Archiv der Kategorie: Schuldenkrise

Target2 und Euroaustritt – ein „Pulverfass“?

Target2-Salden entstehen durch grenzüberschreitende Buchungsvorgänge, und auch nur deshalb, weil trotz der Währungsunion weiterhin nationale Zentralbanken existieren statt nur die EZB. Bei einem grenzüberschreitenden Transfer zwischen Geschäftsbanken, welcher über die jeweiligen nationalen Zentralbanken abgewickelt wird, fließen sowohl Depositen (Passivseite) als auch Reserven (Aktivseite) von der italienischen Bank A zur deutschen Bank B (vermittelt über die jeweiligen nationalen Zentralbanken). Dadurch entsteht aber eine Differenz zwischen Aktiv- und Passivseite der jeweiligen Zentralbankbilanz – die Banca d’Italia hat also dieselben Assets wie zuvor, jedoch weniger Reserven, folglich einen Saldo auf der Passivseite. Entsprechend umgekehrt ist es bei der Deutschen Bundesbank. Gäbe es lediglich die EZB, wäre dieses ganze Problem völlig unbekannt, kein Ökonom würde Alarm schlagen, keine Zeitung darüber schreiben. Normalerweise stehen bei einer nationalen Zentralbank den Reserven (plus Bargeld) entsprechende Vermögensgegenstände gegenüber, also vor allem Wertpapiere oder Forderungen gegenüber nationalen Geschäftsbanken. Durch den Zufluss von Reserven an deutsche Geschäftsbanken, die die Deutsche Bundesbank gar nicht geschaffen hat, sondern die durch Überweisung nach Deutschland gekommen sind, entsteht eine T2- “Forderung” der Bundesbank auf der Aktivseite, die man als Forderung gegenüber der EZB betrachtet. Umgekehrt ist es bei der Banca d’Italia, die eine T2- “Verbindlichkeit” gegenüber der EZB hat. Zunächst einmal kommt die Sprechweise von “Forderung” und “Verbindlichkeit” durch die übliche Interpretation der Aktiv- und Passivseite einer Bilanz zustande. Faktisch hat sich die Banca d’Italia aber gar keine Mittel von der Bundesbank “geliehen”, schon gar nicht hat “Deutschland” Geld an “Italien” verliehen, welches dieses Geld irgendwie verjubelt hat (auch wenn das gescheit klingt wie „… zur Finanzierung des Zahlungsbilanzdefizits“). Die Interpretation der T2-Salden als „Kredit“ ist also zu recht sehr umstritten. Ich lehne sie ab.

Die Sorge ist nun, dass im Fall des Austritts eines T2- “Schuldner”-Landes aus der EWU man diese Salden ähnlich wie einen faulen Kredit  „abschreiben“ muss, da es sich nicht um eine werthaltige Forderung handelt. Schließlich wird das Land ja aufgrund großer finanzieller Probleme ausgetreten sein und daher weder in der Lage noch willens sein, einen Saldo zu begleichen. Müsste die Bundesbank eine riesige T2- “Forderung” abschreiben, so wäre ihr Eigenkapital mehr als aufgebraucht, es würde negativ werden. Das wäre an sich nicht unbedingt ein Problem (im Unterschied zu einer Geschäftsbank, die dann insolvent wäre), aber man würde dies vermeiden wollen, indem man den T2-Saldo als reinen Buchungsposten einfach stehen ließe. Im Fall, dass die „Billionen-Forderung“ abgeschrieben würde, müsste gegebenenfalls die Bundesbank durch den – Gott bewahre! – deutschen Steuerzahler rekapitalisiert werden. Das ist das Schreckensszenario, das kürzlich wieder durch die Tageszeitungen ging (wie immer mit der löblichen Ausnahme der sehr sorgfältigen Kolumnen von Gerald Braunberger in der FAZ).

