Klimaschutz: “Es sind doch nur 2%…”

Immer und immer wieder liest man von VertreterInnen unterschiedlicher Parteien, JournalistInnen, und natürlich unzähligen Twitter-NutzerInnen, dass Deutschland ja lediglich für 2% der globalen CO2-Emissionen verantwortlich sei, es also völlig naiv sei zu glauben, “wir” könnten das Klima “retten”. Andere Länder, allen voran China, würden derzeit und vor allem zukünftig eine bedeutend größere Rolle bei den Emissionen spielen und seien deshalb in viel größerer Verantwortung als Deutschland. Manchmal wird dann hinzugefügt – bei anderen schwingt das Argument aber zwischen den Zeilen mit – dass es deshalb völlig unverhältnismäßig sei, dass man hier in Deutschland radikale Klimaschutz-Maßnahmen beschließt, die hier zu hohen Kosten und drohender De-Industrialisierung führen, wenn das doch am Ende global keinen nennenswerten Effekt hat. Kürzlich hat auch Dieter Nuhr diese Argumentationsfigur kolportiert, das Publikum klatschte.

Dazu ein paar Anmerkungen:

  • Rhetorisch gesehen ist diese Argumentation eine klassische straw man fallacy. Absolut niemand, der sich ernsthaft oder sogar wissenschaftlich mit Klimaschutzpolitik beschäftigt und darüber publiziert, behauptet, dass Deutschland im Alleingang das Weltklima retten könne. Auch die Forderung von Fridays for Future, dass “wir” radikale Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen müssen, muss man vor dem Hintergrund sehen, dass es sich um eine global vernetzte Aktion von SchülerInnen handelt, man also dieses “wir” als etwas Globales sehen muss, und sich die Forderungen gleichermaßen an alle Regierungen richtet. KlimaschützerInnen wird hier eine Naivität unterstellt, für die es empirisch kaum Belege gibt. KlimaforscherInnen und auch die große Mehrheit der ÖkonomInnen kritisieren das “Klimapaket” der Bundesregierung, insbesondere den minimalen CO2-Preis als unzureichend. Sind all diese Leute naiv oder uninformiert über den geringen globalen CO2-Anteil von Deutschland? Rhetorische Frage natürlich.

  • Es gibt auch Personen, die bezweifeln, dass es nur 2% sind, weil doch über die globalen Produktionsketten der Konsum in Deutschland ja auch CO2-Emissionen anderswo induziert. Das ist zwar im Kern ein valides Argument, aber empirisch kaum ins Gewicht fallend: Der Carbon Footprint des Konsums ist zwar etwas höher als der der Produktion, aber in überschaubarer Größenordnung. Wenn wir also großzügig den Effekt einpreisen und auf 2.1% kommen, liegen wir noch im Bereich des statistischen Fehlers.

Wozu soll es also gut sein, wenn Deutschland trotz der “nur 2%” mit einer drastischen ambitionierten Klimaschutzpolitik vorangeht? Vorangestellt sei zunächst ein simples politisches Argument: damit “wir” den bereits eingegangenen Verpflichtungen z.B. aus dem Paris-Abkommen nachkommen, d.h. die selbst gesteckten Ziele, auf die sich Deutschland verpflichtet hat, zu erreichen. Das ist allerdings kein sachbezogenes Argument, welches die eingangs dargestellte Argumentationsfigur entkräftet. Es ist völlig richtig, dass die Einhaltung des 1.5-Grad-Ziels nur gelingen kann, wenn wenigstens die G20-Länder gemeinsam eine konsequente Klimaschutzpolitik betreiben. Warum also beherzt hier damit beginnen?

