbankebene nun ein Saldo (TARGET2), da die Aktivseiten der nationalen Zentralbanken bei diesem Transfer unberührt bleiben und somit dieser Saldo entsteht. Derzeit hat die deutsche Bundesbank enorm hohe “Forderungen” gegenüber südlichen Zentralbanken, etwa der griechischen, wobei der Terminus “Forderung” eine Interpretation als “Kredit” oder gar “Kredit aus der (elektronischen) Notenpresse”(H.-W. Sinn) nahelegt. Das ist jedoch umstritten ist, denn weder geht davon eine Finanzierungswirkung für jemanden aus Land X aus, noch implizieren die salden-bedingte Verlängerung der Zentralbankbilanzen eine Geldmengenerhöhung (siehe dazu Burgold und Voll (2012)). Der TARGET2-Saldo ist nicht eine Finanzierungsvoraussetzung, damit der griechische Importeur (per “elektronischem Kredit”) die deutsche Ware kaufen kann (“wir” also “deren” Leistungsbilanzdefizit finanzieren), sondern ist vielmehr Resultat einer Zahlung, die der Importeur möglicherweise aus eigenen Mitteln finanzieren konnte. Diese Debatte soll aber hier nicht das Thema sein.

Würden alle nationalen Zentralbanken ESBies halten, so würden bei grenzüberschreitendem Zahlungsverkehr die ursprünglichen “Forderungen”, welche bei der nationalen Zentralbank in Land X denjenigen Reserven gegenüberstehen, die nun in Land Y geflossen sind, eben auch die entsprechenden Forderungen in gleicher Höhe in Gestalt von ESBies an die Zentralbank in Land Y übertragen. So wie zwischen Geschäftsbanken stets Depositen und Reserven von einer Bilanz zur anderen überwiesen werden, werden nun Reserven und ESBies von einer Zentralbankbilanz zur anderen überweisen. Ein TARGET2-Saldo würde nicht entstehen (oder nur temporär, wenn Zentralbank X momentan nicht über genügend ESBies verfügt und sich diese erst am Markt beschaffen muss). Ein permanentes Clearing wäre die Folge, was Ähnlichkeiten zum amerikanischen Fed-System aufweisen würde (siehe Voll (2014)). Der Austritt aus der Währungsunion wäre nicht mehr mit verbleibenden “Forderungen” gegenüber der austretenden Zentralbank verbunden.

Auch die sehr hohen Bestände von TARGET2-Salden ließen sich ohne Effekte auf die Basisgeldmenge reduzieren: Zentralbank X müsste entweder einen Teil seiner Staatspapiere in das “Special Purpose Vehicle” auslagern und in ESBies umtauschen (Aktivtausch), anschließend an die Zentralbank in Y transferieren und den existierenden Saldo glattstellen. Soll die Menge an ESB ebenfalls konstant bleiben, so könnte Zentralbank X Aktiva mit Geschäftsbanken tauschen, sofern letztere bereit wären, ESB gegen die von Zentralbank X gehaltenen Aktiva zu tauschen. Das wäre sicherlich eine Frage des Preises, aber im Prinzip möglich. Man kann auch daran denken, auch Junior-ESB einzubeziehen.

Ein weiterer Vorteil wäre, dass nationale Geschäfts- und Zentralbanken nicht auf das Halten heimischer Staatsanleihen fixiert wären. Dies führt nämlich zu einem “diabolic loop”, weil Zweifel an der staatlichen Zahlungsfähigkeit zu einem Preisverfall deren Papiere führt und damit die nationalen Banken in Bedrängnis bringt, so dass wiederum teure staatliche Bankenrettungsmaßnahmen nötig werden können. Wie Brunnermeier et al. zeigen, sind ESB ein Instrument, diese Zirkularität zu durchbrechen.

Brunermeier et al. (2016) haben diesen Vorschlag mit empirischen Daten in aufwändigen Simulationen durchgerechnet um die Eigenschaften der ESBies und Junior-Tranchen für unterschiedliche Risiko-Szenarien zu untersuchen. Zwar ist richtig, dass viele Menschen seit der Finanzkrise eine Gänsehaut bekommen, wenn sie auch nur “Derivate”, “Asset Backed Securities”, “Tranching” oder “Hedging” hören, aber es ist zu hoffen, dass geldpolitische Entscheidungsträger und Europapolitiker genügend Expertise haben um zu erkennen, dass man die Vorteile von Finanzintermediation nicht einfach links liegen lassen, sondern nutzen sollte.

[Follow-Up: Kommentar zum Gastkommentar von Ludger Schuknecht und Levin Holle in der FAZ vom 23.11.2017]

In der FAZ-Überschrift und im Teaser ist von ESBies als „Euro-Anleihen“ und „Schuldenvergemeinschaftung“ die Rede. Das ist irreführend! Mit ESBies werden keine neuen Anleihen begeben, die dem Staat Geld bescheren, und von einer „Vergemeinschaftung“ im Sinne einer gemeinschaftlichen Haftung kann nicht die Rede sein, im Gegenteil. ESBis werden so schon nach wenigen Zeilen in unmittelbare Nähe zu Eurobomds gerückt, wo der Durchschnitts-FAZ-Leser bereits aufhört zu lesen und negativ voreingenommen wird. Man kann nur hoffen, dass nicht die Autoren selbst, beide hochrangige Mitarbeiter des BMF, diese Begriffe gewählt haben.

Die Autoren befürchten, dass es sich um ein „Schönwetterkonstrukt“ handelt, und im Krisenfall eines Staates die Nachfrage nach Junior-Tranchen versiegt und so eine Emission von ESBies nicht mehr möglich sei. Zum einen zweifeln sie damit die ausführlichen Simulationen von Brunnermeier et al. an, die genau die Auswirkungen solcher Krisenfälle untersucht haben. Da hätte man schon gerne gewusst, wie die Autoren zu dieser abweichenden Einschätzung kommen. Zum anderen betrifft ihr Argument in erster Linie die Neu-Emission von ESBies, da im Krisenfall lediglich die Junior-Tranchen an Wert verlieren werden. Bei der Neu-Emission würde sich aber die Portfoliozusammensetzung und der Tranching-Punkt entsprechend der neuen Situation anpassen. Papiere von Krisenstaaten hätten dann ein geringeres Gewicht oder fallen ganz heraus.

Die Autoren bemängeln, dass ESBies nicht das verfügbare Volumen an sicheren liquiden Anlagen erhöhen, da ja in entsprechendem Umfang die emittierende Institution sichere Staatsanleihen vom Markt weggekauft hat. Das allerdings ist trivial. Es ist auch gar nicht der vorrangige Zweck von ESBies, in großen Stil zusätzliche sichere Assets bereitzustellen, aber ein über Ländergrenzen hinweg einheitliches Asset (was zumindest einen gewissen Einfluss auf die Liquiditätsprämie haben dürfte, da die Marktsegmentierung abnimmt). Zudem scheinen die Autoren zu übersehen, dass der Sinn der Übung doch gerade die Nutzung des Pooling-Effektes ist: die Assets, die schon zuvor ein AAA-Rating hatten, gehen nun in einem synthetischen Asset auf, welches ebenfalls dieses Rating hat. Durch Pooling und Tranching jedoch können auch AA, oder A-Papiere zu dem synthetischen Papier beitragen, wodurch sich eben doch der Gesamtumfang von AAA-Papieren (wenn auch nicht dramatisch) erhöht. Auch verstehe ich die Logik nicht ganz, weshalb dieses Argument gegen ESBies spricht.

Schließlich bemängeln die Autoren, dass ein synthetisches Konstrukt komplexer, intransparenter, und daher risikoreicher sei. Man sei auf das Risikomanagement des Emittenten angewiesen. Wir sprechen hier von Staatsschuldverschreibungen und klaren transparenten Regeln nach dem ESBies Handbook, das alles möglicherweise überwacht und zertifiziert durch öffentliche Institutionen. Die Zielgruppe der Abnehmer sind Banken des Euroraums sowie (Geldmarkt-) Fonds, nicht so sehr Oma Paschulke, oder Zeitungsleser, bei denen sich beim Wort „synthetisches Derivat“ schon Verwirrung einstellt. Die Autoren meinen, dass deshalb wohl eine regulatorische Privilegierung notwendig sei, diese jedoch „nicht gewollt sein kann“. Da liegt wohl ein Missverständnis vor, denn genau das ist durchaus gewollt. Wenn ESBies als Standard-Asset in Bankbilanzen verwendet wird, z.B. weil diese als Sicherheit für Offenmarktgeschäfte gefordert sind, oder weil diese, wie bisher schon AAA-geratete Staatsanleihen, keine Eigenkapitalanforderung benötigen, dann wird z.B. der „Diabolic Loop“ durchbrochen, wie Brunnermeier et al. argumentieren, und dann ergeben sich auch die potenziellen Vorteile, die ich weiter oben beschrieben habe. Ich sehe nicht, weshalb man die Vorteile der Finanzintermediation einfach ungenutzt lassen sollte.

Als Alternative und letztlich besseren Weg zur Stabilität im Euroraum schlagen die Autoren zwei Banalitäten vor: (i) die adäquate Risikobepreisung auch von Staatsanleihen mit entsprechenden Eigenkapitalanforderungen in Bankbilanzen. Das ist natürlich ein sehr guter Vorschlag und wird von Ökonomen schon lange eingefordert. Er spricht aber nicht gegen ESBies, die eben genau aufgrund eines solchen Schritts attraktiver werden würden, zumindest bei Banken, die bislang nur B-Staatsanleihen in ihrer Bilanz halten. (ii)  Die Staaten sollten für solide Staatsfinanzen sorgen. Ach du meine Güte, ja wer soll denn da etwas dagegen haben. Die ESBies sind ja nun wahrlich kein Instrument, das als Alternative zu soliden Staatsfinanzen gedacht ist. Wer unsolide wirtschaftet, dessen emittierte Anleihen werden in stetig sinkendem Maß im ESBie-Portfolio berücksichtigt, so dass Staaten gerade einen Anreiz zu soliden Staatsfinanzen haben sollten. Diese Vorschläge der Autoren werden bei FAZ-Lesern reflexhaften Beifall hervorrufen. Aber es ist ungefähr so, als würden Herzchirurgen über die Vorteilhaftigkeit einer neuen Generation von Herzkathedern diskutieren, und einer lehnt diese pauschal ab, weil es doch viel besser sei, wenn potenzielle Patienten vorher mehr Sport treiben würden.