Klar ist, dass die Banca d’Itlaia Teil des ESZB ist und die Wertpapiere auf ihrer Aktivseite dem ESZB gehören. Steht als Gegenbuchung nun ein T2-Saldo in ihrer Bilanz, so entsteht dann – und nur dann und in diesem Moment – eine Forderung des ESZB auf Rückübereignung der Wertpapiere in Höhe des T2-Saldos, als Folge des Austritts aus dem ESZB. Es kann ja nicht sein, dass die Banca d’Italia nach einer Währungsreform ihre Reserven in Lira umwandelt und die Wertpapiere, denen ja Euro-Forderungen der Banken gegenüberstehen, einfach als Anfangskapitalausstattung behält. Es ist aber davon auszugehen, dass in der Banca d’Italia vernünftige Leute mit Expertise sitzen, die genau wissen, dass man auch nach Austritt Italiens aus dem Euro den Zahlungsverkehr mit der Eurozone aufrechterhalten muss. Dies würde durch das eben skizzierte Vorgehen, welches spiegelbildlich die „Abschreibung einer Billionenforderung“ auf der Bundesbankbilanz zur Folge hätte, stark gefährdet und würde Italien wirtschaftliche vom Euroraum abschneiden.  Interessanterweise sind es ja oft dieselben Ökonomen, die vor einer T2-Katastrophe warnen, die sich auch für einen Austritt der Südländer aus dem Euro stark machen mit dem Hinweis, dass es dann für diese – per Abwertung und dadurch Stärkung des Exportes – so viel leichter wäre. Das setzt aber voraus, dass der Zahlungsverkehr mit der Eurozone reibungslos funktioniert. Das auch jüngst in der FAZ vom Sinn angeführte Erpressungspotenzial der T2-Salden (Motto: „Schuldenschnitt bzw. Transferunion oder wir lassen Eure T2-Forderung platzen!“) relativiert sich somit, da zur Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs eine einvernehmliche  Lösung gefunden werden muss:

Wie könnte es nach einem Austritt z.B. Italiens aus der EWU weitergehen? [Update/Korrektur]

Wir gehen davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt kein “Clearing” geben wird, d.h. die Banca d’Italia den T2-Saldo nicht durch Transfer entsprechender Wertpapiere an die Bundesbank (via EZB) ausgleichen wird. Die folgenden Überlegungen stellen eine Möglichkeit dar, die eine entsprechende Änderung des rechtlichen Rahmens notwendig macht. Im Fall des Euroaustritts ist aber ohnehin eine rechtliche Regelung notwendig. Ich gehe davon aus, dass der T2-Saldo zunächst einfach auf der Passivseite der Banca d’Italia stehenbleibt, während alle Reserven sowie das Bargeld in Lira umgewandelt werden. Die Banca d’Italia (und die italienische Wirtschaft und selbst populistische Regierungen) wird ein vitales Interesse daran haben, den Zahlungsverkehr zwischen Italien und dem Euroraum weiterhin zu gewährleisten. Dies kann durch einen vorübergehenden Verbleib im TARGET-System geschehen, solange noch Salden offenstehen.

Wenn es dann zu einer Überweisung von Deutschland nach Italien kommt, verringern sich die Euroreserven auf der Bank- sowie der Bundesbank-Bilanz – und der dort befindliche T2-Saldo ebenfalls. Wie der Empfang von Euroreserven sich dort auf das Verhältnis zwischen Geschäftsbank und Banca d’Italia auswirkt, sei dahingestellt. Die Banca d’Italia könnte z.B. die Euroreserven der italienischen Geschäftsbank in Lirareserven umtauschen, wobei dann bei ihr ein Passivtausch der T2-Verbindlichkeiten gegen Lira-Reserven stattfindet. Auch ihr T2-Saldo verringert sich.

Die umgekehrte Überweisung von Italien nach Deutschland würde man asymmetrisch behandeln: es werden von der italienischen Bank nur Euroreserven für den Transfer akzeptiert, die diese (bzw. die Banca d’Italia) zuvor bei der einer deutschen Geschäftsbank (bzw. der Bundesbank) mittels Tausch gegen Wertpapiere erworben hat. Auf diese Weise wird sich – anders als im bisherigen TARGET-System – der T2-Saldo zumindest nicht erhöhen. Man könnte diesen Vorgang auch daran koppeln, dass die Banca d’Italia einen Aufschlag von sagen wir 5% zahlt, also für einen 100 Mio-Transfer Wertpapiere für 105 Mio überträgt, die den bestehenden T2-Saldo um 5 Mio verringert. Auf diese Weise würde sich bei jedweder grenzüberschreitenden Zahlung der T2-Saldo ein Stückchen verringern. Ist dieser irgendwann Null, so kann man auf das symmetrische System übergehen, wie es auch sonst üblich ist, und Italien tritt aus dem TARGET-System aus. Selbst wenn sich der letztgenannte Aufschlag bei Überweisungen von Italien nach Deutschland politisch nicht durchsetzen ließe, so würden zumindest die Zahlungsvorgänge in die andere Richtung den T2-Saldo abschmelzen.