  • Häufig wird auf die Vorbildfunktion verwiesen. Nun könnten auch andere Länder mit viel größerem CO2-Anteil diese Funktion erfüllen. Es geht hier nicht nur – und m.E. auch nur am Rande – um eine moralische Vorbildfunktion, sondern vielmehr darum zu zeigen, dass ökonomisch und technisch hoch entwickelte Volkswirtschaften in der Lage sind, Produktion und Konsum zu dekarbonisieren, und Wohlstand auch ohne ständigen Input fossiler Rohstoffe zu erzeugen. Es ist ein proof of concept, welches zeigt: Wenn das auf unserem hohen Wohlstands-Level funktioniert, dann funktioniert es in derzeit weniger entwickelten Volkswirtschaften auch. Das technologische Wissen ist vorhanden und replizierbar. Wer sollte dieses entwickeln können, wenn nicht die reicheren Länder? Man kann ärmeren Ländern wohl kaum verwehren, das Wohlstandsniveau der OECD-Länder erreichen zu wollen. Also muss man zeigen können, dass dies mit weniger und schließlich gar keinen fossilen Rohstoffen möglich ist.
  • Die meisten VertreterInnen der eingangs dargelegten Argumentationsfigur sind ja keine Klimawandelleugner und sehen durchaus die Notwendigkeit, dass etwas getan werden muss. Dann jedoch erkennt man an, dass es früher oder später zwangsläufig zu starken technologischen Veränderungen, Strukturwandel und ökonomischen Anpassungen kommen wird. Je früher man versucht, in relevanten Feldern eine technologische Spitzenposition einzunehmen und Strukturwandlungsprozesse einzuleiten, Relativpreissysteme anzupassen usw. desto besser. Agiert man hier zu langsam, werden die Anpassungskosten in der Zukunft umso größer sein, man verliert technologische Führungspositionen, wie das in Deutschland bereits im Bereich der Photovoltaik zum großen Teil geschehen ist: fast unbemerkt sind zigtausende Arbeitsplätze in dieser Branche verloren gegangen und nach China verlagert worden, weil sich dort das FuE- und Investitions-Engagement im Bereich Photovoltaik immens gesteigert hat, während man in Deutschland eher auf die Bremse trat. Hier hat also bereits eine De-Industrialisierung stattgefunden, aber nicht wegen einer übertrieben radikalen Klimaschutzpolitik, sondern wegen einer zu unambitionierten. Die VertreterInnen der Eingangsthese haben beim Stichwort der De-Industrialisierung vermutlich immer die alten Industrien wie Kohle oder Automobil im Blick. Das ist sehr strukturkonservativ (und daher nicht wirklich marktwirtschaftlich) gedacht und verkennt zudem die Chancen eines Strukturwandels, der ohnehin kommen muss.
  • VertreterInnen der Eingangsthese geben sich gerne marktwirtschaftlich und kritisieren (oder verspotten) die oft anti-kapitalistische Haltung vieler Fridays for Future AktivistInnen. Zugegeben, letztere halte auch ich für kontraproduktiv, weil es die richtige Forderung nach einer wirksamen Klimapolitik unnötigerweise mit einem ideologischen Überbau versieht, der leicht angreifbar ist. Was mich viel mehr erstaunt ist, dass kaum jemand darauf hinweist, wie wenig marktwirtschaftlich die Denkweise hinter der Eingangsthese eigentlich ist. Es wird betont, welche Unsummen all dieser Klimaschutz kostet – Kosten, die andere Länder nicht in dem Maße auf sich zu nehmen bereit sind, so dass Deutschland einen Nachteil erleide und Jobs gefährde.
    Zunächst ist festzuhalten, dass der Kostenbegriff falsch ist. Der in der Vergangenheit und auch heute unterlassene Klimaschutz verursacht bereits jetzt und vor allem in der Zukunft extrem hohe (sog. “externe”) Kosten. Diese spiegeln sich aber nicht in den Preisen wider, die wir für alles bezahlen, was mit fossilen Rohstoffen zusammenhängt. Anders gesagt: Autofahren ist bereits jetzt wahnsinnig teuer, aber die Autofahrer merken das gar nicht an der Tankstelle. Das Preissystem ist unvollständig, somit verzerrt, d.h. nicht die Knappheiten widerspiegelnd, und führt folglich nicht zu einer effizienten Verwendung sowohl der natürlichen Ressourcen als auch von Kapital und Arbeit. Das ist simples VWL-Basiswissen. Das nächste Missverständnis ist, dass nur auf die Dinge geschaut wird, die durch eine drastische CO2-Bepreisung teurer werden, die Kaufkraft des eigenen Einkommens also sinken lässt. Folgt man der dringenden Empfehlung vieler Ökonomen und gibt die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung umgehend an die Bevölkerung zurück (z.B. per Kopfpauschale), so ändert sich das verfügbare Einkommen eben nicht (zudem erhält man positive Umverteilungseffekte als Nebenwirkung, es ist also “sozial”). Lediglich die Relativpreise ändern sich, und das ist auch der Sinn der Sache. Teil der Einnahmen aus der