Hayek und der freie Markt

F.A. von Hayek gilt als der im besonders hohem Maß dem Liberalismus verpflichteten Vertreter der sog. Österreichischen Schule, manche würden ihn wohl als ultraliberal bezeichnen. In seinem umfangreichen Werk begründet er die entscheidende Rolle des Marktes in einer liberalen Gesellschaft vor allem mit dem Wissensproblem: niemand könne aus prinzipiellen Gründen besser über die eigenen Bedürfnisse und die lokalen Knappheitsbedingungen sowie Möglichkeiten der kreativen Veränderung besser Bescheid wissen als die Millionen Individuen selbst. Stattet man sie mit entsprechenden Freiheitsrechten aus und setzt diese auch durch, so sorgen Millionen dezentraler Interaktionen freier Individuen für eine spontane selbstorganisierte Ordnung, welche am ehesten die beste Allokation knapper Ressourcen, oder allgemeiner: die Lebensumstände hervorbringt, unter denen die Individuen zu leben wünschen. Dabei wird diese Selbstorganisation als fortwährender Prozess gesehen, der nicht in einem finalen Gleichgewichtszustand endet wie z.B. in der Neoklassik (häufiges Missverständnis: „neoliberal“ = „neoklassisch“ = „Mainstream VWL“). Ob der Markt wirklich das „beste“ Ergebnis hervorbringt, lässt logischerweise nicht sagen, denn dafür bräuchte man einen Vergleichsmaßstab und somit das Wissen, das man als einzelner Beobachter oder Institution eben nicht hat. Man kann es aber glauben. Ups…. Der Staat hat vornehmlich die Aufgabe, die Regeln zu definieren und für deren Einhaltung zu sorgen, die die freie Entfaltung des Individuums gewährleisten. Neben z.B. Vertrags- und Eigentumsrechten zielen die Regeln auch darauf ab, die Entstehung von Macht zu verhindern, denn dauerhafte Marktmacht schränkt letztlich die Freiheit der anderen Marktteilnehmer ein. Letztlich führt jeglicher Staatseingriff darüber hinaus, also z.B. Umverteilung von Einkommen oder sonstige regulatorische Eingriffe, auf eine schiefe Ebene, die – so Hayek – geradewegs in den Sozialismus führt. Mit den systematischen Funktionsdefiziten planwirtschaftlicher sozialistischer Systeme hat sich Hayek ausgiebig beschäftigt, und der Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR, den er noch miterlebt hat, dürften wohl eine Genugtuung für ihn gewesen sein. Auch bezüglich möglicher Krisen setzt Hayek ganz auf die Selbstreinigungskräfte des Marktes. Staatsinterventionen führen in die Irre. Begründet wird dies dadurch, dass die durch freiheitliche Interaktionen auf Märkten entstandene soziale Ordnung komplex ist, und Interventionen in komplexe Systeme durch prinzipiell mit Informationen unterversorgten staatlichen Stellen gefährden die Ordnung. Radikal zu Ende gedacht impliziert diese staatliche Zurückhaltung auch den Rückzug des Staates aus Bereichen wie Bildung, Kultur, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Landesverteidigung oder sogar aus dem Geldwesen. Hayek schlug ein „Free Banking“ vor, da er dem staatlichen Notenbankmonopol misstraute, und der Markt viel besser in der Lage sei herauszufinden, welcher Art von privat emittierter Währung am ehesten zu trauen sei.

Ich lasse es mal bei dieser arg verkürzten Charakterisierung des Liberalismus á la Hayek bewenden. Auch wenn die meisten liberalen Ökonomen eher dem Ordoliberalismus zuneigen, der dem Staat – im Vergleich zu Hayek – zu sehr viel weitgehenderen Maßnahmen legitimiert sieht wie z.B. Umverteilungsmaßnahmen oder sozialen Sicherungssystemen, so leben Hayeks Ideen nach wie vor z.B. in Gestalt der Hayek-Gesellschaft und anderen Kreisen fort.

Hayek, 1992 im sehr hohen Alter von 93 Jahren verstorben und 1974 mit dem Wirtschafts-Nobelpreis (jaja, schon klar, es ist der Nobel-Gedächtnispreis) ausgezeichnet, mag vielleicht die Entwicklungen in der VWL seit den 1970er Jahren nicht mehr allzu intensiv rezipiert haben. Seine aktuellen Verehrer hingegen schon. Ich möchte hier auf drei Dinge hinweisen, die m.E. keine Marginalien sind, sondern den Kern des Hayekschen Vertrauens in den Markt logisch-konzeptionell infrage stellen.

