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Ein Globalisierungsparadoxon – weniger Effizienz durch mehr Freihandel?

Um eines vorab zu klären: Ich habe nichts gegen wettbewerbliche Märkte und freien Handel, ganz im Gegenteil. Mir geht es um die individuelle Freiheit von Menschen, die in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen leben, weshalb Freiheit immer mit Verantwortung zu tun hat. Freie Märkte und Handel werden angetrieben durch individuelle Entscheidungen im Rahmen gesellschaftliche gestalteter Spielregeln. Ökonomen gehen von der Vorstellung aus, dass Individuen die Konsequenzen möglicher Handlungsalternativen entsprechend ihrer Präferenzen bewerten, (meistens) die für sie bestmögliche Alternative wählen, und dann aber auch Verantwortung für die Konsequenzen tragen. Wie man bereits im ersten Semester eines Ökonomiestudiums lernt, treten aber auf einem freien Markt dann Probleme auf, wenn eine Marktseite die Konsequenzen ihrer Handlungsalternativen nicht richtig einschätzen kann, weil eine Informationsasymmetrie vorliegt. In solchen Fällen kann der Markt in aller Regel nicht effizient funktionieren. Standardlehrbuchbeispiel ist der Gebrauchtwagenmarkt, bei dem der Käufer über die Qualität des Gebrauchtwagens schlechter informiert ist als der Verkäufer und daher seine Zahlungsbereitschaft evtl. unterhalb des Preises liegt, den der Verkäufer angesichts der ihm bekannten Qualität angemessen erscheint. Ein wechselseitig vorteilhafter Tausch kommt nicht zustande, was im Klartext heißt: Ineffizienz. Ein anderes Beispiel ist eine Bank, die über die Bonität des Kreditnehmers schlechter informiert ist als dieser selbst, was zu einer Kalkulation eines Risikoaufschlags auf den Zins führen kann, den ein risikoarmer Kreditnehmer nicht mehr zu tragen bereit ist.

Was hat das nun mit der Globalisierung zu tun? Kürzlich hat Mexiko, welches ein Freihandelsabkommen mit den USA hat (TPP), erfolgreich dagegen geklagt, dass in den USA im Handel erhältlicher Thunfisch mit einem Siegel versehen sein muss, welches nachweisen soll, dass dieser für Delphine schonend gefangen wurde. Mexiko sah darin ein nicht-tarifäres Handelshemmnis, welches dem Freihandelsabkommen widerspricht, und hat damit Recht bekommen (SZ.de vom 30.11.15). Käufer von Thunfisch können nicht wissen, wie der Thunfisch gefangen wurde, der Preis enthält alle möglichen Informationen, aber nicht die, ob dabei Delphine als Beifang ums Leben kommen oder nicht. Mit anderen Worten: beim Thunfischkauf kann man eben nicht alle Konsequenzen dieser Handlung einschätzen, es liegt Informationsasymmetrie vor. Zur Lösung oder Linderung solcher Probleme gibt es verschiedene Mechanismen, dem Marktmechanismus auf die Sprünge zu helfen. Im Fall des Gebrauchtwagens ist dies z.B. das TÜV-Siegel, welches zumindest gewisse Mindestqualitätsstandards garantiert, im Fall der Kreditnehmer-Bonität gibt es Dienste wie SCHUFA oder Ratingagenturen. Und im Fall des Thunfischs eben ein „dolphin safe“-Siegel. Daneben gibt es eine ganze Palette von Öko- und Fair-Trade-Siegeln, die über diese und jene Produktions- und Handelsbedingungen Auskunft geben. All das soll zumindest ein wenig helfen, Informationsasymmetrien abzubauen, die Käufer über die globalen Konsequenzen ihrer Handlungen aufzuklären und somit Entscheidungen zu treffen, die ihren Präferenzen am nächsten kommen. Erst dann spiegeln Preise einigermaßen adäquat auch die Zahlungsbereitschaft wider. All diese Maßnahmen sind nicht gegen den Markt und den freien Handel gerichtet, sondern für diese! Sie sollen dem Markt helfen zu einer effizienten Allokation knapper Ressourcen zu gelangen. Es ist ein tiefgreifendes Missverständnis, dass solche Regulierungen als „nicht-ökonomische“, also z.B. verbraucherschutz- oder umweltorientierte Maßnahmen betrachtet werden, um den freien Markt einzudämmen. Das Gegenteil ist der Fall: Umwelt- und Verbraucherschutz will den Präferenzen der Individuen dort Geltung verschaffen, wo das Preissystem dieser Aufgabe unzureichend nachkommt, und soll somit die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft stärken!