CO2-Bepreisung können investiert werden, es sollen somit neue Jobs in neuen zukunftsfesten Industrien entstehen. Diese Maßnahmen fördern und flankieren einen Strukturwandel, der im Zuge einer Dekarbonisierung zwangsläufig stattfinden muss. Hier von einer “De-Industrialisierung” zu sprechen, also den Fokus nur auf bestimmte bestehende Industriezweige zu richten, ist strukturkonservativ und unterschätzt die Fähigkeit marktwirtschaftlicher Systeme, auf die Änderung von Relativpreisen zu reagieren, also die Produktionsfaktoren in zukunftsfähigere Sektoren zu lenken. Der Staat kann dabei behilflich sein, ohne allerdings zu sehr technologische oder strukturelle Vorgaben zu machen. Dieser Strukturwandlungsprozess, der in neuen Branchen große Wachstumschancen (ja, “Wachstum”) eröffnet, sollten marktwirtschaftlich gesinnte Menschen als große Chance denn als Bedrohung auffassen.
  • Derzeit werden rein quantitativ die größten Investitionsanstrengungen im Bereich Erneuerbare Energien in China unternommen. Dort sind tausende Arbeitsplätze entstanden, von denen sehr viele zuvor in Deutschland verloren gegangen sind. Und die richtige klimapolitische Strategie soll etwa sein, weiterhin nur Trippelschritte zu machen und einem autoritären Regime die Gelegenheit zu geben der Welt zu demonstrieren, wie man eine gigantische Volkswirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit trimmt? Da so oft vom “Systemwettbewerb” im Zusammenhang mit China die Rede ist, so wäre es doch naheliegend zu zeigen, dass gerade flexible Märkte mit innovativen UnternehmerInnen innerhalb von Spielregeln und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, auf die man sich in liberalen Demokratien geeinigt hat, dies mindestens genauso gut können. Egal, ob Deutschland “nur” 2% zur globalen Emission beiträgt oder nicht.
  • Schließlich verweist das Argument von den “nur 2%, die global nicht ins Gewicht fallen” auf ein recht nationalstaatliches Denken: Die Nationalstaaten stehen sich in einem Gefangenen-Dilemma gegenüber, bei dem die Nash-Lösung leider ineffizient ist, und keiner einen Anreiz hat, den ersten Schritt zu einer kooperativen Lösung zu gehen. Die Lehre, die man daraus ziehen sollte, ist allerdings die dringende Notwendigkeit multilateraler Bemühungen. Dabei geht es nicht nur um eine gemeinschaftliche Bindung an Ziele wie beim Paris-Abkommen, das allerdings keinerlei effektive Sanktionsmechanismen vorsieht. Statt sich passiv in den Sessel zurückfallen zu lassen, weil es aus diesem Dilemma kein Entrinnen gibt, sollte das eher der Ansporn zur Suche nach effektiven Lösungen (game changing rules) sein. Und hier spielt gerade die enorme globale Verflechtung von Produktionsketten und Handelsabkommen eine wichtige Rolle. Man kann entweder beklagen, dass die Globalisierung und Einbettung in zahlreiche Handelsverträge ein nationalstaatliches Handeln praktisch unmöglich macht (“golden straightjacket”). Man kann aber auch darüber nachdenken, eben gerade diese Verflechtung zu nutzen um Handelsverträge als Vehikel für eine gemeinsame verbindliche Klimapolitik zu nutzen, also nicht bloß ein formales Bekenntnis zum Paris-Abkommen in die Präambel zu schreiben. Die Entwicklung integrierter Emissionsrechtehandelssysteme etwa, oder Modalitäten für Carbon Border Adjustments bei einer CO2-Bepreisung, oder das Verbot von Investorenklagemöglichkeiten gegen verschärfte Klimaschutzmaßnahmen, das Abhängigmachen von Handelserleichterungen von der Einhaltung bestimmter ökologischer Produktionsstandards usw. – all das kann zu einem Vehikel werden, wie ambitionierte Klimaschutzpolitik via Handelsverträgen Druck ausübt, dass andere Länder nachziehen.

    Dies ist allerdings ein großer Schwachpunkt in der Debatte, denn die zwingend nötige Verknüpfung von Klimapolitik und Handelspolitik (denn die Zeit drängt) wird kaum diskutiert. Leider auch nur selten von denjenigen, die das Eingangsstatement von den “nur 2%” brüsk zurückweisen. Konkrete Wege, wie daraus weit mehr als nur 2% werden könnten, und zwar ganz simpel über ökonomische Anreize, haben auch viele VertreterInnen einer radikaleren Klimaschutzpolitik in Deutschland leider nicht aufgezeigt. Eine entsprechende Nachverhandlung und Neukonzeption des EU-Mercosur-Abkommens wäre da zum Beispiel ein zukunftsweisender Schritt. Vielleicht könnten diejenigen PolitikerInnen, die derzeit ihre Tagesfreizeit dazu nutzen, um sich über Greta Thunbergs Mimik oder den persönlichen Lebensstil jugendlicher KlimaaktivitInnen auszulassen, ihre kostbare Lebenszeit produktiveren Verwendungsmöglichkeiten zukommen lassen.