Niedrigzins und die angebliche “Enteignung der Sparer”

Mit der Ersparnis verschiebt man (potenziellen) Konsum in die Zukunft. Dabei wird der Zins als eine Art “Prämie” für den heutigen Verzicht verstanden, die den Anspruch des Sparers auf einen Teil des zukünftigen BIP vergrößert. In einer geschlossenen Volkswirtschaft, aber auch in der aggregierten Betrachtung mehrerer Volkswirtschaften, entspricht die Ersparnis den Investitionen. Diese erhöhen den Kapitalstock und sorgen – neben anderen Determinanten – für das Anwachsen des BIP, aus dem heraus die Zinsansprüche des Sparers dann befriedigt werden können. Anders ausgedrückt: die Sparer haben Anspruch auf den durch ihre Ersparnis erzeugten Mehrwert!

Nun ist jedoch jegliche Erzeugung eines Mehrwertes unsicher. Es sind Unternehmen bzw. Unternehmer, die entsprechende Investitionsrisiken auf sich nehmen. Mal sind Projekte hochrentabel, mal sind die Rückflüsse aus der Investition gering, und manchmal sogar negativ, wenn Projekte scheitern. Ein Teil des BIP-Zuwachses, nämlich unternehmerischer Gewinn (Profit) kann man als Entlohnung für die Übernahme unternehmerischer Risiken, als eine Art Risikoprämie verstehen. Diese wird u.a. an diejenigen Vermögensbesitzer ausgeschüttet (z.B. in Form von unsicheren Dividenden), die bereit waren, entsprechende Risiken einzugehen, als sie die Wahl hatten, in welcher Form sie ihre Ersparnisse halten wollen (z.B. Aktien versus Schuldverschreibungen oder Bankeinlagen).

Ein anderer Teil des geschaffenen Mehrwertes geht aber nicht auf das Konto der Vergrößerung des Kapitalstocks, sondern ist dem technischen Fortschritt zuzuschreiben (der wiederum durch risikobehaftete unternehmerische Tätigkeit und Investitionen in Forschung und Entwicklung zustande kommt). Dieser erhöht die Arbeitsproduktivität. Dadurch wird ein Teil des Mehrwertes per grenzproduktivitäts-orientierter Entlohnung an den Faktor Arbeit verteilt. Wer durch seine Arbeit pro Stunde mehr erzeugt, hat eben auch einen Anspruch auf Teilhabe daran. Auf wettbewerblichen Märkten würde sich jedenfalls die gestiegene Arbeitsproduktivität in höheren Reallöhnen niederschlagen.

Nur derjenige Teil des unter Risiko erzeugten realen Mehrwertes, der dann übrig bleibt, kann überhaupt nur an diejenigen ängstlichen Sparer verteilt werden, die ihr Vermögen in Form von Kontrakten halten, die mit festen Zinsansprüchen versehen sind. Dass so etwas überhaupt möglich ist, feste Zinsansprüche zu vereinbaren, ohne Bereitschaft nennenswerte Risiken auf sich nehmen zu müssen, oder in der Lage sein müssen, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, ist schon ein großes Zugeständnis, ein soziales Konstrukt, auf das Sparer keineswegs wie auf eine Art “Naturrecht” pochen können. Und darüber hinaus besteht noch der Anspruch, dass diese Anlage bitteschön auch noch hochliquide sein soll. Das Beharren auf positive Zinssätze und die Empörung über eine “Enteignung”, wenn in einer stagnierenden und mit Unsicherheiten kämpfenden Wirtschaft der Anspruch auf einen risikolosen Zins auf Null fällt, ist eine Anmaßung und sollte ebenfalls Empörung hervorrufen.

Nun mögen einige einwenden, dass es ja auch Schuldner gibt, die das geliehene Geld nicht für Investitionen, sondern für Konsum verwenden und somit gar keinen “Mehrwert” erzeugen. In diesem Fall muss dann eben der Schuldner später einen Konsumverzicht üben um Schuld plus Zinsen zurückzahlen zu können, oder er geht pleite und der Gläubiger muss dann einsehen, dass das feste Zinsversprechen doch nicht ganz risikolos war und er bei der Kreditvergabe nachlässig war. Jedoch rede ich hier gar nicht über Zinsen für Gläubiger, sondern über Zinsen für Sparer, sowie den makroökonomischen Zusammenhängen von Ersparnis, Investition und gesamtwirtschaftlichem Einkommen.

Warum aber ist der Zins so niedrig? Die Rolle der Zentralbanken wird dabei üblicherweise dramatisch überschätzt. Es besteht selbst bei ökonomisch Gebildeten oft die Vorstellung, dass der Zins durch die Zentralbank “gesteuert” werde. Deren Einfluss auf das Zinsniveau ist nicht abzustreiten, von “Steuerung” kann aber (wie auch schon bei der “Steuerung” der Geldmenge) nicht die Rede sein. Ein Zinsanspruch besteht pro Vermögenseinheit, also z.B. für das Halten eines bestimmten Wertpapiers. Ansprüche auf einen Zins können also nur befriedigt werden, wenn der oben beschriebene Teil des erzeugten Mehrwertes – und allzu groß ist dieser in stagnierenden Volkswirtschaften nicht – auf die festverzinslichen Vermögensgegenstände (Assets) verteilt werden. Nun ist aber in den letzten Jahrzehnten der Finanzsektor, gemessen an der Zahl der Mitarbeiter, der Umsätze, Gewinne, aber eben auch gemessen an der Zahl des Assets enorm gewachsen. Getrieben auch durch den Bedarf an sicheren Anlagen für Liquidität sowie (u.a.) durch neue Instrumente des Hedgings wurden immer mehr Formen von Wertpapieren kreiert. Das Halten von Portfolios solcher Wertpapiere wird teilweise aber wiederum durch festverzinsliche Kontrakte finanziert, die ihrerseits wiederum an Märkten gehandelt werden können usw. Das alles ist nicht per se schlecht, kann im Gegenteil die Effizienz der Allokation von Kapital möglicherweise erhöhen. Manche Ökonomen sehen darin jedoch eine (Over-) Financialization – eine überbordende Entwicklung des Finanzsektors weit über die Entwicklung des realen Sektors hinaus, für den der Finanzsektor doch eigentlich nur Intermediärsfunktionen hat. Schon die Umlenkung wichtiger Ressourcen wie z.B. Humankapital in den Finanzsektor und die zunehmende Attraktivität der Investition in Finanzprodukte statt in realer Kapitalgüter könnte mit zu der sog. “säkularen Stagnation” der Realwirtschaft beigetragen haben. Für unsere Argumentation wichtiger jedoch ist es, dass allein die steigende Zahl der festverzinslichen Assets es geradezu erzwingt, dass der pro Asset zu verteilende Mehrwert kleiner werden muss. Das hat mit der Zentralbankpolitik zunächst gar nichts zu tun. Auch wenn am Ende die Ersparnis den Investitionen entspricht, aber der steigende Aufwand bei der Intermediation den auf den “kleinen Sparer” zu verteilenden Mehrwert verringert, müssen die Ansprüche folglich reduziert werden. Man könnte es auch so ausdrücken: mit den geringen Zinsen “finanziert” der Sparer den Overhead des Finanzsystems durch dessen Produktion von Schuldtiteln. Es ist der Preis für eine inzwischen vielleicht schon überbordende Intermediation, die mit entsprechender Verschuldung einhergeht.

Man mag einwenden, dass in einer wettbewerblichen Welt Intermediation nur dann stattfindet, wenn sie selbst einen Mehrwert, hier: eine Verbesserung der Kapitalallokation, herbeiführt, und ansonsten gar nicht stattfinden würde. Das ist theoretisch wie empirisch fragwürdig. Der drastische Rückgang der Wohnungsmaklertätigkeit (auch eine Form der Intermediation) nach Einführung des Bestellerprinzips zeigt, dass vorher sehr wohl Intermediation auf Märkten durchgeführt wurde, wo sie offenbar gar nicht nötig war.

Was passiert, wenn man nun höhere Zinsansprüche an das BIP in einer eher stagnierenden Wirtschaft “durchsetzen” würde, wie das so einige deutsche Politiker gerne bei der EZB tun würden? Wie oben ausgeführt, müssen ceteris paribus entweder die Löhne hinter der Preis- und Produktivitätsentwicklung zurückfallen (also zulasten des Faktors Arbeit), oder aber der als Risikoprämie verstandene Teil des Mehrwertes für die Übernahme unternehmerischer Risiken muss eingeschränkt werden. Das wäre dann eine Umverteilung des Mehrwertes zulasten derjenigen Vermögenshalter, die bereit waren einen Teil des unternehmerischen Risikos zu übernehmen zugunsten der ängstlichen Sprücheklopfer, die über ihre “Enteignung” lamentieren. Ein Zurückdrängen einer finanzmarktgetriebenen Nachfrage (und damit Produktion) von Schuldkontrakten wird es wohl kaum geben, denn zum einen wird niemand normativ sagen können, welches der “richtige” Verschuldungslevel ist, und zum anderen würde dies auch die realwirtschaftliche getrieben Nachfrage nach Finanzierung durch Schuldkontrakte dämpfen und damit die Finanzierung eben jener Investitionen erschweren, deren Mehrwert man ja verteilen möchte.

Immerhin, einen Weg gäbe es noch: man löst die Zinsansprüche gar nicht ein, sondern perpetuiert sie. Man begibt sich auf den Weg einer Ponzi-Finanzierung, die aber niemand als solche erkennt. Das führt auf Dauer zu Blasen. Deren Platzen, also die Vernichtung von Ansprüchen, ist dann auch eine Art der “Enteignung”, die aber zwingend notwendig wird, weil der notwendige Mehrwert zur Befriedigung dieser Ansprüche gar nicht erzeugt werden kann. Vermutlich wird man dann aber ebenfalls Herrn Draghi die Schuld dafür geben.