Das von einigen Ökonomen beschworene „Erpressungspotenzial“, weil Italien mit der Drohung der „Nichtrückzahlung der T2-Schulden“ beinahe jede Forderung durchsetzen könne, kann man auch genau umkehren: Solange noch ein T2-Saldo besteht, muss sich die Banca d’Italia auf die skizzierte technische Regelung einlassen, wenn Italien nicht vom Euroraum abgeschnitten werden will. Das dürfte wohl im beiderseitigen Interesse liegen.  Der Saldo wird dann so zurückgeführt, wie er entstanden ist: allein durch grenzüberschreitende Zahlungsvorgänge. So ganz ohne Katastrophe. Man kann nur hoffen, dass im Fall eines Austritts pragmatische Zentralbanker auf beiden Seiten die Sache in die Hand nehmen und nicht so manche deutsche Leitartikler.

Anfa und die monetäre Staatsfinanzierung

Das „Agreement on net-financial assets“, nach welchem nationale Zentralbanken auf eigene Rechnung Staatspapiere kaufen können, was offenbar weder bilanztechnisch noch innerhalb des ESZB transparent kommuniziert zu werden scheint, wird zu Recht als Gefährdung der Glaubwürdigkeit der EZB kritisiert. Besonders Draghis Aussage, bezüglich der Details müsse man sich an die nationalen Zentralbanken wenden, lässt sich interpretieren als „So genau wissen wir das bei der EZB auch nicht, was da geschieht“, ist sehr zweifelhaft. In Zeiten, wo gewöhnliche wie ungewöhnliche geldpolitische Maßnahmen praktisch unwirksam sind, und der Einfluss der Zentralbank fast ausschließlich auf ihre Fähigkeit zu glaubwürdiger Kommunikation und Erwartungsbeeinflussung beschränkt ist, sind solche Intransparenzen kontraproduktiv.

Was aber besonders störend ist: Reflexartig kommen die Standardargumente besorgter Ökonomen auf den Tisch, hier werde „Geld gedruckt“ und damit „verdeckte unerlaubte Staatsfinanzierung betrieben“ (z.B. in der FAZ vom 22.12.2015). Dazu kurz und knapp Folgendes:

Kauft eine Zentralbank von einer Geschäftsbank ein Staatspapier, so bezahlt sie mit „Reserven“. Es entsteht dabei gar kein Zahlungsmittel, welches der Staat oder ein anderer Akteur im Wirtschaftskreislauf irgendwie verwenden könnte. Geld entsteht dann (aber eben nicht durch „Drucken“ seitens der EZB!), wenn die Bank diese Staatspapiere von einer Nicht-Bank kauft und den Betrag als Sichtguthaben gutschreibt – ähnlich wie bei der Kreditgeldschöpfung. Für den Staat gibt es dann und nur dann eine Finanzierungswirkung, wenn die Bank das Papier auf dem Primärmarkt kauft, also direkt dem Staat den Kaufpreis als Sichtguthaben verbucht.

Nun, genau das ist empirisch zunächst nachzuprüfen, bevor man von „monetärer Staatsfinanzierung“ schwadroniert: Hat es im Rahmen von Anfa signifikante Käufe von Staatspapieren durch Banken auf dem Primärmarkt gegeben, die dann anschließend an die nationale Zentralbank (oder auch an die EZB) weiterverkauft wurden? Wurden z.B. Papiere gekauft, die noch vor Anfa und dem ganzen QE-Programm der EZB begeben wurden, so ist der Vorwurf nicht stichhaltig. Und wenn aktuell emittierte Papiere auf dem Sekundärmarkt gekauft wurden, dann müsste man (fast verschwörungstheorieartig) davon ausgehen, dass Zentralbank, Bank, Staat sowie ein weiterer Strohmann auf dem Sekundärmarkt kollusiv handeln. Hier würde allerdings eine transparente Politik der EZB und der nationalen Zentralbanken helfen, diese rein empirische Frage zu beantworten. Bis dahin sollte man nicht die verbale Demontage der Glaubwürdigkeit der EZB durch Mutmaßungen vorantreiben, die man empirisch nicht belegen kann. Stattdessen sei empfohlen, sich mal ganz entspannt die Zeitreihen von M0, M3 und Staatsverschuldungsquoten seit Auflage des QE-Programms der EZB (wozu auch Anfa zuzurechnen ist) zu betrachten.