1. Ein Kernargument Hayeks ist, dass das Wissen dezentral verstreut ist, und keine Institutionen sich „anmaßen“ könne (so seine Formulierung) besser Bescheid zu wissen als die Individuen selbst. Das ist richtig, und dem widerspreche ich auch nicht. Nur: die Tatsache, dass bei der Interaktion freier Individuen diese eben auch nicht alles wissen, die Informationen also asymmetrisch verteilt sind, d.h. private Informationsunterschiede vorliegen, führt unter recht allgemeinen Bedingungen zu ineffizienter marktlicher Interaktionen. D.h. der Markt führt eben nicht automatisch zu einer beiderseitig wünschenswerten Zustand. Diese in den 1970er und 1980er Jahren entwickelten Überlegungen zur Theorie asymmetrischer Informationen (etwa Akerlofs „Market for Lemons“) sind inzwischen nobelpreisgekrönt und absoluter Mainstream, auch in einführenden Lehrbüchern der VWL. Dieses Phänomen ist nicht randständig, es ist ubiquitär. Es findet sich in allen Lebens- bzw. Wirtschaftsbereichen. Die Umstände des Auftretens und die Konsequenzen sind analysierbar, und man muss nicht der allwissende Gott sein um halbwegs sinnvolle regulatorische Eingriffe gestalten zu können, um dem Markt auf die Sprünge zu helfen.

Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, führt dies zu einem Paradox: Je mehr sich die Menschen für die Konsequenzen ihrer Entscheidungen interessieren – und ein Liberaler dürfte wohl ein großes Interesse daran haben, dass man für frei getroffene Entscheidungen auch bereit ist, die Konsequenzen zu verantworten! – desto weniger informiert sind die Individuen, je mehr Interaktionen über Märkte stattfinden. Denn: Das Preissystem mag über Ressourcenknappheiten informieren, aber z.B. über die sozialen oder ökologischen Bedingungen der global verstreuten Produktionsketten informiert es nicht oder unzureichend. Man kann lediglich erahnen, dass das T-Shirt für 3 Euro wohl eher nicht bei einem deutschen Schneiderbetrieb, sondern unter unsäglichen Bedingungen in Kambodscha hergestellt wurde. Falls der Konsument aber Verantwortung für die sozialen und ökologischen Bedingungen der Herstellung des Produktes, welches er zu kaufen gedenkt, übernehmen möchte, so hat er – wegen asymmetrischer Informationsverteilung – nicht ohne weiteres die Möglichkeit, dies in seiner Zahlungsbereitschaft am Markt auszudrücken. Das Preissystem ist somit chronisch unvollständig und führt zu Fehlkallokationen. Die selbstorganisiert erzeugte Lebenswirklichkeit ist am Ende dann nicht so, wie man sie sich vorgestellt hat, gleichwohl hat man als freier Mensch kaum Einfluss darauf, wenn man sich auf den Markt verlässt. Das Paradox besteht darin, dass dieser Effekt gerade dann nicht eintritt, wenn einem die Handlungskonsequenzen völlig egal sind, Freiheit und Verantwortung also entkoppelt sind. Das kann kein Liberaler wirklich wollen, es widerspricht der Idee der Freiheit.