Gewiss, bei Nullzins gibt es Probleme mit der Altersvorsorge und dergleichen mehr. Die RentnerInnen möchten schließlich ihre Ansprüche nicht weiter in eine Zukunft verschieben wollen, sie brauchen die Rentenzahlung sofort, und wollen diese auch sofort in Güter und Dienstleistungen umsetzen. Aber das ist der Preis dafür, dass man ein soziales Sicherungssystem auf ein Versprechen aufbaut, dass man nur in einer wahnwitzig wachsenden Realwirtschaft einlösen kann. Und auch der Preis dafür, dass man nicht verstanden hat, dass ein sicherer positiver Zinssatz keine Selbstverständlichkeit ist, sondern mühsam und riskant erwirtschaftet werden muss und dies eben nicht immer möglich ist.

Wohlstand steigt, Arbeitslosigkeit sinkt, und Armut wächst – wie passt das zusammen?

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wächst stetig, die Konjunktur ist gut, die Arbeitslosigkeit sinkt, trotzdem behaupten viele, dass das Armutsrisiko zunehme. Viele Verbände und Institutionen sehen hier stets die gleichen Ursachen: eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich (Polarisierung), zunehmende prekäre Arbeitsverhältnisse usw. An dieser Stelle möchte ich gar nicht bewerten, ob das Armutsrisiko tatsächlich zunimmt, und ob die dafür ins Feld geführten Gründe empirisch stichhaltig sind (zur Erinnerung sei darauf verwiesen, dass z.B. die Einführung des Mindestlohnes die Zahl der Minijobs deutlich reduziert hat). Im Folgenden gehe ich mal davon aus, dass tatsächlich das Armutsrisiko zunimmt. Ich möchte der Debatte einen weiteren Aspekt hinzufügen: das steigende Armutsrisiko kann auch lediglich ein statistisches Artefakt sein, welches durch die Definition von Armut zustande kommt!

Armut wird für entwickelte Volkswirtschaften als relative Armut definiert: als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60% des Medianeinkommens verdient. Genauer gesagt handelt es sich um 60% des Median-Äquivalenzeinkommens, bei welchem die unterschiedlichen Haushaltsgrößen berücksichtigt werden, aber das soll hier weiter keine Rolle spielen. Das Medianeinkommen ist dasjenige Einkommen, bei dem 50% der Haushalte darüber und 50% der Haushalte darunter liegen, also nicht das Durchschnittseinkommen. Letzteres ist bei empirischen Einkommensverteilungen stets größer als der Median.

Dies sei an folgende Mini-Volkswirtschaft mit 9 Haushalten demonstriert, die der Einkommenshöhe nach geordnet sind. d.h. Haushalt Nr. 5 ist der Medianhaushalt, denn je 4 haben ein höheres bzw. niedrigeres Einkommen. Es sei n die jeweilige Anzahl der Haushalte mit dem jeweils angegebenen Einkommen:

n 2 1 1 1 (Median) 2 2
Einkommen 100 200 300 400 700 1000

Die zwei ärmsten Haushalte seien arbeitslos und bekommen staatliche Unterstützung in Höhe von 100. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 500. Die ärmsten 3 Haushalte haben ein Einkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens von 400, so dass die Armutsquote 33% beträgt. Die Ungleichheit der Verteilung kann man anhand des Gini-Koeffizienten messen. Dieser beträgt in diesem Beispiel G=0,38. Da der Gini-Koeffizient nicht die „Schere zwischen Arm und Reich“ misst, wie oft fälschlich dargestellt wird (siehe dazu diesen Blogbeitrag), sei hier noch ein Polarisations-Indikator hinzugefügt: der Einkommensabstand der reichsten und ärmsten 5% der Bevölkerung beträgt 900.

Nun lassen wir diese Mini-Volkswirtschaft wachsen und gedeihen. Die Einkommen steigen auf breiter Front, die Arbeitslosigkeit sinkt, so dass nur noch ein Haushalt staatliche Unterstützung (nun sogar um 20% aufgestockt auf 120!) erhält:

n 1 2 1 1 (Median) 2 2
Einkommen 120 220 320 550 800 1000

Das Pro-Kopf-Einkommen ist auf 559 gestiegen, vor allem im mittleren Bereich, und die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Sogar die Ungleichverteilung ist zurückgegangen, da der Gini-Koeffizient nun nur noch G=0,33 beträgt. Und zur allgemeinen Freude ist sogar die Schere zwischen Arm und Reich rückläufig: der Einkommensunterschied der reichsten und ärmsten 5% beträgt nur noch 880.

Doch was ist das? Der Haushalt, dessen Einkommen von 300 auf 320 gestiegen ist, liegt nun unterhalb der 60% des (ebenfalls gestiegenen) Medianeinkommens. Somit beträgt die Armutsquote nun 44% statt 33%! Ein höchst alarmierendes Zeichen? Wir sehen: die so definierte Armut kann auch ohne wachsende Ungleichheit und ohne prekäre Arbeitsverhältnisse statistisch zunehmen, und dies bei zunehmendem Wohlstand. Alle diese Zahlen kann man sich als reale Werte vorstellen, also inflationsbereinigt, um auch dieses Argument aus dem Weg zu räumen (zudem hatten wir seit Jahren keine nennenswerte Inflationsraten). In dem Beispiel sind die oberen Einkommen prozentual weniger gestiegen als in der Gesamtbevölkerung, d.h. untere und vor allem mittlere Einkommen wuchsen relativ stärker. Aber das ist paradoxer Weise genau das Problem: das Medianeinkommen wuchs überdurchschnittlich, folglich nimmt die Armut zu! Anders gesagt: erfolgreiche Umverteilung zugunsten unterdurchschnittlicher Einkommen kann statistisch unter Umständen das Armutsrisiko erhöhen. Das spricht nicht gegen diese Maßnahmen, jedoch gegen eine voreilige Interpretation der Zahlen.

Ich stelle hier weder das Konzept der relativen Armut in Frage, noch möchte ich Armut verharmlosen. Aber die Kenntnisse von Messkonzepten und Fähigkeiten zum Interpretieren statistischer Ergebnisse sind bei vielen Menschen gering – anscheinend auch bei solchen, die im Fernsehen als „Experten“ befragt werden. Und das Interesse an Aufklärung ist eher gering, wenn man die Unkenntnis durch wohlfeile, intuitiv erscheinende Argumente instrumentalisieren kann. Den Armen hilft es am Ende nicht, wenn man auf der Grundlage statistischer und ökonomischer Informationsdefizite mehrheitsfähige Lösungen sucht.

Die Ungleichverteilung und die „Schere zwishen Arm und Reich“

Die FAZ widmet eine ganze Themenseite zu diesem Thema. Außer dem Armutsbericht der Bundesregierung und UN-Berichten zur globalen Armut gibt es immer wieder Publikationen, welche die Ungleichheit der Einkommen oder Vermögen zum Gegenstand haben, zuletzt etwa eine Studie der Deutschen Bundesbank oder die Überschlagsrechnung von Oxfam, nach welcher die reichsten 64 Personen der Welt mehr als die Hälfte des Vermögens besitzen. Regelmäßig betonen die einen – so auch überwiegend die FAZ-Redakteure -, dass es weder innerhalb Deutschland noch global eine Zunahme der Ungleichheit gebe, und global die Ungleichheit sogar sinke. Die anderen wiederum akzeptieren dies nicht und behaupten im Gegenteil, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehe. Ich behaupte hier, dass beide von verschiedenen Dingen sprechen.

Von welcher (Ungleich-) Verteilung wird gesprochen?

Manche beziehen sich auf Einkommen, andere auf das (Netto-) Vermögen. Das ist nicht dasselbe. Ist nun der „Arme“ derjenige mit dem sehr geringen Einkommen, oder derjenige mit dem sehr geringen Vermögen? Die übliche Armutsdefinition bezieht sich auf das Einkommen. Aber auch hier kommt es auf die normative Perspektive an: absolute Armut (z.B. Einkommen unter 1,30 Dollar/Tag) versus relative Armut (Einkommen unter 60% des Median-Einkommens). Der globale Erfolg bei der Armutsbekämpfung bezieht sich auf die absolute Armut. Dabei wird die unterschiedliche Kaufkraft in den Ländern sowie die Inflation durchaus berücksichtigt. Dem Armutsbericht der Bundesregierung und dem deutschen Mediendiskurs liegt dagegen der relative Armutsbegriff zugrunde. Konstruktionsbedingt kann es natürlich sein, dass es in einem bettelarmen Land viel weniger relative Armut gibt als im reichen Deutschland. Da ist es müßig, wenn sich in den Medien die Anhänger unterschiedlicher Sichtweisen gegenseitig vorwerfen, sie würden einen „irreführenden“ Indikator verwenden. Die beiden Armutsindikatoren beantworten unterschiedliche Fragen und haben beide ihre Vor- und Nachteile.

Auf der anderen Seite wird die Verteilung des Vermögens gemessen. Was das genau ist und wie hoch dieses ist, ist weitaus weniger klar als im Fall des Einkommens. Besonders umstritten sind die Punkte, (i) ob Ansprüche an die Rentenversicherung einbezogen werden sollen (was in der Statistik eher selten der Fall ist), und ob (ii) die Betrachtung des Nettovermögens (Vermögen minus Schulden) sinnvoll ist. Befürworter argumentieren, dass man ja wohl keinen Besitzer einer Villa plus Rolls-Royce jemandem gleichstellen kann, der ebenfalls eine Villa und Rolls-Royce hat, sich dies aber nur auf Pump geleistet hat. Dies spricht für die Nettobetrachtung. Dann allerdings ist jemand, der 1 Mio Euro Vermögen sowie 1.1 Mio Euro (nachhaltig finanzierte) Schulden hat rechnerisch „ärmer“ als der Tagelöhner aus Bangladesch, der keine Schulden machen kann, weil er überhaupt kein Vermögen hat. Was ist nun sinnvoll? Ich lasse das mal offen.

Wie wird (Ungleich-) Verteilung gemessen?