Staatspleite mit Euro oder Grexit?

Das Verhandlungsgebaren der Syriza-Regierung wurde in der Presse oft als skandalös, und Tsipras‘ Idee das Volk zur Annahme des für ihn als unannehmbar gehaltenen Vorschlags der Gläubiger zu befragen als hasardeurhaft und schiere Katastrophe dargestellt. Dass in einer Prinzipal-Agenten-Beziehung der Agent (Regierung) sich bei schweren Zweifeln bezüglich seines Verhandlungsmandates gegenüber Gläubigern bei seinen Prinzipalen (dem Souverän, Volk) rückversichert und somit ein Scheitern von Verhandlungen demokratisch legitimieren will, das ist natürlich schwer verwerflich und vollkommen unverständlich… (auch wenn populistisches Kalkül dabei sein mag). Man hätte lieber ein „kooperatives“ Einlenken gesehen, welches dazu geführt hätte, dass die Gläubiger-Institutionen weiter Hilfsgelder an den vollkommen überschuldeten Staat fließen lassen, damit dieser weiterhin die Schulden an eben diese Gläubiger-Institutionen bedienen kann. Solange man noch mit seriös klingenden Floskeln diese Ponzi-Finanzierung weiter betreibt in der Hoffnung, dass Griechenland irgendwann schneller „spart“ als die Wirtschaftsleistung und damit die Steuerbemessungsgrundlage sinkt, so dass man dann stolz sagen kann, dass Austerität eben doch zu positiven Primärüberschüssen führt, so lange kann man sich selbst vor der Erkenntnis bewahren, dass die permanenten Hilfspakete bereits Ausdruck einer Staatsinsolvenz sind und jene nur verschleppen. Letzteres mag neoliberal klingen, ist aber die Analyse Varoufakis‘, der daraus den Schluss zieht, dass nichts um einen Schuldenschnitt herum führt. Nun also sind die Verhandlungen gescheitert und man stellt sich auf eine Staatspleite ein. Die erste Kreditrückzahlung an den IWF ist bereits nicht erfolgt. [Update 14.7.15: Es sieht so aus, als hätte man sich trotz des Referendums auf eine Fortsetzung des Ponzi-Spiels geeinigt.]

Es ist jetzt leicht, die Schuld der Syriza-Regierung zu geben. Es klingt ja auch für die Allgemeinheit wenig logisch, weshalb der freundliche Geber am Scheitern des renitenten Nehmers „Schuld“ sein solle. Wie man viel Geld sehenden Auges an jemand völlig Überschuldeten geben kann und dann etliche Jahre lang mehr oder weniger vergeblich darauf wartet, dass dieser Reformen durchführt, braucht jetzt keinen mehr zu interessieren – denn jetzt hat man ja eine unliebsame bockige Regierung, die erst kurz im Amt ist, und die nun das Versagen „der Griechen“ repräsentiert. Die früheren Regierungen seien ja zumindest „kooperationswillig“ gewesen, heißt es oft. Nun ja, sie haben sich sehenden Auges weiter verschuldet um dann halbherzig die abverlangten Sparmaßnahmen durchzuführen, jedoch kaum nennenswerte Strukturreformen, die für eine langfristige Gesundung der Wirtschaft jedoch entscheidend gewesen wären. Dazu gehört vor allem die Bekämpfung der Korruption und eine funktionsfähige Verwaltung, jedoch: Fehlanzeige. Durch Sparen allein reformiert man Staat und Wirtschaft nicht.Bei einem Schuldenschnitt müssten zumindest auch die Geberländer für ihre totale Fehleinschätzung  büßen. Es rächt sich, dass man bei einem Staat, der durch jahrzehntelangen Nepotismus, Korruption, Klientelpolitik, ineffiziente Verwaltung und schwache Institutionen gekennzeichnet ist, so behandelt, als ginge es darum, lediglich „den Haushalt wieder in Ordnung zu bringen“.

