Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wächst stetig, die Konjunktur ist gut, die Arbeitslosigkeit sinkt, trotzdem behaupten viele, dass das Armutsrisiko zunehme. Viele Verbände und Institutionen sehen hier stets die gleichen Ursachen: eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich (Polarisierung), zunehmende prekäre Arbeitsverhältnisse usw. An dieser Stelle möchte ich gar nicht bewerten, ob das Armutsrisiko tatsächlich zunimmt, und ob die dafür ins Feld geführten Gründe empirisch stichhaltig sind (zur Erinnerung sei darauf verwiesen, dass z.B. die Einführung des Mindestlohnes die Zahl der Minijobs deutlich reduziert hat). Im Folgenden gehe ich mal davon aus, dass tatsächlich das Armutsrisiko zunimmt. Ich möchte der Debatte einen weiteren Aspekt hinzufügen: das steigende Armutsrisiko kann auch lediglich ein statistisches Artefakt sein, welches durch die Definition von Armut zustande kommt!
Armut wird für entwickelte Volkswirtschaften als relative Armut definiert: als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60% des Medianeinkommens verdient. Genauer gesagt handelt es sich um 60% des Median-Äquivalenzeinkommens, bei welchem die unterschiedlichen Haushaltsgrößen berücksichtigt werden, aber das soll hier weiter keine Rolle spielen. Das Medianeinkommen ist dasjenige Einkommen, bei dem 50% der Haushalte darüber und 50% der Haushalte darunter liegen, also nicht das Durchschnittseinkommen. Letzteres ist bei empirischen Einkommensverteilungen stets größer als der Median.
Dies sei an folgende Mini-Volkswirtschaft mit 9 Haushalten demonstriert, die der Einkommenshöhe nach geordnet sind. d.h. Haushalt Nr. 5 ist der Medianhaushalt, denn je 4 haben ein höheres bzw. niedrigeres Einkommen. Es sei n die jeweilige Anzahl der Haushalte mit dem jeweils angegebenen Einkommen:
n | 2 | 1 | 1 | 1 (Median) | 2 | 2 |
Einkommen | 100 | 200 | 300 | 400 | 700 | 1000 |
Die zwei ärmsten Haushalte seien arbeitslos und bekommen staatliche Unterstützung in Höhe von 100. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 500. Die ärmsten 3 Haushalte haben ein Einkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens von 400, so dass die Armutsquote 33% beträgt. Die Ungleichheit der Verteilung kann man anhand des Gini-Koeffizienten messen. Dieser beträgt in diesem Beispiel G=0,38. Da der Gini-Koeffizient nicht die „Schere zwischen Arm und Reich“ misst, wie oft fälschlich dargestellt wird (siehe dazu diesen Blogbeitrag), sei hier noch ein Polarisations-Indikator hinzugefügt: der Einkommensabstand der reichsten und ärmsten 5% der Bevölkerung beträgt 900.
Nun lassen wir diese Mini-Volkswirtschaft wachsen und gedeihen. Die Einkommen steigen auf breiter Front, die Arbeitslosigkeit sinkt, so dass nur noch ein Haushalt staatliche Unterstützung (nun sogar um 20% aufgestockt auf 120!) erhält:
n | 1 | 2 | 1 | 1 (Median) | 2 | 2 |
Einkommen | 120 | 220 | 320 | 550 | 800 | 1000 |
Das Pro-Kopf-Einkommen ist auf 559 gestiegen, vor allem im mittleren Bereich, und die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Sogar die Ungleichverteilung ist zurückgegangen, da der Gini-Koeffizient nun nur noch G=0,33 beträgt. Und zur allgemeinen Freude ist sogar die Schere zwischen Arm und Reich rückläufig: der Einkommensunterschied der reichsten und ärmsten 5% beträgt nur noch 880.
Doch was ist das? Der Haushalt, dessen Einkommen von 300 auf 320 gestiegen ist, liegt nun unterhalb der 60% des (ebenfalls gestiegenen) Medianeinkommens. Somit beträgt die Armutsquote nun 44% statt 33%! Ein höchst alarmierendes Zeichen? Wir sehen: die so definierte Armut kann auch ohne wachsende Ungleichheit und ohne prekäre Arbeitsverhältnisse statistisch zunehmen, und dies bei zunehmendem Wohlstand. Alle diese Zahlen kann man sich als reale Werte vorstellen, also inflationsbereinigt, um auch dieses Argument aus dem Weg zu räumen (zudem hatten wir seit Jahren keine nennenswerte Inflationsraten). In dem Beispiel sind die oberen Einkommen prozentual weniger gestiegen als in der Gesamtbevölkerung, d.h. untere und vor allem mittlere Einkommen wuchsen relativ stärker. Aber das ist paradoxer Weise genau das Problem: das Medianeinkommen wuchs überdurchschnittlich, folglich nimmt die Armut zu! Anders gesagt: erfolgreiche Umverteilung zugunsten unterdurchschnittlicher Einkommen kann statistisch unter Umständen das Armutsrisiko erhöhen. Das spricht nicht gegen diese Maßnahmen, jedoch gegen eine voreilige Interpretation der Zahlen.
Ich stelle hier weder das Konzept der relativen Armut in Frage, noch möchte ich Armut verharmlosen. Aber die Kenntnisse von Messkonzepten und Fähigkeiten zum Interpretieren statistischer Ergebnisse sind bei vielen Menschen gering – anscheinend auch bei solchen, die im Fernsehen als „Experten“ befragt werden. Und das Interesse an Aufklärung ist eher gering, wenn man die Unkenntnis durch wohlfeile, intuitiv erscheinende Argumente instrumentalisieren kann. Den Armen hilft es am Ende nicht, wenn man auf der Grundlage statistischer und ökonomischer Informationsdefizite mehrheitsfähige Lösungen sucht.