Es gibt eine ganze Reihe von Messkonzepten, von denen ein weithin bekanntes und viel genutztes der Gini-Koeffizient ist (siehe dazu den entsprechenden Wikipedia-Artikel). Dieser hat den Vorteil, dass er unabhängig vom absoluten Einkommens- oder Vermögensniveau – und damit auch inflations- und währungsunabhängig – ist und ein standardisiertes objektives Maß bietet. Aber bei jeder Betrachtung, die die Umstände auf eine einzige Zahl verdichtet, gehen natürlich Informationen verloren. Ein gleich bleibender Gini-Koeffizient sagt zum Beispiel nicht viel über den Abstand der Haushalte mit dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen bzw. Vermögen aus (Polarität). Es ist somit statistisch kein Widerspruch – wie zum Beispiel im letzten Bundesbankbericht zur Vermögensverteilung nachzulesen ist -, dass die ärmsten 40% der Haushalte in 2014 über ein geringeres Nettovermögen verfügten als noch 2010, während die reichsten 10% der Haushalte über ein höheres Vermögen verfügen, aber der Gini-Koeffizient trotzdem gleich bleibt. Das kann zum Beispiel dadurch zustande kommen, dass mehr vermögensschwache Haushalte in die Mittelklasse aufgerückt sind. Wenn also die Botschaft der Studie, dass der Gini-Koeffizient sich zwischen 2010 und 2014 praktisch überhaupt nicht verändert hat, einen FAZ-Redakteur zu der Aussage verleitet, dass damit bewiesen sei, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht, so ist das eine Fehldeutung der Aussage des Koeffizienten.

Also obacht! mit den verwendeten Verteilungsmaßen. Ähnliches gilt auch für die globale Ungleichverteilung, die angeblich seit den 1990er Jahren eher abnimmt als zunimmt, weil vor allem in einigen Schwellenländern eine Mittelschicht heranwächst, die zu den Industrienationen aufzuholen beginnt. Das mag zwar stimmen und erscheint mir nicht unplausibel, aber ein abnehmender Gini-Koeffizient für die Verteilung der Durchschnittseinkommen reicher und armer Länder ist nur ein unzureichender Indikator. Wie wir oben gesehen haben, könnte man einen sinkenden globalen Gini-Koeffizienten auch dann haben, wenn lediglich eine reiche Elite in den armen Ländern deutlich zu den reichen Ländern aufholt, während die arme Hälfte im Elend versinkt, während gleichzeitig in den reichen Ländern das ärmste Drittel von der Gesamtentwicklung abgehängt wird. Ein solches Szenario würde einem wohl weniger Jubelschreie entlocken als nur die Aussage, dass die globale Ungleichheit gemäß Gini-Koeffizient abnimmt. Genaueres wüsste man, wenn man die Einkommensverteilungsfunktionen aller einzelnen Länder hätte, aber die liegen sehr oft nicht vor, oder werden durch mehr oder weniger fantasievolle Hilfskonstrukte approximiert.

Summa summarum: Das Verteilungsmaß des Gini-Koeffizienten ist außerordentlich nützlich, aber dieser misst nicht die „Schere zwischen Arm und Reich“. Dazu sind Informationen nötig, die bei der Konstruktion des Koeffizienten untergehen.

PS: In den Medien gibt es die verbreitete Attitüde, dass mit wegwerfender Handbewegung gesagt wird: „Ach, das ist bloß Statistik. Der ist eh nicht zu trauen, mit kann man eh zeigen, was man will…“ oder „Ach, das sind doch bloß Durchschnittswerte, die haben eh nichts mit der Realität zu tun…“  usw. Davor kann man nur warnen! Wer so denkt, liefert sich ideologischem Denken fernab jeder Empirie aus. Wer braucht schon empirisches Wissen, wenn man schon Überzeugungen hat? Die auch von Studierenden immer wieder gern bemühte „Realität“ erfassen wir nun mal mit Messmethoden. Diese sind nie theoriefrei und setzen meist normative Entscheidungen voraus. Wer dies nicht kritisch reflektieren möchte, sollte auch nicht über „die Realität“ schwadronieren.

 

Anfa und die monetäre Staatsfinanzierung

Das „Agreement on net-financial assets“, nach welchem nationale Zentralbanken auf eigene Rechnung Staatspapiere kaufen können, was offenbar weder bilanztechnisch noch innerhalb des ESZB transparent kommuniziert zu werden scheint, wird zu Recht als Gefährdung der Glaubwürdigkeit der EZB kritisiert. Besonders Draghis Aussage, bezüglich der Details müsse man sich an die nationalen Zentralbanken wenden, lässt sich interpretieren als „So genau wissen wir das bei der EZB auch nicht, was da geschieht“, ist sehr zweifelhaft. In Zeiten, wo gewöhnliche wie ungewöhnliche geldpolitische Maßnahmen praktisch unwirksam sind, und der Einfluss der Zentralbank fast ausschließlich auf ihre Fähigkeit zu glaubwürdiger Kommunikation und Erwartungsbeeinflussung beschränkt ist, sind solche Intransparenzen kontraproduktiv.

Was aber besonders störend ist: Reflexartig kommen die Standardargumente besorgter Ökonomen auf den Tisch, hier werde „Geld gedruckt“ und damit „verdeckte unerlaubte Staatsfinanzierung betrieben“ (z.B. in der FAZ vom 22.12.2015). Dazu kurz und knapp Folgendes:

Kauft eine Zentralbank von einer Geschäftsbank ein Staatspapier, so bezahlt sie mit „Reserven“. Es entsteht dabei gar kein Zahlungsmittel, welches der Staat oder ein anderer Akteur im Wirtschaftskreislauf irgendwie verwenden könnte. Geld entsteht dann (aber eben nicht durch „Drucken“ seitens der EZB!), wenn die Bank diese Staatspapiere von einer Nicht-Bank kauft und den Betrag als Sichtguthaben gutschreibt – ähnlich wie bei der Kreditgeldschöpfung. Für den Staat gibt es dann und nur dann eine Finanzierungswirkung, wenn die Bank das Papier auf dem Primärmarkt kauft, also direkt dem Staat den Kaufpreis als Sichtguthaben verbucht.

Nun, genau das ist empirisch zunächst nachzuprüfen, bevor man von „monetärer Staatsfinanzierung“ schwadroniert: Hat es im Rahmen von Anfa signifikante Käufe von Staatspapieren durch Banken auf dem Primärmarkt gegeben, die dann anschließend an die nationale Zentralbank (oder auch an die EZB) weiterverkauft wurden? Wurden z.B. Papiere gekauft, die noch vor Anfa und dem ganzen QE-Programm der EZB begeben wurden, so ist der Vorwurf nicht stichhaltig. Und wenn aktuell emittierte Papiere auf dem Sekundärmarkt gekauft wurden, dann müsste man (fast verschwörungstheorieartig) davon ausgehen, dass Zentralbank, Bank, Staat sowie ein weiterer Strohmann auf dem Sekundärmarkt kollusiv handeln. Hier würde allerdings eine transparente Politik der EZB und der nationalen Zentralbanken helfen, diese rein empirische Frage zu beantworten. Bis dahin sollte man nicht die verbale Demontage der Glaubwürdigkeit der EZB durch Mutmaßungen vorantreiben, die man empirisch nicht belegen kann. Stattdessen sei empfohlen, sich mal ganz entspannt die Zeitreihen von M0, M3 und Staatsverschuldungsquoten seit Auflage des QE-Programms der EZB (wozu auch Anfa zuzurechnen ist) zu betrachten.

Ein Globalisierungsparadoxon – weniger Effizienz durch mehr Freihandel?

Um eines vorab zu klären: Ich habe nichts gegen wettbewerbliche Märkte und freien Handel, ganz im Gegenteil. Mir geht es um die individuelle Freiheit von Menschen, die in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen leben, weshalb Freiheit immer mit Verantwortung zu tun hat. Freie Märkte und Handel werden angetrieben durch individuelle Entscheidungen im Rahmen gesellschaftliche gestalteter Spielregeln. Ökonomen gehen von der Vorstellung aus, dass Individuen die Konsequenzen möglicher Handlungsalternativen entsprechend ihrer Präferenzen bewerten, (meistens) die für sie bestmögliche Alternative wählen, und dann aber auch Verantwortung für die Konsequenzen tragen. Wie man bereits im ersten Semester eines Ökonomiestudiums lernt, treten aber auf einem freien Markt dann Probleme auf, wenn eine Marktseite die Konsequenzen ihrer Handlungsalternativen nicht richtig einschätzen kann, weil eine Informationsasymmetrie vorliegt. In solchen Fällen kann der Markt in aller Regel nicht effizient funktionieren. Standardlehrbuchbeispiel ist der Gebrauchtwagenmarkt, bei dem der Käufer über die Qualität des Gebrauchtwagens schlechter informiert ist als der Verkäufer und daher seine Zahlungsbereitschaft evtl. unterhalb des Preises liegt, den der Verkäufer angesichts der ihm bekannten Qualität angemessen erscheint. Ein wechselseitig vorteilhafter Tausch kommt nicht zustande, was im Klartext heißt: Ineffizienz. Ein anderes Beispiel ist eine Bank, die über die Bonität des Kreditnehmers schlechter informiert ist als dieser selbst, was zu einer Kalkulation eines Risikoaufschlags auf den Zins führen kann, den ein risikoarmer Kreditnehmer nicht mehr zu tragen bereit ist.