Nun wird bereits gerechnet, dass man es durchaus verkraften könne, Schulden zum großen Teil abschreiben zu müssen. Das hätte man auch erheblich billiger haben können, hätte man Varoufakis‘ Beharren auf weiteren Schuldenschnitten Beachtung geschenkt (hätte dieser einen etwas konzilianteren Tonfall angeschlagen). Dann hätte man über Ausmaß und Bedingungen verhandeln können. Etwa in der Art, dass man sich nicht auf die ungeliebten Sparmaßnahmen konzentriert, die ohnehin mit einem absurd-lächerlichen Aufwand verhandelt werden: über 1% mehr hier und 2% weniger dort und steuerliche Detailregelungen, deren fiskalische Wirkungen im absoluten Dunkeln liegt, und die zu „geplanten“ Primärüberschüssen führen sollen, die ebenfalls mit Nachkommastellen verhandelt werden. In einer Depression taumelnden Wirtschaft mit schlecht funktionierender Bürokratie sind solche „Verhandlungen“ eine groteske Anmaßung von Wissen und Prognosefähigkeit. Kein Wunder, dass der Eindruck von Einmischung oder Diktat entsteht. Stattdessen sollten (fast) allein Strukturreformen auf der Verhandlungsagenda stehen, die etwas anderes sind als Austeritätspolitik, und für die breite Mehrheiten bei der griechischen Regierung, aber auch in der Bevölkerung vorhanden sind! Mit einem Zug-um-Zug-Geschäft – ein bestimmter Milestone an Reformen (z.B. Aufbau eines Katasters, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, Aufbau einer effektiven Steuerverwaltung, Eintreibung von Steuerschulden, aber auch: Angleichung des Renteneintrittsalters an EU-Niveau) gegen den Erlass oder die langfristige Stundung von Krediten – hätte man das Reforminteresse der Gläubiger mit dem Interesse an Schuldenschnitten und Reduktion der Sparmaßnahmen verbinden können. Nun aber gibt es einen de-facto Schuldenschnitt durch Staatsbankrott – ohne Auflagen und Kontrolle.

In der FAZ vom 30.6.15 warnt Philip Plickert unter Berufung auf die „Mehrheit der Ökonomen“, dass eine Staatspleite bei Verbleib im Euro zwar möglich, aber nicht empfehlenswert sei. Das Zitat von Clemens Fuest, „eine Insolvenz im Euro wäre im Grunde ein neuer Schuldenerlass, aber ohne Auflagen“, soll dies belegen. Nun ändert aber ein Austritt aus dem Euro auch nichts an der in Euro notierten Schuldenlast. Die Einführung einer zum Euro kräftig abwertenden Drachme würde zwar den Exportsektor wettbewerbsfähiger machen, vielleicht sogar nach geraumer Zeit zu Nettoexportüberschüssen führen, aber die Schuldenlast ist derartig gewaltig (und würde durch die Aufwertung des Euros im Vergleich zur Drachme real noch viel gewaltiger!), so dass nicht im Traum daran zu denken ist, dass selbst eine explosionsartig boomende griechische Exportwirtschaft zu derartig sprudelnden Steuereinnahmen führt, dass der Staat dann seine Schulden zurückzahlen könnte. Es ist auch folgende Punkte bei einem Grexit zu bedenken:

  • Die TARGET2-Salden, die bislang ein rein buchungstechnischer Posten innerhalb des ESZB sind, und weder ökonomisch noch rechtlich ein „Kredit“ darstellen, wie es einige immer wieder behaupten, werden im Fall des Grexits dann aber doch eine Forderung des ESZB an die griechische Zentralbank, die man wohl teilweise wird abschreiben müssen. Im Fall des Verbleibs im Euro würden die Salden bei einer griechischen Erholung und entsprechenden Kapitalrückflüssen reduziert werden. Im Prinzip wäre auch ein Grexit mit Verbleib im TARGET2-System denkbar.
  • Bei einem Grexit entstehen zusätzliche Verwerfungen, weil die EZB den griechischen Bankensektor nicht mehr stützen würde und dürfte. Die griechische Zentralbank, die dann selbst in Euro überschuldet wäre (siehe oben) müsste dann den gesamten Bankensektor rekapitalisieren.
  • Werden sämtliche Zahlungsverpflichtungen auf Drachmen umgestellt, würde sich zunächst am Budgetdefizit des Staates nichts ändern – es würde lediglich in Drachmen ausgewiesen. Er könnte sich allerdings leichter vom teil-verstaatlichten und dann von den Regeln des ESZB „befreiten“ Bankensektors neues Geld leihen um seine Staatsbediensteten zu bezahlen. Die Möglichkeit, das benötigte Geld nun selbst „drucken“ zu können, verlängert die Misere aber immer weiter. Kein Ordnungsökonom kann das wollen.
  • Außerdem besteht dann von Seiten der Euroländer noch weniger Verhandlungs- und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Reformen. Es ist nicht zu erkennen, weshalb nötige Strukturreformen ohne den Euro leichter sein sollten als mit dem Druck der Euro-Gruppe.
  • Und schließlich: Gewänne die griechische Exportwirtschaft allein durch die Abwertung der Drachme wieder an Wettbewerbsfähigkeit und trügen zur Besserung makroökonomischer Daten bei, so mögen sich manche Ökonomen bestätigt fühlen, aber es könnte auch den Druck zur Produktivitätsverbesserungen sowie zu institutionellen und strukturellen Reformen reduzieren. Wenn schon Ökonomen diese Gefahr des nachlassenden Drucks schon aufgrund der QE-Maßnahmen der EZB sehen, weil griechische Staatstitel sich vielleicht um einen halben Prozentpunkt verbilligen, so muss dieses Argument erst recht gelten, wenn der Druck aufgrund einer drastisch abgewerteten Drachme den Staatshaushalt besser aussehen lässt – auch ohne Strukturreformen.
  • Das Signal an internationale Investoren wäre, dass der Euroraum fragil ist.