2. Im Anschluss an das vorige Argument hat die Verhaltensökonomik gezeigt, dass Menschen durchaus soziale Präferenzen haben: sie schauen nicht nur auf die Handlungskonsequenzen für sich selbst, sondern auch für andere. Nicht allein die Konsummenge oder der Gewinn sind entscheidend, sondern wie sich das im Vergleich zu den Nachbarn darstellt. Mitgefühl, Neid, Fairness: all diese Dinge spielen eine Rolle, wenn es um die subjektive Bewertung von Handlungsfolgen (Ökonomen sagen: Nutzen oder Präferenz) geht. Das ist experimentell bzw. empirisch erwiesen und dürfte wohl auch der Alltagsintuition entsprechen. Und nicht nur die Konsequenzen für sich selbst im Vergleich zu anderen spielt bei der Bewertung eine Rolle, sondern auch, unter welchen Umständen dieses Ergebnis zustande gekommen ist, z.B. ob man gute oder schlechte Intentionen der anderen Menschen vermutet. Auch die Frage, unter welchen Spielregeln sich diese Konsequenzen eingestellt haben (z.B. ob ich reziproke Antwortmöglichkeit hatte in Bezug auf das Verhalten der anderen) beeinflusst die Bewertung des Ergebnisses. Kurz gesagt: Menschen haben soziale Präferenzen, die sich u.a. in Fairness-Präferenzen, beispielsweise in Aversion gegenüber Ungleichheit ausdrücken. Das ist jedoch ein eklatanter Widerspruch zu der Behauptung Hayeks, dass es allein auf die freiheitssichernden Spielregeln ankomme, und jegliche „Umverteilung“ der Marktergebnisse quasi „vom Teufel“ seien, m.a.W. der „Weg in den Sozialismus“. Denn nur die Regeln selbst könnten „gerecht“ sein, aber auf die Beurteilung des Ergebnisses der selbstorganisierten Ordnung könne man Gerechtigkeitskriterien nicht anwenden. So lehnt er schon den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ (im Hinblick auf Verteilung) kategorisch ab. Wenn Menschen aber soziale Präferenzen haben, und dafür spricht alles, was wir von der Verhaltensökonomik wissen, dann lassen sich allokative Effizienz und Fragen gerechter Verteilung schon rein konzeptionell nicht trennen: das Pareto-Kriterium für Effizienz, ein ultra-individualistisches und somit auch ultra-liberales Kriterium, welches die subjektive Bewertung eines Zustandes eines jeden einzelnen Individuums zum Maßstab macht, schließt die Bewertung von Ungleichverteilung oder auch sonstigen Fairnessbedingungen logisch zwingend mit ein. Fragen von Effizienz und Gerechtigkeit sind konzeptionell nicht trennbar.

3. Oben wurde das Phänomen der „Verantwortungsdiffusion“ durch Vorliegen von Informationsasymmetrie begründet. Es gibt aber noch ein zweites, anders gelagertes Argument aus der jüngeren verhaltensökonomischen Forschung, welches zu einem ähnlichen Ergebnis führt. Wie im vorigen Punkt ausgeführt, haben die meisten Menschen soziale Präferenzen, so dass das Ziel einer freiheitlichen Ordnung, sagen wir: die Herstellung von Lebensumständen wie sie von den Individuen gewünscht werden, keine logische Trennung von Allokations- und Gerechtigkeitszielen erlaubt. Soziale Präferenzen können auch ethische Überzeugungen und Normen mit einschließen, Das ist ein wichtiger Punkt, auf den schon Adam Smith hingewiesen hat („Theory of Moral Sentiments“). Nun zeigt sich aber, dass die Bereitschaft, sich an seine eigenen moralischen Überzeugungen zu halten, gerade dann stark erodieren, wenn es zu marktlichen Transaktionen kommt. Haben Menschen für (gemäß ihrer eigenen individuellen Überzeugung) moralisch richtige Wahlentscheidungen eine klare Präferenz und somit Zahlungsbereitschaft, so schwindet diese zusehends, wenn sie unter wettbewerblichen bzw. marktlichen Bedingungen miteinander interagieren. Der Markt als sozialer Mechanismus ist somit nicht neutral. Die dadurch wahrgenommene und letztlich auch faktische Verantwortungsdiffusion verleitet dazu, sich eben nicht entsprechend seiner eigenen Präferenzen zu verhalten – selbst dann, wenn keinerlei Informationsasymmetrie vorliegt.

Allein nur diese drei Überlegungen aus der Informationsökonomik und der Verhaltensökonomik, die mittlerweile Mainstream-Wissen sind, lassen den Glauben an die prinzipielle Überlegenheit rein marktlich, vom Staat möglichst unbeeinflusster Interaktion als geradezu groteske Fehlinterpretation des Marktes erscheinen. Es mag ja richtig sein, dass es keinen besseren Prozess gibt, schon gar nicht die Planwirtschaft, aber immerhin weiß man genug um Bedingungen und Muster von Funktionsproblemen zu erkennen, die durch regulatorische Eingriffe zumindest gelindert werden können. Wer sich mit jeglicher formal-theoretischer Modellierung sowie empirischer Überprüfung der eigenen Thesen, etwa der philosophischen Begründung der Überlegenheit des selbstorganisierenden Marktes, so schwer tut wie die Österreichische Schule, der lebt gefährlich nahe an der Immunisierung der eigenen Überzeugungen gegenüber jeder empirischen Kritik, und muss folglich damit leben unter Ideologieverdacht zu stehen.