Was hat das nun mit der Globalisierung zu tun? Kürzlich hat Mexiko, welches ein Freihandelsabkommen mit den USA hat (TPP), erfolgreich dagegen geklagt, dass in den USA im Handel erhältlicher Thunfisch mit einem Siegel versehen sein muss, welches nachweisen soll, dass dieser für Delphine schonend gefangen wurde. Mexiko sah darin ein nicht-tarifäres Handelshemmnis, welches dem Freihandelsabkommen widerspricht, und hat damit Recht bekommen (SZ.de vom 30.11.15). Käufer von Thunfisch können nicht wissen, wie der Thunfisch gefangen wurde, der Preis enthält alle möglichen Informationen, aber nicht die, ob dabei Delphine als Beifang ums Leben kommen oder nicht. Mit anderen Worten: beim Thunfischkauf kann man eben nicht alle Konsequenzen dieser Handlung einschätzen, es liegt Informationsasymmetrie vor. Zur Lösung oder Linderung solcher Probleme gibt es verschiedene Mechanismen, dem Marktmechanismus auf die Sprünge zu helfen. Im Fall des Gebrauchtwagens ist dies z.B. das TÜV-Siegel, welches zumindest gewisse Mindestqualitätsstandards garantiert, im Fall der Kreditnehmer-Bonität gibt es Dienste wie SCHUFA oder Ratingagenturen. Und im Fall des Thunfischs eben ein „dolphin safe“-Siegel. Daneben gibt es eine ganze Palette von Öko- und Fair-Trade-Siegeln, die über diese und jene Produktions- und Handelsbedingungen Auskunft geben. All das soll zumindest ein wenig helfen, Informationsasymmetrien abzubauen, die Käufer über die globalen Konsequenzen ihrer Handlungen aufzuklären und somit Entscheidungen zu treffen, die ihren Präferenzen am nächsten kommen. Erst dann spiegeln Preise einigermaßen adäquat auch die Zahlungsbereitschaft wider. All diese Maßnahmen sind nicht gegen den Markt und den freien Handel gerichtet, sondern für diese! Sie sollen dem Markt helfen zu einer effizienten Allokation knapper Ressourcen zu gelangen. Es ist ein tiefgreifendes Missverständnis, dass solche Regulierungen als „nicht-ökonomische“, also z.B. verbraucherschutz- oder umweltorientierte Maßnahmen betrachtet werden, um den freien Markt einzudämmen. Das Gegenteil ist der Fall: Umwelt- und Verbraucherschutz will den Präferenzen der Individuen dort Geltung verschaffen, wo das Preissystem dieser Aufgabe unzureichend nachkommt, und soll somit die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft stärken!

Ein anderes Beispiel: In den USA müssen Restaurants neuerdings den Salzgehalt der angebotenen Speisen angeben. Der entsprechende Gaststättenverband hat dagegen nun Klage eingereicht (spiegel.de vom 4.12.15). Solche Vorschriften werden als unangemessener Eingriff in individuelle Freiheitsrechte, als unverhältnismäßige staatliche Bevormundung aufgefasst. Nun führt aber eine Ernährungsweise, in der übermäßig Salz konsumiert wird, zu Gesundheitsschäden. Die langfristigen Konsequenzen für die Gesundheit können vom individuellen Entscheider nicht eingeschätzt werden, wenn ihm Informationen über Inhaltsstoffe in der Nahrung fehlen. Wenn einem dieser spezielle Aspekt wichtig genug, also als handlungsrelevant erscheint, kann man über eine kollektive Lösung dieser Informationsasymmetrie nachdenken, die dann zu einer solchen Regulierung führt. In anderen Gesellschaften mit anderen Ernährungsgewohnheiten mag man da zu anderen Abwägungen kommen. Die Konsequenzen der Handlungen zu kennen und verantworten zu können, ist aber essentiell für individuelle Freiheit. Die Begründung, dass der Abbau von Informationsasymmetrien eine Beschränkungen individueller Freiheit darstelle, ist somit aberwitzig. Indem zig Millionen Kunden eine informierte, reflektierte und verantwortbare Entscheidung unmöglich gemacht wird, werden diese ebenfalls in der Substanz ihrer Freiheitsrechte eingeschränkt. Sie sollen als stumpf Konsumierende „funktionieren“, nicht aber ihre Handlungsfolgen verantworten wollen. Welcher Freiheitsbegriff hier in der angeblich so liberalen Wirtschaftskonzeption zugrunde liegt, möchte man am liebsten gar nicht wissen.

Es gibt zahllose weitere Beispiele für unbekannte Handlungskonsequenzen. Der Witz ist, dass in dem Fall, in dem Individuen ausschließlich egoistisch denken, ein großer Teil dieser Handlungskonsequenzen irrelevant sind: ob bei der Herstellung des Produktes Kinder- oder Sklavenarbeit eingesetzt, oder Flüsse in fernen Ländern verschmutzt wurden usw. wird dann nicht als entscheidungsrelevant angesehen und diesbezügliche Informationsasymmetrie stellt kein ökonomisches Problem dar. Je mehr Menschen aber sozial und ökologisch interessiert sind und – als anspruchsvolle Voraussetzung individueller Freiheit – Verantwortung übernehmen möchten, desto drängender ist das Problem der Informationsasymmetrie. Ohne deren teilweise Überwindung lebt und konsumiert man fast zwangsläufig in „struktureller Verantwortungslosigkeit“. Ich würde in diesem Konsummodell eine Bedrohung individueller Freiheit sehen.

Und so erschließt sich auch die Bedeutung der Überschrift: Mit fortschreitender Globalisierung werden die Produktionsketten immer weiter zerlegt und auf viele Produktionsstandorte verteilt. Keine Instanz kann mehr über das komplette Wissen verfügen, wann, wo und vor allem wie all die Rohstoffe und Vorprodukte hergestellt, transportiert und letztlich zum Endprodukt verarbeitet wurden. Wenn all diese Informationen für den Käufer des Endproduktes irrelevant sind, so ist es auch überhaupt nicht nötig, all dies zu wissen, denn alle relevanten Informationen sind in all den Preisen für Rohstoffe, Vorprodukte, Transport und schließlich für das Endprodukt enthalten. Auf diesen Vorstellungen beruhen im Wesentlichen die (neoklassischen) Theorien der Ökonomen. Daraus kann man dann die Schlussfolgerung ziehen, dass eine fortschreitende Globalisierung zu einer verbesserten Nutzung vorhandener Ressourcen und Technologien führt, und letztlich den Wohlstand aller erhöht. Paradoxerweise erhöhen sich dadurch aber auch die Informationsasymmetrien enorm. Ein wachsender Aufwand ist nötig um sicherzustellen, dass z.B. keine Kinderarbeit eingesetzt wurde, bestimmte Qualitäts- und Lebensmittelstandards eingehalten wurden (auch in Vorprodukten fernab der Endproduktfertigung), die Umwelt nicht allzu belastet, und keine Despoten unterstützt wurden. Dieser Aufwand ist für Hersteller und Händler lästig, wie an dem Thunfisch- und dem Salzbeispiel zu sehen ist, aber für Käufer, die eine verantwortbare individuelle Entscheidung gemäß ihrer Präferenzen treffen möchten, ist der Aufwand noch zu gering. Immer noch ist z.B. der unmittelbare Zusammenhang zwischen eigenem Einkaufsverhalten und der Rodung von Regenwald zwecks Anpflanzung von Plantagen zur Palmölgewinnung unsichtbar, obwohl das Palmöl in den Produkten steckt, die man soeben in seinen Einkaufswagen gelegt hat. Als Ökonom muss sich da die Frage aufdrängen, ob die Effizienzverluste aufgrund globalisierungsbedingt steigender Informationsasymmetrien nicht die Effizienzgewinne aufgrund der Nutzung komparativer Kostenvorteile eventuell schon übersteigt.

Eigentlich müsste sich diese Frage einem liberalen marktwirtschafts-affinen Ökonomen noch viel drängender stellen als einem regulierungsorientierten „linken“ Ökonomen. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr der Markt und die individuelle Freiheit an Voraussetzungen geknüpft sind, an Spielregeln, die kollektiv gesetzt werden müssen. Freiheit im Sinne von Autonomie wird nicht nur durch die Anmaßungen des Kollektivs bedroht, bevormundend in individuelle Entscheidungen einzugreifen, sondern auch durch die Anmaßungen eines Marktes, der einem die Voraussetzungen für verantwortbares Handeln vorenthält.

„Läuft nicht!“ – Eindrücke von der Demo am 3.10.15 in Jena

Wieder einmal haben rechtsextreme Gruppen einen Aufmarsch in Jena angemeldet, und wieder einmal hat ein Aktionsbündnis eine Gegendemonstration organisiert, die die Marschroute der Rechtsextremen blockieren sollte. Eine sehr gute Sache, für eine offene, demokratische, tolerante Gesellschaft einzutreten, die sich auch Flüchtlingen gegenüber offen und freundlich zeigt. Stadtrat und Universitätsleitung unterstützten die Gegendemonstrationen.

Und so stand ich einer Gruppe, die mit Transparent und VW-Bus den Zugang von der Grietgasse zum Holzmarkt blockierten. Begrenzt wurde die Blockade von einer engen Reihe Polizisten, die ein Vordringen auf die Grietgasse – einem Teil der Marschroute der Rechtsextremen – verhinderten. Der Paradiesbahnhof, auf dem ein Großteil der Nazis und Sympathisanten ankommen sollten, war ebenfalls mit Gegendemonstranten besetzt, wir hatten sie von unserer Position aus im Blick. Wie es der Zufall wollte, stand ich plötzlich ganz vorne und hielt das breite Transparent, das für eine offene Gesellschaft und gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus warb und mit Art. 1 GG in bunten Lettern versehen war. Etwas seltsam die Stimmung, Auge in Auge mit der Kette hochgerüsteter Polizisten zu stehen, die hier ihre Aufgabe der Durchsetzung des Rechts und der öffentlichen Sicherheit wahrnehmen, und also ein notwendiger Bestandteil eben jener Gesellschaftsordnung sind, für die ich mit meinem Demonstrationsanliegen eintrete. Gleichwohl ist die Stimmung und Meinung einiger Gegendemonstranten, dass die Polizei hier vorrangig die Nazis schütze und ihnen den Weg frei machen wollen, mithin also Ausdruck eines „repressiven Systems“ seien. Ich hingegen sehe Polizisten als „natürlichen Verbündeten“ im Kampf für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und möchte sie ohne Provokationen ihren Job machen lassen. Unter der Schutzweste und dem Helm mit Visier könnte mein Nachbar stehen, der politisch ähnlich denkt wie ich.