Ich kann daher nicht erkennen, was aus Sicht der Gläubiger vorteilhaft sein soll, dass eine Staatspleite zwingend mit einem Grexit verbunden sein sollte. Als Steuerzahler bin ich  daran interessiert, so viel wie möglich von dem verliehenen Geld wieder zu sehen. Und dies geht nur, wenn der Schuldner wieder auf die Beine kommt. Hilfreich wären da allerdings auch entsprechende glaubwürdige Signale aus Griechenland, Reformen jenseits der Austerität endlich auf den Weg zu bringen.

Grexit – und dann?

Moody’s und Standard and Poor’s halten die Kosten eines Grexit für verkraftbar, sofern nicht andere Krisenstaaten ebenfalls den Euroraum verlassen. Sie beziffern die Kosten auf etwa 300 Milliarden Euro, verteilt auf alle Euroländer und über einen längeren Zeitraum. Unterstellt wird, dass im Fall eines Austritts die Schulden an andere Staaten, das Eurosystem und Private, die natürlich weiterhin in Euro berechnet sind, nicht mehr bedient werden und mehr oder weniger abgeschrieben werden müssen. Das wäre man tatsächlich zu tragen bereit, nur um die ewigen Streitereien um die Hilfsmaßnahmen für ein „Fass ohne Boden“ los zu sein? Man darf sich wundern. Wenn man 300 Milliarden Euro Verlust in Kauf zu nehmen bereit wäre, warum tut man sich mit Schuldenschnitten und Stundungen der Rückzahlungen so schwer wie sie seit Wochen, Monaten und Jahren angesichts der völligen Überschuldung immer wieder angemahnt und brüsk zurückgewiesen wurden? Wenn die Troika beschließen würde, die in den nächsten drei Jahren fälligen Rückzahlungen von ca. 60 Milliarden zu erlassen, um dem Reformprogramm eine Chance zu geben, dann wäre das geradezu ein Schnäppchen im Vergleich zu einem Grexit. Bisher muss sich die Regierung von einem Liquiditätsengpass zum nächsten hangeln und alle staatlichen Aktivitäten kreisen um das Stopfen von Löchern. An einen Aufbau einer effektiven Steuerverwaltung durch Einstellen kompetenter Steuerbeamter ist kaum zu denken, wenn man nicht weiß, ob man nächsten Monat noch in der Lage sein wird, Gehälter zu bezahlen. Wenn man wenigstens einen Großteil seines Geldes wiedersehen will, welches man sehenden Auges an einen völlig überschuldeten Staat geliehen hat, sind Schuldenschnitte, bei denen man seine Verhandlungsoptionen behält, effektiver als einfach aufzugeben. Griechenland bliebe im Euro, ein enttäuschtes Abwenden der Bevölkerung von Europa bliebe erspart. 300 Milliarden Euro Verlust im Fall eines Grexit – wie soll man ein so teures Verhandlungsungeschick dem rationalen Steuerzahler erklären? An manchen deutschen Stammtischen würde man sicherlich darüber jubeln, aber ob man da auch richtig rechnen kann?