Ein anderes Beispiel: In den USA müssen Restaurants neuerdings den Salzgehalt der angebotenen Speisen angeben. Der entsprechende Gaststättenverband hat dagegen nun Klage eingereicht (spiegel.de vom 4.12.15). Solche Vorschriften werden als unangemessener Eingriff in individuelle Freiheitsrechte, als unverhältnismäßige staatliche Bevormundung aufgefasst. Nun führt aber eine Ernährungsweise, in der übermäßig Salz konsumiert wird, zu Gesundheitsschäden. Die langfristigen Konsequenzen für die Gesundheit können vom individuellen Entscheider nicht eingeschätzt werden, wenn ihm Informationen über Inhaltsstoffe in der Nahrung fehlen. Wenn einem dieser spezielle Aspekt wichtig genug, also als handlungsrelevant erscheint, kann man über eine kollektive Lösung dieser Informationsasymmetrie nachdenken, die dann zu einer solchen Regulierung führt. In anderen Gesellschaften mit anderen Ernährungsgewohnheiten mag man da zu anderen Abwägungen kommen. Die Konsequenzen der Handlungen zu kennen und verantworten zu können, ist aber essentiell für individuelle Freiheit. Die Begründung, dass der Abbau von Informationsasymmetrien eine Beschränkungen individueller Freiheit darstelle, ist somit aberwitzig. Indem zig Millionen Kunden eine informierte, reflektierte und verantwortbare Entscheidung unmöglich gemacht wird, werden diese ebenfalls in der Substanz ihrer Freiheitsrechte eingeschränkt. Sie sollen als stumpf Konsumierende „funktionieren“, nicht aber ihre Handlungsfolgen verantworten wollen. Welcher Freiheitsbegriff hier in der angeblich so liberalen Wirtschaftskonzeption zugrunde liegt, möchte man am liebsten gar nicht wissen.

Es gibt zahllose weitere Beispiele für unbekannte Handlungskonsequenzen. Der Witz ist, dass in dem Fall, in dem Individuen ausschließlich egoistisch denken, ein großer Teil dieser Handlungskonsequenzen irrelevant sind: ob bei der Herstellung des Produktes Kinder- oder Sklavenarbeit eingesetzt, oder Flüsse in fernen Ländern verschmutzt wurden usw. wird dann nicht als entscheidungsrelevant angesehen und diesbezügliche Informationsasymmetrie stellt kein ökonomisches Problem dar. Je mehr Menschen aber sozial und ökologisch interessiert sind und – als anspruchsvolle Voraussetzung individueller Freiheit – Verantwortung übernehmen möchten, desto drängender ist das Problem der Informationsasymmetrie. Ohne deren teilweise Überwindung lebt und konsumiert man fast zwangsläufig in „struktureller Verantwortungslosigkeit“. Ich würde in diesem Konsummodell eine Bedrohung individueller Freiheit sehen.

Und so erschließt sich auch die Bedeutung der Überschrift: Mit fortschreitender Globalisierung werden die Produktionsketten immer weiter zerlegt und auf viele Produktionsstandorte verteilt. Keine Instanz kann mehr über das komplette Wissen verfügen, wann, wo und vor allem wie all die Rohstoffe und Vorprodukte hergestellt, transportiert und letztlich zum Endprodukt verarbeitet wurden. Wenn all diese Informationen für den Käufer des Endproduktes irrelevant sind, so ist es auch überhaupt nicht nötig, all dies zu wissen, denn alle relevanten Informationen sind in all den Preisen für Rohstoffe, Vorprodukte, Transport und schließlich für das Endprodukt enthalten. Auf diesen Vorstellungen beruhen im Wesentlichen die (neoklassischen) Theorien der Ökonomen. Daraus kann man dann die Schlussfolgerung ziehen, dass eine fortschreitende Globalisierung zu einer verbesserten Nutzung vorhandener Ressourcen und Technologien führt, und letztlich den Wohlstand aller erhöht. Paradoxerweise erhöhen sich dadurch aber auch die Informationsasymmetrien enorm. Ein wachsender Aufwand ist nötig um sicherzustellen, dass z.B. keine Kinderarbeit eingesetzt wurde, bestimmte Qualitäts- und Lebensmittelstandards eingehalten wurden (auch in Vorprodukten fernab der Endproduktfertigung), die Umwelt nicht allzu belastet, und keine Despoten unterstützt wurden. Dieser Aufwand ist für Hersteller und Händler lästig, wie an dem Thunfisch- und dem Salzbeispiel zu sehen ist, aber für Käufer, die eine verantwortbare individuelle Entscheidung gemäß ihrer Präferenzen treffen möchten, ist der Aufwand noch zu gering. Immer noch ist z.B. der unmittelbare Zusammenhang zwischen eigenem Einkaufsverhalten und der Rodung von Regenwald zwecks Anpflanzung von Plantagen zur Palmölgewinnung unsichtbar, obwohl das Palmöl in den Produkten steckt, die man soeben in seinen Einkaufswagen gelegt hat. Als Ökonom muss sich da die Frage aufdrängen, ob die Effizienzverluste aufgrund globalisierungsbedingt steigender Informationsasymmetrien nicht die Effizienzgewinne aufgrund der Nutzung komparativer Kostenvorteile eventuell schon übersteigt.