So unangenehm die Wahrheit auch sein mag: auch Nazis haben Demonstrationsrecht. Sie haben die Demo angemeldet und so entsteht eine Rivalität nicht nur in der geäußerten Meinung, sondern auch physisch um den Platz auf der Straße. Das Demonstrationsrecht kann in einem liberalen Rechtsstaat nicht nach Gesinnung in Anspruch genommen oder verwehrt werden. Staatliche Organe, von der Genehmigungsbehörde bis zur Polizei, sollen nach dem Gesetz und nicht nach Gutdünken, politischer Korrektheit oder Gesinnung entscheiden. Das wäre ansonsten ein erheblicher Schritt in Richtung eines illiberalen und nach Willkür handelnden Staates, den ich gerade nicht will. Wenn man in diesen extremen Gruppierungen eine Gefahr für den Staat sieht, muss man eben ein kompliziertes, jedoch nach rechtsstaatlichen Prinzipien organisiertes transparentes Verbotsverfahren anstrengen, was aber nur die ultima ratio sein sollte. Ansonsten muss ein Rechtsstaat darauf setzen, dass seine Bürger für den Erhalt ihrer Werte und Rechte gegen extreme Kräfte auf die Straße gehen.

Natürlich geschehen Fehler, wo auch immer Menschen am Werk sind, vor allem wenn großer Stress vorhanden ist. So kann man sicherlich den Einsatz von Hunden, Reizgas und Wasserwerfern bei der Räumung der Blockaden am Paradiesbahnhof als unverhältnismäßig kritisieren. Aber es ändert nichts an dem Prinzip, dass staatliche Gewalt nach Regeln ausgeübt wird und eben nicht willkürlich. Daher sehen hier viele Flüchtlinge in Deutschland geradezu paradiesische Zustände, da Polizisten im Alltag nicht einfach willkürlich Leute zusammenschlagen, um ihre Macht zu demonstrieren, willkürlich inhaftieren, oder gegen Bezahlung wegzuschauen.

Die Musik aus den Lautsprechern des VW-Busses wechselt und wirkt auf mich ziemlich aggressiv und aufpeitschend. Ich frage mich, ob das wirklich nötig und zielführend ist, wenn man Polizisten und später dann auch Nazis gegenübersteht. Wollen wir denn nicht gerade ein friedliches, freundliches, weltoffenes Deutschland verteidigen? Ich stelle mir vor – was natürlich utopisch ist – den dumpfen menschenfeindlichen Parolen grölenden Nazis über Lautsprecher Bachs Matthäus-Passion gegenüber zu stellen. Oder den Schlusssatz von Beethoven 9. Sinfonie, in der der Chor „Alle Menschen werden Brüder…“ singt – irgendetwas, das Positives, Menschliches ausdrückt. Stattdessen legen die Organisatoren nun „Macht kaputt was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben auf und andere aggressive, angeblich system- und kapitalismuskritische Songs, in denen durchaus auch mal das Wort „Bullenschweine“ vorkommt. Ich halte das Plakat mit Art. 1 GG fest und schaue bedauernd in die Gesichter der Polizisten. Das hier ist nicht meine Musik und nicht meine Botschaft, die davon ausgeht, denke ich. Es ist mir irgendwie peinlich.

Neben mir ein nettes Mädchen, das ein Plakat hoch hält, auf dem etwas von „Nazischweinen“ steht. Ich schaue auf die Banderole, die ich mit festhalte, auf der Art. 1 GG abgedruckt ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das schließt auch die Würde derjenigen an, die rechtsextrem denken, bei Pegida mitmarschieren und unerträgliche Parolen grölen. Das alles ist abstoßend und verwerflich, aber ich kann und darf ihnen nicht die Würde absprechen. Die widerliche Gesinnung berechtigt mich nicht zu Beleidigungen. Der Nazi ist von Art. 1 GG nicht ausgenommen und vor dem Gesetz mir völlig gleichgestellt, mit Anspruch auf Anhörung und Verteidigung. Auch das unterscheidet uns vom Totalitarismus. Haben nicht vor allem die Nationalsozialisten die Methode „kultiviert“, Juden, Homosexuelle, Andersdenkende zu ent-individualisieren, sie nur noch als Masse zu betrachten und dann schließlich mit Ungeziefer, Parasiten, Ratten zu vergleichen, also auf eine niedrigere Stufe als den Menschen zu stellen? Und dann soll es eine gute Idee sein, Rechtsextreme und Pegida-Anhänger als „Nazischweine“ zu bezeichnen (bei so manchem in einem Atemzug mit „Bullenschweinen“)? Vor einigen Monaten, als es schon einmal einen Naziaufmarsch und entsprechende Gegendemonstrationen gab, wurde für letztere mit dem Slogan „Nazis jagen!“ geworben. Sicherlich eine Rhetorik aus dem Schwarzen Block der Linksautonomen. Wieso, um alles in der Welt, glaubt man, die Werte von Frieden, Freiheit, Demokratie und Toleranz mit Begrifflichkeiten und einem Aggressionspotenzial verteidigen zu können, welches dem Repertoire eben jener Nazis entlehnt ist, die man damit bekämpfen will? Als die Rechtsextremen dann die Grietgasse entlangziehen, wird natürlich „Nazischweine“ gebrüllt und der Mittelfinger hochgehalten (womit man – vielleicht erwünschter Nebeneffekt? – gleichzeitig auch den zwischen uns stehenden Polizisten den Stinkefinger zeigt). Das ist also der angemessene Gestus, mit dem wir ihnen unsere Werte entgegenstellen?

Schließlich wurden an dem Tag noch ein Polizeiauto demoliert und ein au der Verankerung gerissenes Straßenverkehrsschild auf eine Gruppe Polizisten geschleudert (es kommt selten vor, dass ich so etwas mit eigenen Augen sehe und nicht nur im Fernsehen). Zum Glück rufen besonnene Demonstranten „Keine Gewalt!“ und man distanziert sich von den vermummten „Autonomen“. Man kann sich allerdings fragen, weshalb solche „Autonome“, die nun nicht gerade im Sinn haben, den real existierenden demokratischen Rechtsstaat und Toleranz zu verteidigen, sich bemüßigt fühlt, an einer Anti-Nazi-Demo teilzunehmen, bei der unsere Werte denen der rechtsextremen Ideologie entgegengehalten werden. Ob da nicht auch die Rhetorik und Unreflektiertheit so mancher „Läuft Nicht!“-DemonstrantInnen dazu beiträgt? Am Ende des Tages hatte ich nicht das ungetrübte Gefühl, für meine Werte und meine Vorstellung von Gesellschaft gegen rechtsextreme Ideologie eingetreten zu sein, es war mir auch ein wenig peinlich.

Einen erfreulichen Akzent gab es dann doch noch: Das Theaterhaus spielte in einer Schleife den Soundtrack aus Charlie Chaplins „Der große Diktator“, wo Führer Hinkel seine große Rede hält – ein glänzender ironischer Einfall! Schade nur, dass das nicht aus Lautsprechern direkt am Versammlungsort der Nazis deren Reden übertönte.

Staatspleite mit Euro oder Grexit?

Das Verhandlungsgebaren der Syriza-Regierung wurde in der Presse oft als skandalös, und Tsipras‘ Idee das Volk zur Annahme des für ihn als unannehmbar gehaltenen Vorschlags der Gläubiger zu befragen als hasardeurhaft und schiere Katastrophe dargestellt. Dass in einer Prinzipal-Agenten-Beziehung der Agent (Regierung) sich bei schweren Zweifeln bezüglich seines Verhandlungsmandates gegenüber Gläubigern bei seinen Prinzipalen (dem Souverän, Volk) rückversichert und somit ein Scheitern von Verhandlungen demokratisch legitimieren will, das ist natürlich schwer verwerflich und vollkommen unverständlich… (auch wenn populistisches Kalkül dabei sein mag). Man hätte lieber ein „kooperatives“ Einlenken gesehen, welches dazu geführt hätte, dass die Gläubiger-Institutionen weiter Hilfsgelder an den vollkommen überschuldeten Staat fließen lassen, damit dieser weiterhin die Schulden an eben diese Gläubiger-Institutionen bedienen kann. Solange man noch mit seriös klingenden Floskeln diese Ponzi-Finanzierung weiter betreibt in der Hoffnung, dass Griechenland irgendwann schneller „spart“ als die Wirtschaftsleistung und damit die Steuerbemessungsgrundlage sinkt, so dass man dann stolz sagen kann, dass Austerität eben doch zu positiven Primärüberschüssen führt, so lange kann man sich selbst vor der Erkenntnis bewahren, dass die permanenten Hilfspakete bereits Ausdruck einer Staatsinsolvenz sind und jene nur verschleppen. Letzteres mag neoliberal klingen, ist aber die Analyse Varoufakis‘, der daraus den Schluss zieht, dass nichts um einen Schuldenschnitt herum führt. Nun also sind die Verhandlungen gescheitert und man stellt sich auf eine Staatspleite ein. Die erste Kreditrückzahlung an den IWF ist bereits nicht erfolgt. [Update 14.7.15: Es sieht so aus, als hätte man sich trotz des Referendums auf eine Fortsetzung des Ponzi-Spiels geeinigt.]

Es ist jetzt leicht, die Schuld der Syriza-Regierung zu geben. Es klingt ja auch für die Allgemeinheit wenig logisch, weshalb der freundliche Geber am Scheitern des renitenten Nehmers „Schuld“ sein solle. Wie man viel Geld sehenden Auges an jemand völlig Überschuldeten geben kann und dann etliche Jahre lang mehr oder weniger vergeblich darauf wartet, dass dieser Reformen durchführt, braucht jetzt keinen mehr zu interessieren – denn jetzt hat man ja eine unliebsame bockige Regierung, die erst kurz im Amt ist, und die nun das Versagen „der Griechen“ repräsentiert. Die früheren Regierungen seien ja zumindest „kooperationswillig“ gewesen, heißt es oft. Nun ja, sie haben sich sehenden Auges weiter verschuldet um dann halbherzig die abverlangten Sparmaßnahmen durchzuführen, jedoch kaum nennenswerte Strukturreformen, die für eine langfristige Gesundung der Wirtschaft jedoch entscheidend gewesen wären. Dazu gehört vor allem die Bekämpfung der Korruption und eine funktionsfähige Verwaltung, jedoch: Fehlanzeige. Durch Sparen allein reformiert man Staat und Wirtschaft nicht.Bei einem Schuldenschnitt müssten zumindest auch die Geberländer für ihre totale Fehleinschätzung  büßen. Es rächt sich, dass man bei einem Staat, der durch jahrzehntelangen Nepotismus, Korruption, Klientelpolitik, ineffiziente Verwaltung und schwache Institutionen gekennzeichnet ist, so behandelt, als ginge es darum, lediglich „den Haushalt wieder in Ordnung zu bringen“.