Eigentlich müsste sich diese Frage einem liberalen marktwirtschafts-affinen Ökonomen noch viel drängender stellen als einem regulierungsorientierten „linken“ Ökonomen. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr der Markt und die individuelle Freiheit an Voraussetzungen geknüpft sind, an Spielregeln, die kollektiv gesetzt werden müssen. Freiheit im Sinne von Autonomie wird nicht nur durch die Anmaßungen des Kollektivs bedroht, bevormundend in individuelle Entscheidungen einzugreifen, sondern auch durch die Anmaßungen eines Marktes, der einem die Voraussetzungen für verantwortbares Handeln vorenthält.

Freihandelsabkommen TTIP: Kopfschütteln aus dem Hörsaal

Im ersten Semester eines Wirtschaftsstudiums lernt man etwas über Präferenzen von Menschen und die Knappheit der Güter, und dass eine Gesellschaft Mechanismen entwickelt, wie knappe Mittel auf konkurrierende Verwendungsmöglichkeiten möglichst effizient aufgeteilt werden können (Allokation). Man lernt, welche Vorzüge der Mechanismus „wettbewerblicher Markt“ dabei in einer arbeitteiligen Gesellschaft hat, aber auch, dass alle denkbaren Allokationsmechanismen ihre Vor- und Nachteile haben, und Gesellschaften daher stets durch eine Mischung verschiedener Mechanismen charakterisiert sind. Im Fall des Marktes etwa lernt man, dass die Bildung von Marktmacht, externe Effekte sowie Informationsasymmetrien die Funktionsfähigkeit von Märkten beeinträchtigen. Staatliches Handeln kann sich folglich nicht nur auf das Schaffen der institutionellen Voraussetzungen freier Märkte beschränken, sondern sollte auch durch Regulierung und Kontrolle die Funktionsfähigkeit von Märkten verbessern. Dabei beruht der Bewertungsmaßstab – die Effizienz – letzten Endes auf den Präferenzen der Menschen, welche diese Gesellschaft und ihre Allokationsmechanismen organisieren. So weit, so gut.

Nun sind die Präferenzen der Menschen vielschichtig. Ihnen geht es nicht nur um ihr möglichst billiges Schnitzel. Sie interessieren sich auch für Inhaltsstoffe und technische Standards, sie interessieren sich für Fragen der Verteilung und sozialen Gerechtigkeit, sie interessieren sich Fragen der ökologischen und Arbeitsstandards bei der Produktion. In einer zunehmend arbeitsteiligen Wirtschaft mit fein zerlegten und über den Globus verteilten Produktionsstufen wird es daher ständig schwieriger, die Folgen der eigenen Entscheidungen abschätzen zu können. Präferenzen beziehen sich nun mal aber auf eine indivieuelle Bewertung der Entscheidungsfolgen, das ist der Kern des ökonomischen Verständnisses von Rationalität. Man kann es auch so ausdrücken: in einer arbeitsteiligen globalisierten Produktionsweise wird es immer schwieriger, rationale, d.h. präferenzgerechte Entscheidungen zu treffen, die Informationsasymmetrie nimmt strukturell zu. Man trägt mit seinen Entscheidungen zu Konsequenzen bei, die man eigentlich ablehnt, es herrscht eine „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Ulrich Beck).