Nun wird bereits gerechnet, dass man es durchaus verkraften könne, Schulden zum großen Teil abschreiben zu müssen. Das hätte man auch erheblich billiger haben können, hätte man Varoufakis‘ Beharren auf weiteren Schuldenschnitten Beachtung geschenkt (hätte dieser einen etwas konzilianteren Tonfall angeschlagen). Dann hätte man über Ausmaß und Bedingungen verhandeln können. Etwa in der Art, dass man sich nicht auf die ungeliebten Sparmaßnahmen konzentriert, die ohnehin mit einem absurd-lächerlichen Aufwand verhandelt werden: über 1% mehr hier und 2% weniger dort und steuerliche Detailregelungen, deren fiskalische Wirkungen im absoluten Dunkeln liegt, und die zu „geplanten“ Primärüberschüssen führen sollen, die ebenfalls mit Nachkommastellen verhandelt werden. In einer Depression taumelnden Wirtschaft mit schlecht funktionierender Bürokratie sind solche „Verhandlungen“ eine groteske Anmaßung von Wissen und Prognosefähigkeit. Kein Wunder, dass der Eindruck von Einmischung oder Diktat entsteht. Stattdessen sollten (fast) allein Strukturreformen auf der Verhandlungsagenda stehen, die etwas anderes sind als Austeritätspolitik, und für die breite Mehrheiten bei der griechischen Regierung, aber auch in der Bevölkerung vorhanden sind! Mit einem Zug-um-Zug-Geschäft – ein bestimmter Milestone an Reformen (z.B. Aufbau eines Katasters, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, Aufbau einer effektiven Steuerverwaltung, Eintreibung von Steuerschulden, aber auch: Angleichung des Renteneintrittsalters an EU-Niveau) gegen den Erlass oder die langfristige Stundung von Krediten – hätte man das Reforminteresse der Gläubiger mit dem Interesse an Schuldenschnitten und Reduktion der Sparmaßnahmen verbinden können. Nun aber gibt es einen de-facto Schuldenschnitt durch Staatsbankrott – ohne Auflagen und Kontrolle.

In der FAZ vom 30.6.15 warnt Philip Plickert unter Berufung auf die „Mehrheit der Ökonomen“, dass eine Staatspleite bei Verbleib im Euro zwar möglich, aber nicht empfehlenswert sei. Das Zitat von Clemens Fuest, „eine Insolvenz im Euro wäre im Grunde ein neuer Schuldenerlass, aber ohne Auflagen“, soll dies belegen. Nun ändert aber ein Austritt aus dem Euro auch nichts an der in Euro notierten Schuldenlast. Die Einführung einer zum Euro kräftig abwertenden Drachme würde zwar den Exportsektor wettbewerbsfähiger machen, vielleicht sogar nach geraumer Zeit zu Nettoexportüberschüssen führen, aber die Schuldenlast ist derartig gewaltig (und würde durch die Aufwertung des Euros im Vergleich zur Drachme real noch viel gewaltiger!), so dass nicht im Traum daran zu denken ist, dass selbst eine explosionsartig boomende griechische Exportwirtschaft zu derartig sprudelnden Steuereinnahmen führt, dass der Staat dann seine Schulden zurückzahlen könnte. Es ist auch folgende Punkte bei einem Grexit zu bedenken:

  • Die TARGET2-Salden, die bislang ein rein buchungstechnischer Posten innerhalb des ESZB sind, und weder ökonomisch noch rechtlich ein „Kredit“ darstellen, wie es einige immer wieder behaupten, werden im Fall des Grexits dann aber doch eine Forderung des ESZB an die griechische Zentralbank, die man wohl teilweise wird abschreiben müssen. Im Fall des Verbleibs im Euro würden die Salden bei einer griechischen Erholung und entsprechenden Kapitalrückflüssen reduziert werden. Im Prinzip wäre auch ein Grexit mit Verbleib im TARGET2-System denkbar.
  • Bei einem Grexit entstehen zusätzliche Verwerfungen, weil die EZB den griechischen Bankensektor nicht mehr stützen würde und dürfte. Die griechische Zentralbank, die dann selbst in Euro überschuldet wäre (siehe oben) müsste dann den gesamten Bankensektor rekapitalisieren.
  • Werden sämtliche Zahlungsverpflichtungen auf Drachmen umgestellt, würde sich zunächst am Budgetdefizit des Staates nichts ändern – es würde lediglich in Drachmen ausgewiesen. Er könnte sich allerdings leichter vom teil-verstaatlichten und dann von den Regeln des ESZB „befreiten“ Bankensektors neues Geld leihen um seine Staatsbediensteten zu bezahlen. Die Möglichkeit, das benötigte Geld nun selbst „drucken“ zu können, verlängert die Misere aber immer weiter. Kein Ordnungsökonom kann das wollen.
  • Außerdem besteht dann von Seiten der Euroländer noch weniger Verhandlungs- und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Reformen. Es ist nicht zu erkennen, weshalb nötige Strukturreformen ohne den Euro leichter sein sollten als mit dem Druck der Euro-Gruppe.
  • Und schließlich: Gewänne die griechische Exportwirtschaft allein durch die Abwertung der Drachme wieder an Wettbewerbsfähigkeit und trügen zur Besserung makroökonomischer Daten bei, so mögen sich manche Ökonomen bestätigt fühlen, aber es könnte auch den Druck zur Produktivitätsverbesserungen sowie zu institutionellen und strukturellen Reformen reduzieren. Wenn schon Ökonomen diese Gefahr des nachlassenden Drucks schon aufgrund der QE-Maßnahmen der EZB sehen, weil griechische Staatstitel sich vielleicht um einen halben Prozentpunkt verbilligen, so muss dieses Argument erst recht gelten, wenn der Druck aufgrund einer drastisch abgewerteten Drachme den Staatshaushalt besser aussehen lässt – auch ohne Strukturreformen.
  • Das Signal an internationale Investoren wäre, dass der Euroraum fragil ist.

Ich kann daher nicht erkennen, was aus Sicht der Gläubiger vorteilhaft sein soll, dass eine Staatspleite zwingend mit einem Grexit verbunden sein sollte. Als Steuerzahler bin ich  daran interessiert, so viel wie möglich von dem verliehenen Geld wieder zu sehen. Und dies geht nur, wenn der Schuldner wieder auf die Beine kommt. Hilfreich wären da allerdings auch entsprechende glaubwürdige Signale aus Griechenland, Reformen jenseits der Austerität endlich auf den Weg zu bringen.

Plagiate und ihre Konsequenzen – Augenmaß ist gefragt

Zum Beitrag von Theodor Ebert in der F.A.Z. vom 19.04.2015, einer recht positiven Besprechung der Publikation „False Feathers“ von D. Weber-Wulff (2014), welche für ein hartes Vorgehen von Universitäten, einschließlich ihrer Bibliotheken, gegen Plagiate plädiert.

In der öffentlichen Debatte wird Plagiat meist mit „Abschreiben“ oder „Abkupfern“ identifiziert, bei dem ein Autor das „geistige Eigentum“ eines anderen „stiehlt“ und somit die wissenschaftliche Öffentlichkeit und Prüfungsgremien betrügt. Es ist ohne Frage verwerflich, wenn jemand geistige Leistungen eines anderen als seine eigenen ausgibt und sich dadurch Vorteile verschafft, und dies muss auch ernste Konsequenzen für den Betreffenden haben. Ein „Copy and Paste“ von Textstellen, die mit ein paar ein- und überleitenden Sätzen versehen, zu einem „eigenen“ Text zusammengesetzt werden, und den Leser über die entnommenen Gedanken und Formulierungen im Unklaren zu lassen, ist ein Vergehen. Da besteht breiter Konsens, dem auch ich zustimme. Die Praxis der Plagiatsjägerei ist aber viel komplizierter. Das plakative Sprechen von „Betrug“ und „Diebstahl geistigen Eigentums“ übersieht dabei Probleme, dass die Berücksichtigung von Fachkontext und Rezeptionspraxis sich nicht so einfach auf mehr oder wenige algorithmische Regeln semantischer Textanalyse herunterbrechen lassen.

Es wird komplizierter, wenn man in die Details geht: simples Abschreiben oder auch Formulierungen sehr nahe am Originaltext, jedoch ohne Quellenangabe, kommt zwar vor, aber eher selten. Das wäre ein klares Plagiat. Schwieriger wird es, wenn ähnliche Formulierungen verwendet werden, der Originaltext durchaus z.B. mit „(vgl. Ginkelhuber (2001), S.145)“ zitiert wird, jedoch nicht bei jedem Satz oder Absatz. In prominenten Plagiatsfälle wie z.B. bei Annette Schavan, wurden Plagiats-Beispiele in der Öffentlichkeit vorgeführt, bei denen mir im Prinzip klar war, dass Frau Schavan hier die Position eines bestimmten Autors oder dessen Rezeption in der Literatur referiert, die relevanten Quellen auch nennt, aber eben nicht bei jeder einzelnen Formulierung oder kurzem Absatz erneut auf die Quellen verweist, an deren Formulierungen sie (allzu) nahe dran liegt. Das ist handwerklich nicht sauber, aber man kommt als Leser kaum auf die Idee, dass Frau Schavan hier betrügerisch fremde Ideen als ihre eigenen verkaufen will – zumindest dann nicht, wenn man den Text als fachlich vorgebildeter Rezipient liest (und das ist bei mir noch nicht einmal der Fall, ich habe lediglich Erfahrung in der Rezeption sozialwissenschaftlicher Texte, bin aber kein Experte in Sozialphilosophie).