Nun haben wir Informationsasymmetrien aber als eine der Funktionsdefinizite wettbewerblicher Märkte herausgestellt. Seit den 1970er Jahren ist dieses fundamentale Problem ein Standard in der ökonomischen Analyse. Der Abschied vom „allwissenden“ Akteur hat zu zahlreichen interessanten ökonomischen Einsichten geführt. Letztlich kann man praktisch alle regulatorischen Maßnahmen, welche Funktionsdefizite vor allem aufgrund dieser Informationsprobleme mildern sollen – von der TÜV-Plakette zur Inhaltsstoffangabe bei Lebensmitteln, von Finanzmarktregulationen bis zum Verbot von krebserregenden Farben bei Kinderspielzeug, von Tierschutzvorschriften bis zum EU-Ökolabel – als Maßnahmen zur Effizienzverbesserung von Märkten verstehen.

Der gesellschaftliche Konsens kann sich auch mit der Zeit verändern und somit auch der Bedarf an Art und Umfang regulatorischer Eingriffe. Es ist aber eine hanebüchene Fehlinterpretation von Ökonomik, solche Dinge wie Verbraucherschutz, Arbeits-, Tier- oder Umweltschutz als „wirtschaftsfremde Themen“ abzukanzeln, welche die Debatte um eine Liberalisierung des Handels „nicht zu früh überlagern“ solle, wie es eine Stellungnahme der IHK Bayern zum Freihandelsabkommen mit den USA formuliert. Wie bitte? Das ist Wirtschaft. Solche Regularien zeigen an, wie die Menschen in einer Gesellschaft leben wollen, welche Ansprüche ihre souveränen Individuen nicht nur an die Güter, sondern auch an ihre Produktionsweise haben. Dies drückt ihre Präferenzen aus!

Insofern spiegelt die vielfach geäußerte Kritik an den (voraussichtlichen, teilweise vielleicht aber auch vermeintlichen) Konsequenzen des Handelsabkommens keinen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlichen und „sonstigen“ Zielen wider. Es ist ein Konflikt ökonomischer Interessen. Wenn ein amerikanischer Vertreter (Stuart Eizenstat, Transatlantic Business Council) etwa meint, die Europäer würden es mit dem Verbraucherschutz bei Lebensmitteln übertreiben, denn „was gut für eine amerikanische Familie ist, ist auch gut für eine europäische“, dann spricht hier kein Fachmann für Marktwirtschaft, sondern jemand, der das Konzept der Konsumentensouveränität und der Handlungsrationalität, mithin also die Grundlagen der Funktionsfähigkeit wettbewerblicher Märkte nicht richtig verstanden hat. Es ist jemand, der paternalistisch in die Präferenzen souveräner Individuen einzugreifen gedenkt, dies jedoch im Namen von Freiheit und Wettbewerb. Vermutlich hängt auch er dem laienhaften Aberglauben vieler Lobbyisten an, dass das, weas Umsatz und Gewinn sprudeln lässt, auch volkswirtschaftlich effizient sei. Nun ja, ökonomische Interessen zu vertreten setzt ja nicht zwingend ökonomischen Sachverstand voraus.

Europäische Regierungen werden nicht müde zu beteuern, dass es bei europäischen Standards keine Abstriche geben wird und keine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner angestrebt sei. Das mag glauben wer will. Die Neigung zu Naivität ist bei Politikern nicht anders verteilt als auch sonst in der Bevölkerung. Da der Hauptgegenstand der Verhandlungen aber der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse ist – und damit ist nicht nur der Abbau von etwas Bürokratie bei Export- und Importgenehmigungen gemeint – ist es aber doch wohl mehr als naheliegend, dass es sehr wohl um eine Angleichung von Standards geht. Schlüsselbegriffe wie „Harminisierung“ und „Konvergenz“ in den offiziellen Dokumenten unterstreichen das. Jedoch: unsere Spielregeln drücken unsere Präferenzen aus, eure Spielregeln drücken eure Präferenzen aus. Ist jemand ökonomisch beim jeweiligen Partner aktiv, hält er sich an dessen Spielregeln. Klar ist dies ein wenig lästig für den, der mit möglichst wenig Transaktionskosten viel Geld verdienen will. Aber jeder hat für seine Regeln Gründe. Und diese Gründe sind nicht „wirtschaftsfremd“, sie sind begründet in den Funktionsdefiziten von Märkten aufgrund von Informationsasymmetrien. Letztlich helfen sie dem Markt das zu tun, was er tun soll: eine Allokation herbeizuführen, wie sie den Präferenzen ihrer Bürger entspricht.

Die TTIP-Verhandlungen bieten noch mehr Anlässe für Kopfschütteln ob des laienhaften Verständnisses von Marktwirtschaft – Stoff für weitere Blogs.