Und damit komme ich zu dem Punkt, dass die Plagiatsjägerei oft nichts mit dem Rezeptionskontext des Werkes zu tun hat, der jedoch bei der Beurteilung, ob es sich um eigenständige Erkenntnisbeiträge im Diskurs handelt, sehr wichtig ist. Was ist mit Erkenntnissen, die „Allgemeingut“ geworden sind? Muss man bei der Anwendung des Satzes von Pythagoras die altgriechische Originalquelle (möglicherweise hat Pythagoras diese Erkenntnis selbst aus babylonischen Quellen plagiiert, für seinen Beweis gibt es keine Quelle von ihm selbst) oder zumindest eine zugängliche Sekundärquelle auftun („Pythagoras, zit. nach Ginkelhuber (2001), S.145“)? Das Beispiel mag lächerlich sein, aber in vielen Fachdisziplinen wird Standardwissen sehr oft selbstverständlich benutzt, und es wird z.B. in der VWL als legitim erachtet, das IS-LM-Modell zu verwenden, ohne stets auf die Arbeiten von Hicks ud Hansen aus den 1950er Jahren zu veweisen, sobald die einschlägige Grafik erscheint, oder die Effizienzmarkt-Hypothese, ohne zum x-ten Mal Fama, Black und Scholes zu zitieren. Auch bei Formulierungen wie „In der Neoklassik ging man von individueller Nutzenmaximierung aus.“ ohne jede Textreferenz wird etwas behauptet, was zwar nicht im Einzelnen belegt wird (da es als Standard-Fachwissen vorausgesetzt wird), aber es beansprucht aus Sicht des halbwegs fachkundigen Lesers auch keine geistige Urheberschaft. Jeder weiß das, aber dummerweise wurde es bereits von Ginkelhuber (1951) schon einmal genau so formuliert, und somit ist es ein Plagiat. Hier wird es schwierig, wenn Plagiatsjäger ohne fachliche Expertise Textanalyse betreiben – und davon gibt es viele. Der fachkundige Leser wird häufig keine unangemessene Übernahme fremder Ideen oder ein Vortäuschen geistiger Eigenleistungen bemerken, weil ihm aus dem Kontext völlig klar ist, welche Textteile sich auf Bekanntes beziehen, und worin die Neuerung liegt, welchen Beitrag der Autor eigentlich zum Diskurs liefern will. Der rein formal-textanalytisch arbeitende Plagiatsjäger (bzw. Plagiats-Software) wird dagegen schon Alarm schlagen.

Noch schwieriger wird die Frage bei den Konsequenzen von Plagiaten, sprich bei der Aberkennung von Examensleistungen und Doktortiteln. Bei Examensleistungen sehen die meisten, wenn nicht alle Prüfungsordnungen Sanktionen vor, bei nicht entdeckten Plagiaten gibt es eine Verjährungsfrist. Bei Dissertationen und wissenschaftlichen Publikationen wird dies von vielen Plagiatsjägern anders beurteilt: Da Dissertationen und andere Publikationen einen Beitrag zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt leisten (sollen), und die Ergebnisse von anderen zitiert werden, sollten Plagiate nicht nur ggf. den Entzug des Titels nach sich ziehen, sondern auch die Dissertationen aus Bibliotheken usw. entfernt werden, so Frau Weber-Wulff (zit. nach Ebert, FAZ vom 19.4.15). Nun ist Letzteres bei plagiierenden Publikationen in Fachzeitschriften nicht ohne weiteres möglich. Man müsste Plagiate auf eine Art Index setzen und bevor ein Wissenschaftler irgendeine Quelle liest, geschweige denn diese zitiert, müsste ein Abgleich mit diesem Index erfolgen. Genau genommen müsste er auch überprüfen, ob die Aussage, die er zitieren möchte, überhaupt je Gegenstand des Plagiatsverfahrens war. Der dramatische Anstieg von Transaktionskosten würde Forschung drastisch behindern.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wenn z.B. eine Dissertation erhebliche Plagiatsbefunde aufweist, bedeutet das noch lange nicht, dass nicht trotzdem auch ein erheblicher eigenständiger Erkenntnisfortschritt an anderer Stelle des Werkes geleistet wurde. Wer z.B. den Literaturstand schlampig referiert hat, d.h. textlich zu nah am Original war und oft schlecht zitiert hat, die Plagiatserkennungssoftware also völlig zu Recht Alarm schlägt, dann aber auf zwei Seiten ein bahnbrechendes Theorem aufgestellt und bewiesen hat, dessen Arbeit gilt dann als „zu 90% plagiiert“. Den eigenständigen wissenschaftlichen Erkenntniswert zu erkennen dürfte rein text-analytisch arbeitenden Plagiatsjägern schwer fallen. Dazu fehlt ihnen die Expertise und die fachliche Rezeptionspraxis: bei welchen Gedanken darf man beim Fachpublikum als allgemein bekannt voraussetzen, dass dies nicht originelle Eigenleistung des Verfassers, sondern allgemeiner Kenntnisstand der Disziplin ist? Was ist wirklich neuartig und ein Erkenntnisfortschritt? Es würde Plagiatsjäger auch zu unangenehmen Güterabwägungen zwingen – eine normativ sehr viel heiklere Angelegenheit als das Aufdecken von Copy-and-Paste-Fällen. Generell kommen Güterabwägungen in einer Debatte sehr kurz, welche durch scheinbar glasklare Gegensatzpaare geprägt ist: richtig – falsch, ehrlich – betrügerisch, eigenständig – gestohlen, verdienter Doktortitel – Rübe ab!

Ich will gar nicht für oder gegen etwas plädieren, was in solchen Fällen angemessen sei. Ich will nur zu bedenken geben, dass eine Gleichstellung des eben beschriebenen Falls etwa mit reinen Copy-and-Paste-Arbeiten – und die Medienöffentlichkeit wird mit ihren „Schande!“-Rufen keinerlei Differenzierung vornehmen, und in den sog. „sozialen“ Medien wird die berufliche und persönliche totale Demontage oft schon abgeschlossen sein, bevor der/die Betreffende davon erfährt, dass gegen seine/ihre Arbeit ermittelt wird – nicht nur unfair ist, sondern vor allem auch nicht den Zweck erfüllt, zwischen wissenschaftlichen Fortschritt und blankem „Abkupfern“ zu differenzieren, denn: so einfach ist es eben nicht. Die manchmal kritisierte Behäbigkeit, mit der Universitäten bei Plagiatsfällen vorgehen, kann man so gesehen auch als vorsichtiges und umsichtiges Agieren verstehen.

Natürlich soll jeder Wissenschaftler den wissenschaftlichen Ethos, vor allem den Respekt gegenüber geistigen Leistungen anderer ebenso verinnerlichen wie die Praxis des korrekten Zitierens. Aber für einen produktiven wissenschaftlichen Diskurs halte ich Beiträge mit originellen Ideen, selbst wenn Formulierung und Zitation kritisch sind, für viel wichtiger als plagiatsfreie Texte mit lupenreiner Zitation, die zum Literatur-Tsunami wissenschaftlicher Bedeutungsarmut beitragen, der durch die Fehlanreize des Wissenschaftsbetriebs ausgelöst wurde. Mit einem „Wer betrügt, der fliegt“ ist jedenfalls ein vernünftig begründbares Wissenschaftsethos nicht hinreichend beschrieben, um es mal milde auszudrücken. Unter einem wissenschaftlichen Diskurs stelle ich mir kein ewiges Gerichtsverfahren vor, in welchem man einen Gedanken am besten von seinem Rechtsanwalt vortragen lässt. Ich möchte schon gerne Betrüger, Poser, akademische Titelgrapscher loswerden, aber nicht originelle, kreative, exzellente Personen, die sich in ihrer Puzzlearbeit leider weniger um Zitationsregeln scheren.

Grexit – und dann?

Moody’s und Standard and Poor’s halten die Kosten eines Grexit für verkraftbar, sofern nicht andere Krisenstaaten ebenfalls den Euroraum verlassen. Sie beziffern die Kosten auf etwa 300 Milliarden Euro, verteilt auf alle Euroländer und über einen längeren Zeitraum. Unterstellt wird, dass im Fall eines Austritts die Schulden an andere Staaten, das Eurosystem und Private, die natürlich weiterhin in Euro berechnet sind, nicht mehr bedient werden und mehr oder weniger abgeschrieben werden müssen. Das wäre man tatsächlich zu tragen bereit, nur um die ewigen Streitereien um die Hilfsmaßnahmen für ein „Fass ohne Boden“ los zu sein? Man darf sich wundern. Wenn man 300 Milliarden Euro Verlust in Kauf zu nehmen bereit wäre, warum tut man sich mit Schuldenschnitten und Stundungen der Rückzahlungen so schwer wie sie seit Wochen, Monaten und Jahren angesichts der völligen Überschuldung immer wieder angemahnt und brüsk zurückgewiesen wurden? Wenn die Troika beschließen würde, die in den nächsten drei Jahren fälligen Rückzahlungen von ca. 60 Milliarden zu erlassen, um dem Reformprogramm eine Chance zu geben, dann wäre das geradezu ein Schnäppchen im Vergleich zu einem Grexit. Bisher muss sich die Regierung von einem Liquiditätsengpass zum nächsten hangeln und alle staatlichen Aktivitäten kreisen um das Stopfen von Löchern. An einen Aufbau einer effektiven Steuerverwaltung durch Einstellen kompetenter Steuerbeamter ist kaum zu denken, wenn man nicht weiß, ob man nächsten Monat noch in der Lage sein wird, Gehälter zu bezahlen. Wenn man wenigstens einen Großteil seines Geldes wiedersehen will, welches man sehenden Auges an einen völlig überschuldeten Staat geliehen hat, sind Schuldenschnitte, bei denen man seine Verhandlungsoptionen behält, effektiver als einfach aufzugeben. Griechenland bliebe im Euro, ein enttäuschtes Abwenden der Bevölkerung von Europa bliebe erspart. 300 Milliarden Euro Verlust im Fall eines Grexit – wie soll man ein so teures Verhandlungsungeschick dem rationalen Steuerzahler erklären? An manchen deutschen Stammtischen würde man sicherlich darüber jubeln, aber ob man da auch richtig rechnen kann?